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Es war in einem Sommer, den ich mit meinen Verwandten am Rigaschen Strande verlebte, als ich mit meinen Vettern und Cousinen einen Spaziergang nach einem benachbarten Fischerdorf unternahm. Ganz früh machten wir uns auf den Weg, die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber als wir auf den Dünen standen, stieg sie in ihrer goldenen Herrlichkeit aus dem Meere. Es war ein köstliches Wandern in den wunderbar leuchtenden Sommermorgen hinein, goldene Morgensonne lag auf der ganzen lichten Welt, und das Meer war still, aber voll strahlendem Glanz.
Nach einer Wanderung von fast zwei Stunden waren wir an unserem Ziel und kehrten in dem alten, wohlbekannten Dorfkrug ein, wo man uns schon kannte. Das Leben im Dorf war längst erwacht, alles ging an seine Arbeit, der ganze Strand war von kleinen Fischerbooten belebt. Wir aber sitzen auf der Veranda des alten Dorfkruges und erfrischen uns mit Kaffee und warmen Wasserkringeln. Eine von uns hat Rousseau gelesen, seitdem schwärmen wir von der »Rückkehr zur Natur«. Wir finden unseren schlichten Strandort viel zu kultiviert und besprechen den Plan, im nächsten Sommer hier in diesem Dorf unter Fischern und Bauern zu leben. Es ist uns ein wundervoller Gedanke, mit ihnen ihre Landarbeit zu machen und auf den Fischfang zu fahren. Wir fragen allen Ernstes den Wirt, als wir unsere bescheidene Kaffeerechnung bezahlen, ob er uns wohl als Mieter und Arbeiter für den nächsten Sommer aufnehmen wolle.
Er lacht: »Das geht nicht,« sagt er kurz, steckt sein Geld ein und kehrt ins Haus zurück.
Nun sind wir ausgeruht und machen uns auf den Heimweg, denn es ist noch ein tüchtiges Stück Weges, das vor uns liegt. Als wir so eine Weile gewandert waren, sahen wir hinter den Dünen eine schmale Rauchwolke aufsteigen.
»Was ist denn das, eine menschliche Wohnung hier mitten in der Einsamkeit? Davon haben wir ja bisher keine Ahnung gehabt, das muß näher untersucht werden!«
Hier sind die Dünen besonders hoch und steil, wir erklettern sie und gehen dem Rauch nach. Und bald sehen wir einen kleinen Fußpfad vor uns, dem wir folgen.
Als wir die letzte Düne erklommen hatten, bot sich uns ein liebliches Bild: auf einer weiten Waldwiese lag ein kleines, strohgedecktes Bauernhaus, wie vergraben unter einer Fülle blühender Cyrenen. Flieder. Auf der Wiese hinter dem Hause grasten friedlich eine Kuh und ein Pferd, links sahen wir einen altertümlichen Ziehbrunnen, an dem ein Mann stand und Kartoffeln wusch. An der Tür des Hauses entdeckten wir ein altes Mütterchen im rotgestreiften Rock, es hatte die Hand schützend über die Augen gelegt und schien nach dem Stand der Sonne zu sehen. Es war ein Bild unendlichen Friedens, diese kleine Ansiedlung, umgeben von dunklem Tannenwald, sonnenbeschienen und funkelnd im Morgentau.
»Diese Einsiedler müssen wir kennen lernen,« rief ich begeistert.
Wir liefen eilig die Dünen hinunter aufs Häuschen zu; die Leute hatten uns schon bemerkt, der Mann am Brunnen ließ seine Arbeit stehen und sah neugierig zu uns herüber, er grüßte in deutscher Sprache. Als wir vor ihm standen, fiel es uns sofort auf, daß er nichts Bäurisches in seiner ganzen Erscheinung hatte. Es lag etwas Zartes und Gebildetes über seiner schmächtigen Gestalt, und aus klaren, blauen Augen sah er ruhig und freundlich zu uns herüber. In gutem Deutsch antwortete er uns höflich auf unsere Fragen, und mit einer hellen, weichen Stimme bat er uns um Entschuldigung, daß seine Hände von der Arbeit unsauber seien. Seine Stirn unter dem zurückgestrichenen blonden Haar war weiß und rein wie bei einem Mädchen, seine Augen hatten einen sanften Ausdruck. Auf unsere erstaunten Fragen, wie dieses einzelne Gesinde in diese große Einsamkeit käme, lächelte er:
»Das Haus hat mein Vater gebaut,« sagte er, »er war ein ›Stiller‹; es ist wohl einsam, aber man hat dann auch seinen Frieden.«
Weiter erzählte er, daß das Gesinde das Winckegesinde heiße, sein Name sei Gustav, und er sei der Winckewirt; nach dem Tode seines Vaters lebe er hier mit seiner Mutter und seiner Schwester Charlotte.
