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Ein baltischer Pastor

Mit einem kleinen Koffer in der Hand, in hausgewebte Stoffe gekleidet, stand er vor uns, der nun unser Hausgenosse für mehrere Jahre sein sollte. Er war armer Leute Kind, hatte früh seine Eltern verloren, und da er ganz allein in der Welt war, hatte der Pastor, zu dessen Gemeinde er gehörte, ihn zu sich ins Haus genommen. Zuerst lebte er als Pferdejunge im Stall, kam dann in die Küche, und schließlich, da er ein liebes, kleines Kerlchen war, in die Familie, wo er mit den Söhnen des Pastors erzogen wurde. Er war der geborene Pflegesohn, bescheiden, immer fröhlich, fleißig und verträglich. Alles liebte ihn, wie konnte man anders! Wer ihn mit seinen blonden Löckchen und den klaren, blauen Augen nur sah, dem ging das Herz auf. Es war etwas in diesem kleinen Seelchen, das unerbittlich und sicher ihn einem Ziel entgegentrug, welches er selbst noch nicht vor sich sah, das aber seine Seele ahnte. Und eines Tages sprach er es aus, noch ganz kindlich:

»Ich will Pastor werden.«

Es fanden sich Menschen, die für ihn sorgten, so ging er still und fleißig seinen Weg; er besuchte die Schule der kleinen Nachbarstadt, in seiner Klasse immer der Erste, der Liebling der Lehrer.

Nun war er so weit, daß er als Sekundaner ins klassische Gymnasium in Riga eintreten konnte. Seine Pflegeeltern, Jugendfreunde meiner Mutter, wandten sich an diese mit der Bitte, ihn in unser Haus zu nehmen. Meine Mutter kannte keine Bedenken, wenn es galt zu helfen, und so machte sie es denn auch möglich, in unserer winzigen Wohnung diesen neuen Pflegesohn unterzubringen. Es wurde eine Abteilung mit Schirmen im Speisezimmer eingerichtet, wo er mit meinem Bruder zusammen hausen sollte. Er hieß Richard.

So trat er in unser Haus als unser älterer Bruder mit allen Rechten eines solchen. Meine Schwester und ich, zwei übermütige Backfischchen, bekamen es bald heraus, daß Richard von einer unzerstörbaren Gutmütigkeit und Weichherzigkeit war. Er war immer freundlich, half uns bei unseren Schularbeiten, ließ sich necken und plagen und verklagte uns nie bei Mutter.

Wenn Mutter abends ausging, bekam er die Aufsicht über uns: er mußte darauf achten, daß wir nicht zu dick die Butter aufs Brot strichen, daß wir nicht zuviel Zucker nahmen, daß wir zeitig zu Bett gingen und nicht zu lange vor dem Schlafengehen schwatzten. Ich habe ihm sein Wächteramt nicht immer leicht gemacht, das muß ich zu meiner Schande gestehen; und als er mir einmal ein Butterbrot aus der Hand nahm und die zu dick aufgestrichene Butter abkratzte, war ich so zornig, daß ich das Fenster öffnete und das Butterbrot auf die Straße warf. Er war nie böse, auch in diesem Falle nicht, er wurde nur traurig, und uneingestandenermaßen fürchtete ich diese Traurigkeit mehr als alle Schelte.

Sein Leben war nicht leicht, denn er mußte viele Stunden geben, um das Nötigste für seinen Unterhalt aufzubringen. Für die Schule lernte er immer in der Nacht, aber nie klagte er über Müdigkeit, nie war er schlechter Laune. Er hatte eine Friedensseele voll Sanftmut und Freundlichkeit.

So lebte er mehrere Jahre bei uns, dann stand er vor dem Abiturium. Unser ganzes Haus nahm leidenschaftlich teil an seinem Examen, und es war eine derartige Aufregung, als er es glücklich bestanden hatte, daß es wie ein Sturm durch unsere kleine Familie ging, denn nun sollte er auf die Universität nach Dorpat, die Tore zum Paradiese schienen ihm geöffnet. Zuerst aber war noch der feierliche Schlußaktus im Gymnasium, zu dem er eine Rede halten mußte im Frack und weißen Handschuhen. Der Frack wurde geliehen, und zum Einkauf der Handschuhe, die im Ausverkauf erstanden wurden und die ihm viel zu kurz und eng waren, gingen wir alle mit, wir waren unbeschreiblich stolz auf unseren großen Pflegebruder.

Meine Mutter hatte ihm für vier Jahre das Studiengeld verschafft, und so zog er denn im Herbst glückberauscht nach Dorpat. In den Ferien aber sahen wir ihn immer wieder, denn er hatte meist eine Stelle als Sommerlehrer am Rigaschen Strande. Er ließ mich und meine Schwester an seinem Studiengang teilnehmen, wir kannten alle seine Freunde dem Namen nach, schwärmten mit ihm für seine Professoren, unter denen hervorragende Persönlichkeiten, wie Alexander von Oettingen und Moritz von Engelhardt einen großen Einfluß auf die damalige studierende Jugend ausübten. Er teilte ihre Briefe mit uns und las uns aus seinen Kollegienheften vor, und der Zusammenhang zwischen uns blieb durch die ganze Studienzeit bestehen.

Kurz vor seinem Schlußexamen fiel in unser friedliches, geschwisterliches Zusammenleben etwas, was mich wie ein Donnerschlag traf: er warb um mich. Ich war viel zu jung und kindisch, um den feinen Reichtum dieser Seele zu begreifen. Ich war verwöhnt und übermütig und hatte noch wenig an Liebe und Ehe gedacht; wenn ich es tat, dann schwebte vor meinen Augen irgendein märchenhaftes Bild in den Wolken: etwas Unerhörtes, Glanzvolles, völlig Unklares. Zum großen Schmerz meiner Mutter sagte ich entschieden nein, ohne mich auch nur einen Augenblick zu besinnen. Wir sind später die besten Freunde geworden, und ich habe diese feine Mannesseele voll verstehen und ehren gelernt, doch habe ich mit sicherem Instinkt damals gehandelt, als ich ihn abwies, wir hätten nicht zueinander gepaßt. Er verlobte sich später mit einer Freundin von uns, und ein großes, schönes Pastorat in Kurland wurde ihm angetragen, wo er einen reichen Wirkungskreis fand.

Die Hochzeit war in Dorpat im Hause seiner Schwiegereltern. Es war Sommer, Dorpat hatte nicht sein übliches Gesicht, denn es war fast leer von Studenten. Es war zur Zeit der Rosenblüte, in allen Gärten blühten Rosen in solchen Massen, wie ich sie später nur im Süden gesehen habe.

Die Trauung war in der kleinen Universitätskirche, ein langer Zug von jungen Brautschwestern und Marschällen folgte dem Brautpaar. Alles war voller Freude, nur ich nicht, ich hatte einen Marschall, der mir unendlich mißfiel, was ich ihm unverhohlen zu verstehen gab. Trotz seines herrlichen Brautschwesternbuketts, trotz der köstlichen weißen Manschette, die das Bukett umgab, hielt ich mit meinem Mißfallen keinen Augenblick zurück.

»Er ist fade,« sagte ich; damit war er für mich abgetan.

Trotz einer Ermahnung meiner Mutter richtete ich es immer wieder so ein, daß kein Platz für ihn da war, wo ich saß. Unter ihren strengen Augen nahm ich mich dann wohl zusammen, freute mich am strahlenden Glück des jungen Paares, freute mich in der verborgenen Tiefe meines Herzens unendlich, daß ich nicht an Stelle der Braut am Altar stehen mußte, sondern unbeschwert und frei in die Zukunft schauen konnte, die mir gewiß noch viel Herrliches aufbewahrte. Dann reisten wir ab. Mein Marschall, der sich unter den begleitenden Studenten befand, hatte mir einen herrlichen Rosenstrauß zum Abschied überreicht, was ich recht ungnädig aufnahm; und als der Zug sich in Bewegung setzte, erhob ich mich blitzschnell von meinem Platz, und ehe meine Mutter meine Absicht erriet, schleuderte ich den Rosenstrauß durchs Fenster ihm direkt vor die Füße. Die Ermahnungen meiner Mutter mußten im Lachen unserer Reisegefährten untergehen; wie grausam kann man doch sein, wenn man jung und gedankenlos ist!