Wir fragten, ob wir ein Glas Milch haben könnten, und er lächelte mit seinem sanften Lächeln:
»Jawohl, die Kuh ist eben gemolken, aber sonst haben wir nur grobes Schwarzbrot im Hause, das ist nichts für so feine Damen.«
»Wir sind ja keine feinen Damen,« rief ich fröhlich, »wir sind ja eigentlich Bauernmädchen.«
Er sah mich erstaunt an, sagte aber kein Wort, spülte eilig seine Hände am Brunnentrog und lief mit schnellen, kleinen Schritten zum Mütterchen, das noch immer ganz erstaunt an der Haustür stand; und bald kam auch Charlotte, die Schwester, und begrüßte uns. Sie war augenscheinlich die Energische im Hause und überragte den kleinen, zierlichen Bruder um ein Beträchtliches. Sie hielt sich sehr gerade, ihr Gesicht war von der Sonne gebräunt, streng geschnitten, und ihr Haar legte sich blond und reich um ihren Kopf. Die ganze kleine Familie bediente uns voll Eifer, die Geschwister brachten einen schneeweiß gescheuerten Tisch und Stühle aus dem Hause, die sie unter die blühenden Cyrenenbüsche stellten. Wir mußten Platz nehmen, jeder von uns bekam ein Glas und mitten auf dem Tisch stand bald ein Teller mit großen Scheiben Schwarzbrot, und das Mütterchen trippelte eilig mit einer Kanne Milch herbei, die sie uns in die Gläser goß; alles war blank und blitzsauber, daß es eine Freude war, zu essen und zu trinken.
Vergebens überredeten wir die Leutchen, sie sollten sich zu uns setzen, doch dazu waren sie nicht zu bewegen. Halb von uns gezwungen, ließ sich endlich das Mütterchen auf die Ecke eines Stuhles am Tisch nieder und blieb bescheiden sitzen, hinter ihr stand Charlotte, etwas abseits Gustav, an einen Baum gelehnt. Die Morgensonne lag hell auf seiner weißen Stirn und dem blonden Haar, in den schmalen Fingern hielt er einen Blütenzweig, den er während des Gesprächs hin und her drehte. Eine seltsame Erscheinung für einen Strandbauern!
Bald wurden die Leutchen zutraulich, und wir erfuhren ihre ganze Lebensgeschichte. Gustavs und Charlottens Vater war ein deutscher Schneider gewesen, die Mutter eine reiche Bauerntochter aus Kurland; das Winckegesinde hatte ihr gehört, und von ihrem Gelde hatte der Mann das Häuschen aufgebaut. Ihre Familie hatte ihre Heirat nicht gern gesehen, denn sie war eigentlich unter ihrem Stande, aber sie hatte sich nun einmal in den kleinen deutschen Schneider verliebt, der so ganz anders war als alle Bauern, die um sie warben.
»Ich habe es nicht immer leicht gehabt,« fuhr sie redselig fort; »mein Mann verstand die Landarbeit nicht, er war eben zu fein für einen Bauer, und ich mußte viel arbeiten; er war auch nicht immer gut gegen mich.«
»Mama,« rief der Sohn mahnend dazwischen und drehte den Blütenzweig zwischen den Fingern hastig hin und her, »wie kannst du nur den Herrschaften so etwas erzählen!«
Das alte Weibchen schwieg erschrocken und sah uns mit ihren runden Augen ängstlich an. Sie hatte ein faltiges Gesicht, dem man aber doch noch die frühere Schönheit ansah.
»Ihre Mutter soll ruhig erzählen,« sagte ich begütigend. »Sie waren wohl ein sehr hübsches junges Mädchen?« fragte ich weiter.
Sie lachte leise, es war etwas in diesem Lachen, was an einen Vogelruf erinnerte.
»Das sagten alle Menschen,« sagte sie verschämt, »ach, und lustig war ich, und tanzen konnte ich. Aber mein Mann liebte es gar nicht, wenn ich lachte und tanzte.«
Bei diesen Worten sah sie etwas scheu nach dem Sohn hin, der aber hatte seine Augen niedergeschlagen und sah nicht auf.