Im Sommer darauf sollten wir die ersten Feriengäste in Richards Pastorat sein, da starb seine junge Frau plötzlich bei der Geburt eines toten Kindchens. In diesem tiefen, unaussprechlichen Schmerz lernte man ihn kennen, wie nie zuvor. Ein Frieden, ein kindlicher Gehorsam gegen Gottes Führung erfüllten seine Seele so vollständig, daß sie vor all diesem Licht fast keinen Raum für den Schmerz hatte. Was er auch erlebte, was ihm auch begegnete, alles wurde ihm zur Lichtquelle, zu einer tieferen, heiligeren Verbindung mit Gott.

Wir verlebten einen Sommer in seinem Hause, der eine der friedvollsten, lieblichsten Erinnerungen meines Lebens ist. Er teilte jeden Gedanken mit uns beiden Schwestern, wir lebten mit ihm in seiner Gemeinde und in seinen Predigten. Er hatte eine sanfte und stille Art, unerbittlich die Wahrheit zu verkünden, er war nie weichlich, er war nur voller Liebe, die aber auch zu strafen verstand. Weil er so unnachsichtig gegen sich selbst und seine Fehler kämpfte und in allem mit seinem eigenen Leben voranging, gehorchte man ihm gern. Seine ganze Arbeit war erfüllt von dem einen Gedanken, Seelen für den Himmel zu werben.

Er war ein gütiger Hausherr, seine Dienstboten hätten sich für ihn in Stücke reißen lassen.

»Der Pastor ist so gut,« sagten sie, »er würde alles fortgeben, man muß auf ihn aufpassen.«

Die alte Tija, die Köchin, weigerte sich strikt, aus dem kleinen Hühnerbestand ein Huhn für eine Kranke herzugeben.

»Was bleibt dann für den Herrn Pastor noch,« sagte sie streng, »ich gebe meine Hühner nicht.«

Und Peter, der Kutscher, der sehr heftiger Natur war, rang mit seinem Herrn, er solle ein Pferd, mit dem er betrogen war, dem früheren Besitzer wieder zurückschicken. Als mein Pflegebruder sich weigerte, es zu tun, war Peter plötzlich mit dem fraglichen Pferde verschwunden und erschien glückstrahlend am anderen Tage mit einem guten, das er hinter dem Rücken des Pastors gegen das schlechte eingetauscht hatte.

Da Richard noch jung und unerfahren war, erlebte er manche merkwürdige Dinge im Amt, die ihm zuerst große Enttäuschung brachten.

Wir sitzen beim Mittagessen, er hat eben eine Sprechstunde gehabt und ist sehr glücklich über einen Erfolg, den er verzeichnen kann. Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnt er sich in seinen Stuhl zurück.

»Es ist doch herrlich,« sagt er, »wenn man fühlt, daß man Einfluß auf seine Gemeindeglieder bekommt, daß das Wort des Pastors etwas bei ihnen gilt. Es ist mir heute gelungen, eine unsinnige Heirat zu hintertreiben: ein junger Knecht meldete sich zur Brautlehre mit einer ganz alten Person. Sie hat sich einige hundert Rubel erspart und damit den armen Jungen eingefangen, der für dieses Geld sein Leben verkauft. Es war ein harter Kampf, denn die Alte wollte nicht nachgeben, ich habe sie beide nicht geschont und ihnen erbarmungslos die Wahrheit gesagt. Als ich ihr endlich klar machen konnte, daß er doch nur auf ihren Tod warten würde, um sich mit ihrem Gelde wieder zu verheiraten, da gab sie nach, das schlug durch.«

Das Essen ist beendet, wir sitzen noch am Tisch, da erscheint das Stubenmädchen in der Tür.

»Herr Pastor, zwei Leute wollen Sie noch sprechen.«

»Paß auf, es ist das Brautpaar,« rufe ich ahnungsvoll, »es ist ihr gelungen, ihn wieder kleinzukriegen!«

»Wo denkst du hin,« sagt Richard entrüstet, »sie waren vollständig überzeugt, als sie von mir gingen.«

Nach einiger Zeit erschien er völlig geknickt wieder und sank auf einen Stuhl.

»Du hattest recht,« stöhnt er, »sie waren kaum bis zur Kirche gefahren, da hatte sie ihn schon so weit mürbe gemacht, daß er zu ihren Werbungen wieder »ja« sagte. Und nun hilft nichts, das erste Aufgebot ist zu Sonntag bestellt, in drei Wochen muß ich sie trauen.«

»Schwachheit, dein Name ist Mann,« sagte ich, und dann lachten wir alle.

Ein besonderes Licht liegt für mich auf der Erinnerung an die Sonntage im Pastorat. Richard liebte diesen Tag, und ein stiller Festglanz lag schon auf seinem Gesicht, wenn er am Sonntag aus seinem Zimmer kam. Mit der gemeinsamen Morgenandacht, an der alle Hofleute mit ihren Kindern teilnahmen, begann er. Dann ging es an den festlichen Kaffeetisch, der mit Blumen geschmückt und mit den schönsten Tassen und dem besten Tischzeug gedeckt war. Bunte Teller mit frischgebackenem Brot, Schalen mit Honig und allerlei Gutes, was sonst am Werktage nie auf den bescheidenen Tisch kam, erhöhten das Gefühl der Festlichkeit. Dann fuhr alles in die Kirche; waren auch die Gottesdienste in lettischer Sprache, so konnten wir doch dem Gang der Predigt einigermaßen folgen, denn Richard hatte uns die ganze Woche an seiner Arbeit teilnehmen lassen. Es herrschten sehr hübsche, alte Sitten beim Gottesdienst, z. B. hatte jede Frau und jedes Mädchen, das die Kirche betrat, einen Blumenstrauß in der Hand. Das Pastorat und das Gut hatten ihre Logen, und die Gemeinde liebte es, wenn sich die »Pastoratschen« nicht unter sie mischten, sondern in der Loge saßen.

In der Lindenlaube im Garten wurde nachher die Predigt durchgesprochen, und Richard war immer froh, wenn wir ihn kritisierten, denn er arbeitete unermüdlich an sich.

Jeden Sonntag gab es ein Festessen von drei Speisen. Am Nachmittag besuchte Richard gern mit mir die Armen und Kranken. Ein wenig streng war er in der Sonntagsheiligung; es durfte nie eine Handarbeit vorgenommen werden; er liebte es auch nicht, wenn ich weltliche Lieder sang oder wenn man ein weltliches Buch las. Meine lebensstarke Mutter revoltierte: sie, die gewohnt war, überall die Führende zu sein, namentlich uns Kindern gegenüber, brach eines Sonntags los.

»Das sind ja englische Sonntage,« rief sie, »ich sehe nicht ein, daß es ein Unrecht ist, wenn ich am Sonntag mein liebes Strickzeug zwischen den Fingern habe.«

Aber auch diese Wogen zerschellten an der unzerstörbaren Sanftmut meines Pflegebruders und an seiner ehrerbietigen Freundlichkeit.

»Ich bitte dich, Mutter, tu's mir zuliebe,« sagte er, ich höre noch seine freundliche Stimme.

»Man kann gegen ihn nicht aufkommen,« sagte meine Mutter halb ärgerlich, halb gerührt, »er ist zu sanft, es hilft nun nichts, man muß ihm gehorchen.«

Mir ist's immer, wenn ich an diese Sonntage denke, als hätten die Blumen an diesen Tagen schöner geblüht, stärker geduftet und als hätte die Sonne heller gestrahlt als an anderen.

Richard war keine Natur, die das Alleinsein vertrug, es dauerte nicht lange, so heiratete er wieder; diese Ehe blieb kinderlos.

In sein neues Glück fielen bald dunkle Schatten: eine Zeit der Verfolgung der lutherischen Kirche und ihrer Pastoren, wie in den Vierziger Jahren, brach wieder an. Unter Vorspiegelung weltlicher Vorteile wurden lutherische Bauern zum Übertritt in die griechisch-orthodoxe Kirche überredet, aus der es kein Entrinnen gab. Die Unwissenden taten diesen Schritt, ohne zu ahnen, was ihrer wartete; erst wenn die versprochene Landzuteilung ausblieb und sie in den ungebildeten russischen Popen keinen Ersatz für ihren früheren Seelsorger und Berater fanden, gingen ihnen die Augen auf. Sie wandten sich auch in dieser Not, wie sie es gewohnt waren, an ihre alten Pastoren, die ihnen aber weder helfen konnten noch durften, denn strenge Strafe drohte jedem lutherischen Geistlichen für jegliche Amtshandlung an einem Orthodoxen. Um diesem Elend der armen Betörten zu steuern, richtete mein Pflegebruder Vorträge für seine Gemeindeglieder ein, die den Unterschied zwischen der lutherischen und der orthodoxen Kirche klarstellen sollten. Eine Folge hiervon war, daß die Übertritte in seiner Gemeinde aufhörten. Dies erregte den Haß der russischen Popen, und auch die Regierung erkannte bald in der Haltung der lutherischen Geistlichkeit das größte Hindernis für ihre Bestrebungen. Es entwickelte sich eine vollständig organisierte Hetze, die vielen Predigern Amtsentsetzung und Gefängnishaft brachte, so mancher von ihnen wurde sogar des Landes verwiesen oder nach Sibirien verbannt.

Das gute Verhältnis, welches zwischen der Gemeinde und meinem Pflegebruder bestand, war seinem Nachbarn, dem russischen Popen, schon längst ein Dorn im Auge gewesen, er wollte ihn vernichten. Eines Tages bekam Richard eine Vorladung vor das Gericht der nächsten Kreisstadt. Er war angeklagt worden, in einer Predigt den russischen Kaiser mit Nero verglichen zu haben, und das Gericht forderte ihn auf, sich zu rechtfertigen. Als er still und allein mit ruhigem Vertrauen auf sein gutes Gewissen sich auf den Weg in die Kreisstadt machte, fuhren an ihm die Wagen voll falscher Zeugen vorüber. Es waren Blödsinnige, Taube, Stumme darunter, unglückliche Säufer, die für fünf Rubel und einen Schnaps ihren Pastor verleumdeten. Als sie vor Gericht erschienen, waren die wenigsten vernehmungsfähig; die Anklage wurde niedergeschlagen.

Aber sein Feind ruhte nicht, der Prozeß gegen ihn wurde wieder aufgenommen, durch Jahre zog er sich hin. Die friedliche Sonnigkeit dieser Natur behauptete sich auch in diesen Zeiten der Verfolgung. Wie oft dankte er mit fröhlichem Herzen in der Morgenandacht Gott, daß er auch diese Nacht ungestört in seinem Hause hatte ruhen dürfen. Allmählich gewöhnte man sich an die Gefahr und glaubte nicht mehr recht an sie.

Da, eines Tages, traf ihn wie ein Blitz die Nachricht, er müsse sofort nach Petersburg und sich dort dem »Heiligen Synod«, dem höchsten russischen geistlichen Gerichtshof, stellen. Seine Sache stand ernst; er machte sich auf den Weg, seine Frau begleitete ihn.

Auf der Durchreise verweilten sie einen Tag bei uns in Riga; er war still und getrost wie immer, aber sein Haus daheim hatte er bestellt, er war auf alles gefaßt. Seine Anklage lautete auf Majestätsbeleidigung, ein Verbrechen, auf das Verbannung nach Sibirien stand. Es war Abend, wir saßen beisammen; am anderen Tage sollte er nach Petersburg weiterreisen, seine Frau begleitete ihn auch dorthin. Die Angst um ihn schwieg neben dieser Friedensseele, es legten sich alle Wogen, man fürchtete ihr Brausen nicht mehr.

Da wird geklingelt, in unseren Kreis tritt ein Amtsbruder aus Kurland. Er war eine ganz anders geartete Persönlichkeit als mein Pflegebruder, eine energische Kampfesnatur voll streitbarer Kraft und großer Klugheit, wie ein Sturmwind kam er in unseren stillen Kreis. Alle Türen mußten geschlossen werden, damit kein unberufenes Ohr ihn hörte, er hatte etwas Besonderes zu sagen.

»Ich habe sichere Nachrichten aus Petersburg,« sagte er, »du bist verloren, wenn du hingehst. Sie werden dich gar nicht bis vor den »Synod« bringen, du wirst vorher verschwinden, wie schon so mancher vor dir verschwunden ist. Es ist alles vorbereitet, dich unbemerkt über die Grenze zu bringen: ich habe viel Geld für dich und einen falschen Paß. In Deutschland findest du Freunde, die werden weitersorgen. Besinne dich nicht, greif zu, geh nicht in dein Verderben, deine Kraft ist für Gottes Arbeit nötig.«

Totenstille herrschte; es war, als stockte uns der Herzschlag nach diesen Worten. Was wird er tun? Was ist das Richtige?

Da stand mein Pflegebruder auf und reichte dem Freunde die Hand mit einer fast kindlichen Bewegung.

»Ich werde dir diese Stunde nie vergessen,« sagte er, »und was du für mich getan hast und tun willst, aber ich nehme dein Anerbieten nicht an, ich kann es nicht. Würde ich fliehen, so würde ich ja meinem ganzen Lehren und Leben ins Gesicht schlagen. Wie sollte ich jemals predigen über das Vertrauen zu Gott, wie sollte ich den Glauben an Gottes Verheißungen lehren, wenn ich fahnenflüchtig würde? Ich reise morgen nach Petersburg.«

»Gottes Wille geschehe,« sagte meine Mutter mit ihrer klaren, tiefen Stimme.

Dann wurde über die Sache nicht mehr gesprochen, und am anderen Morgen reisten die beiden ab. Wochen dauerten die Voruntersuchungen in Petersburg, der Patron seiner Kirche hatte zwei der besten russischen Advokaten für seinen Pastor angenommen. Mein Pflegebruder hatte sich erst dagegen wehren wollen, aber der Baron, ein Kurländer vom alten Schlage, sagte:

»Davon verstehen Sie nichts, Herr Pastor, das überlassen Sie uns Weltleuten.«

Dann kam der Tag, der über Tod und Leben entscheiden sollte. Scheinbar ruhigen Herzens hatte er von seiner Frau und seinen Freunden, bei denen er lebte, Abschied genommen. In seiner Amtstracht war er erschienen, und gar wunderlich muß es gewirkt haben, wie er zwischen seinen beiden Advokaten den Gerichtshof betrat, der einzige Germane unter allen Slaven, blondlockig, blauäugig mit dem klaren Kinderblick und dem friedvollen Leuchten in den ernsten Zügen.

Die Gerichtsverhandlungen gingen hin und her, seine Advokaten hielten ihre glänzenden Reden, es war wie eine feindselige Mauer, gegen die sie sprachen. Zum Schluß sollte er selbst seine Verteidigungsrede halten, er sprach deutsch, es sollte später übersetzt werden. Schlicht und klar sprach er, er hatte ja nichts zu verbergen, und schloß mit den Lutherworten:

»Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.«

Da geschah etwas Wunderbares, er hat es uns selbst mit Staunen erzählt. Als er geschlossen hatte, erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann und verbeugte sich stumm vor ihm, ruhig verließ er darauf den Saal. Der Richterspruch lautete einstimmig: »Nicht schuldig.«

Als er glückselig heimkam und sich anschickte, seine Arbeit wieder zu beginnen, kam trotzdem gänzlich unerwartet seine Verurteilung zu zwei Monaten Gefängnishaft. Kurze Zeit teilte er mit einem andern Pastor seine Zelle, später war er allein. Am Sonntag zum Gefängnisgottesdienst saß er neben dem Mörder eines Amtsbruders, der in Ketten seine Schuld abbüßte. Er klagte nie über alles Bittere, das er erleben mußte und erlebt hatte, doch verließ er die Gefängniszelle als ein sehr müder Mann.

Erschütternd war das Wiedersehen mit seiner Gemeinde; vierzehn Tage durfte er seine geliebte Arbeit tun, dann kam ein kaiserlicher Befehl, der ihn aus seinem Amt entfernte und ihn für Lebenszeit aus der Heimat verbannte. Das traf ihn mitten ins Herz.

Nur wenig Wochen durfte er noch bleiben, er ordnete seine Sachen, verkaufte all sein Hab und Gut und zog nach Deutschland, wo ihm bald in Oberfranken eine Pfarre angeboten wurde.

Dort habe ich ihn einmal besucht; er und seine Frau sagten wohl, sie hätten sich in die Heimatlosigkeit gefunden, aber es gab ja nichts, worin er sich nicht gefunden hätte, wenn er es als Gottes Weg erkannt hatte, und seiner Frau war da die Heimat, wo er war. Es war ein liebliches Stück Erde, das sie bewohnten, und es war ihnen eine Freude, mir alles zu zeigen. Aber manchmal konnte ich doch nicht ein tiefes Weh in meiner Seele loswerden, sie kamen mir beide so entwurzelt vor, so verbannt, so einsam. Als wir am letzten Abend auf der Bank vor dem Pfarrhaus saßen und in das weite Land hinausblickten, sagte mein Pflegebruder plötzlich mit einem tiefen Seufzer:

»Ach, wenn ich doch einmal auf meiner alten Kanzel stehen und meinen lieben Letten predigen könnte, die Herzen meiner Gemeindeglieder sind hart und steinig wie das Erdreich hier.«

Wenige Jahre nachher schrieb er uns, er wäre schwer erkrankt, es sei ein geheimnisvolles, schleichendes Leiden, das seine Kräfte verzehrte. Er habe einen Arzt der Nachbarstadt konsultiert, der keine Hoffnung auf Genesung geben könnte. Wo die Ursache der Krankheit zu suchen sei, wüßte er nicht, vielleicht in der Gefängnishaft. Er und seine Frau baten beide, ich möchte im Sommer kommen, er wolle mich noch einmal sehen.

Als meine Arbeit beendet war, machte ich mich sofort auf den Weg, in Berlin traf mich ein Telegramm: »Komm schnell, es geht zu Ende mit ihm.«

Mit dem nächsten Zuge fuhr ich weiter, beim Städtchen Kulmbach in Bayern mußte ich aussteigen, und dort sollte mich ein Wagen aus dem Pfarrdorf erwarten. Es war Mitternacht, als ich ankam, in dem bezeichneten Gasthaus wußte niemand etwas von dem Wagen. Ich sprach mit dem Wirt.

»Sie müssen sich gedulden, in der Nacht gibt es keine Fahrgelegenheit ins Pfarrdorf, Sie müssen bis zum Morgen warten.«

Ich war so übermüdet von der weiten Reise, daß ich in Tränen ausbrach.

»Ich muß gleich weiter,« sagte ich schluchzend, »denn ich will zu einem Sterbenden.«

In der großen Wirtsstube war eine Gesellschaft alter Herren noch beim Skat vereinigt, freundliche Kleinstädter, die den Kartentisch verließen, als sie mein Weinen hörten, und mich tröstend umringten.

»Es pressiert vielleicht mit dem Sterben gar nicht so sehr,« sagte der eine, und der andere nötigte mir einen Schluck aus seinem Punschglas auf.

Sie trieben einen jungen Soldaten hinaus in die Nacht, der sich nach einer Fahrgelegenheit für mich umtun sollte, ich mußte mich an den Kartentisch zu ihnen setzen. Der Soldat kam mit der Nachricht zurück, es sei kein Pferd und kein Wagen aufzutreiben. Alle nahmen teil an meinem Kummer und versuchten mich zu trösten; der Wirt brachte mir etwas Warmes zu essen, und ich ergab mich in mein Schicksal. Da stürzte der Knecht herein mit dem Ruf:

»Der Wagen aus dem Pfarrdorf ist da!«

Die alten Herren begleiteten mich hinaus, packten mich sorgfältig in Tücher, flüsterten mit dem Kutscher und wurden dann mit einemmal ganz still. Ehe sie den Wagenschlag schlossen, faßte einer von ihnen meine Hand.

»Sollte dem Herrn Pfarrer unterdessen was Menschliches passiert sein,« sagte er tröstend, »ich meine, sollte er gestorben sein, so grämen Sie sich nicht zu sehr, der Tod läßt keinen entwischen, auch Sie nicht.«

Sie umstanden den Wagen, und ich sah im Schein der Laterne, daß sie alle ihre Hüte abgenommen hatten. Ihre Feierlichkeit war so beängstigend, daß eine bange Ahnung in mir aufstieg, ich würde zu spät kommen. Ich mußte Gewißheit haben.

»Lebt der Pastor noch?« fragte ich den Kutscher.

»Ja,« war seine einsilbige Antwort.

Es war eine stille Fahrt voll trauriger Gedanken. Nach einigen Stunden färbte sich der Himmel rot, die Vögel erwachten, von den Wiesen kam heimatlicher Heuduft, in der Ferne tauchte ein Dörfchen auf. Strahlend stieg die Sonne hinter den Bergen empor, und eine Glocke fing an zu läuten, hell und tröstend schwangen die Töne sich durchs lichte Land und klangen von den Bergen wieder. Da wandte der Kutscher seinen Kopf und sah mich ernst an.

»Das ist unser Dorf,« sagte er, »und sie läuten für unseren Pfarrer, gestern abend starb er, die alten Herren verboten mir, es Ihnen gleich zu sagen. Aber weinen Sie nicht um ihn, er war ein Frommer!«

Unter Glockengeläut fuhr ich ins Dörfchen ein, wo mein Pflegebruder Jahre gewirkt und seine segensreiche Arbeit getan hatte. Die Dorfstraße war belebt, jeder Vorübergehende grüßte, und mancher mitleidige Blick traf mich.

Nun hielt der Wagen vor dem Pfarrhaus, niemand empfing mich. Der Kutscher stellte mein Gepäck in den Flur und verabschiedete sich. Das Haus war totenstill, mit banger Seele stieg ich die breite Treppe empor, die ins obere Stockwerk führte. Da kam sie mir entgegen, die seit einigen Stunden Witwe war; wie sie so auf der obersten Treppenstufe stand, um mich zu erwarten, verkörperte sie mir den Begriff einer Einsamen. Sie nahm mich an der Hand und führte mich ins Sterbezimmer, wo er schon aufgebahrt lag. Es war ein Greis mit schneeweißem Haar und Bart und einem unsagbar müden Gesicht, auf den ich schaute. Tage voll Frieden und unaussprechlicher Stille folgten. Ihr Bruder kam aus einem benachbarten Pfarrhaus, ihn hatte dasselbe Schicksal getroffen wie den Schwager; nach schwerer Gefängnishaft hatte auch er die Heimat verlassen müssen und hier seine Arbeit gefunden.

Wir drei gingen hinter dem Sarge, als er auf den Friedhof getragen wurde, so war es doch ein Stück Heimat, was ihn auf seinem letzten Erdengange umgab. Sonst war alles fremd: fremd die Sitten im fremden Land, fremd die Menschen, die seinem Sarge folgten, fremd die Schar der Amtsbrüder, meist knorrige Gestalten bäuerlicher Herkunft, die, geführt von ihrem Dekan, das Grab umstanden. Dieser überragte seine Amtsbrüder um Haupteslänge, es war ein stolzes, kaltes Gesicht mit einem herrischen Ausdruck. Er hielt die Rede am Sarge; was würde er über den Mann sagen können, dessen friedliche Kinderseele eben zur Ruhe gegangen war?

Aber bei den ersten Worten hob ich verwundert mein Haupt und horchte auf: welch ein feines Bild zeichnete er von dem eben Verstorbenen, mit zarter Hand und liebevollen Worten stellte er's hin. Er hatte ihn erkannt, der Stolze, Abgeschlossene, es war etwas Verwandtes zwischen den beiden äußerlich so Fremden. Voller Demut bekannte er, was der Amtsbruder ihm gepredigt hatte, nicht mit Worten, sondern mit stillem Leiden und Tragen, mit seiner Liebe zu den Menschen, mit seiner festen Verbundenheit mit seinem Gott und durch den Gehorsam, mit dem er seinen Weg ging. Eine verwandte Seele hatte die andere gegrüßt und sah ihrem Scheiden mit Trauern nach.

»Möchten wir einmal so vor Gott treten können mit solch reiner Kinderseele,« schloß er bewegt.

Als wir drei Heimatmenschen am Abend am Grabe saßen, das mit Blumen und Kränzen geschmückt war, sprach keiner von uns. Schwalbenschwirren und süßer Blumenduft erfüllte die Luft, und eine große Stille lag über dem einsamen Friedhof.

Als die Sonne untergegangen war, erklang die Abendglocke, es war Sitte dort, daß jeder während des Abendläutens seine Arbeit ruhen ließ, auf seinem Wege stillstand und betete. Die einsame Frau faltete ihre Hände und sprach das Dämmerungsgebet, wie er es in seinem Pastorat in Kurland eingeführt hatte:

»Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden,
Und der Tag hat sich geneiget.
Bleibe bei uns und deiner ganzen Kirche
Am Abend des Tages, am Abend des Lebens und am Abend der Welt.

Bleibe bei uns mit deiner Gnade und Güte,
Mit deinem Trost und Segen,
Mit deinem Wort und Sakrament.
Bleibe bei uns, wenn über uns kommt die Nacht der Trübsal und Angst,

Die Nacht des Zweifels und der Anfechtung
Und die Nacht des bittern Todes.
Bleibe bei uns im Leben und im Sterben,
In Zeit und Ewigkeit.«



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