»Mein Mann war sehr fromm und las viel in der Bibel,« erzählte sie weiter, »er war ein Gottesmann und dachte viel nach über alles, er war eben kein Bauer.«
Sie sah ganz stolz aus, als sie das sagte. Wir konnten uns gar nicht von diesen seltsamen Leutchen trennen, die immer zutraulicher wurden.
»Das Leben ist hart hier am Strande,« sagte Gustav in seiner leisen Art, »und die Arbeit auf dem Felde ist schwer, man muß sich sehr quälen.«
Wir fragten, ob er auch zum Fischen aufs Meer führe.
»Ja,« sagte er, »ich habe ein Boot, aber das Fischen ist noch viel schlimmer als das Arbeiten auf dem Felde, zum Fischen muß ich mich mit den Nachbarn zusammentun, die sind roh und grob.«
»Sie verachten ihn,« rief das Mütterchen dazwischen, »weil er nicht trinkt, nicht raucht und nicht flucht.«
»Ich habe auch nicht so viel Kraft wie die Bauern,« klagte Gustav, »darum nehmen sie mir immer die besten Fische fort und lachen mich noch dazu aus. Wenn der Wind den Seetang ans Ufer wirft, so nehmen sie mir immer dieses gute Düngmittel für die Felder,« schloß er traurig. »Die Nachbarn sind schlechte Menschen, sie lieben den Frieden nicht.«
»Ja,« rief Charlotte erregt. Sie war bisher die Schweigsamste von den dreien gewesen, nun sprach sie, und ihre Stimme klang hart. »Du stehst dann auf den Dünen und siehst zu, anstatt daß du hingehst und sie verjagst wie ein Mann, da du doch das Strandrecht hast.«
»Lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun,« sagte Gustav sanft. »Das Leben ist schwer, und die Menschen sind böse, und man ist oft sehr müde, aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft! Und dann ist ja auch der Sommer da, ich gehe an den Strand oder in den Wald. Ich freue mich an den Wiesen, an den vielen Blumen und daran, wie die Vögelchen im Walde singen.«
»Ja,« griff die Mutter in seine Erzählung ein, »dabei mähst du die Wiesen immer viel zu spät, weil dir die Blumen leid tun, und dann ist das Heu schlecht und verdorben!«
»Mama!« rief er kurz, und in seinen sanften Augen, die er auf seine alte Mutter richtete, lag plötzlich ein harter Blick, vor dem ich erschrak.
Wir versuchten, das Gespräch auf ein ungefährliches Gebiet zu lenken.
»Würden Sie vielleicht im Sommer Mieter in Ihr Haus nehmen?« fragte ich.
»Gewiß!« riefen sie alle drei eifrig, »aber es kommt doch niemand in diese Einsamkeit,« sagte Gustav Wincke hoffnungslos.
»Wir würden schon kommen,« rief ich begeistert, »denn das ist ja gerade das, was wir suchen. Würden Sie uns wirklich zum nächsten Sommer als Mieter ins Haus nehmen?«
Die Leutchen wurden ganz aufgeregt, wir mußten nun mit ihnen das ganze Häuschen besehen, das aus vier Zimmern und einer Küche bestand. Sie zeigten uns jeden Winkel, sogar in die Küche mit offenem Herd und Rauchfang mußten wir hineinschauen. Alles war unendlich sauber und ordentlich, wenn auch sehr bescheiden eingerichtet. Als wir uns lobend darüber äußerten, sagte das Mütterchen:
»Das Haus hält Gustav in Ordnung, ihm hält's keiner sauber und ordentlich genug.«
Auf dieses Lob sagte Gustav kein Wort, sondern schlug nur still die Augen nieder.
Zum Abschied bekam jeder von uns einen großen Busch Cyrenen, das Geld für Milch und Brot aber mußten wir ihnen förmlich aufdrängen. Die ganze aufgeregte kleine Familie begleitete uns bis an den Strand, wir nahmen Abschied und sagten:
»Auf Wiedersehen im nächsten Sommer, wir ziehen bestimmt als Mieter bei Ihnen ein!«
Der nächste Sommer fand uns wirklich im Winckegesinde, meine Mutter, meine Schwester und mich. Es war ein Ort des Friedens, wie man ihn sich schöner gar nicht wünschen konnte, mitten in tiefster Waldeinsamkeit; hinter den Dünen rauschte das Meer, aber ums Haus herum standen blühende Wiesen und Kornfelder.
Bald entstand eine große Freundschaft zwischen uns und den Winckebauern, wir teilten die Leiden und Freuden dieser merkwürdigen Leutchen, und eine Welt, die ganz eigenartig war, tat sich vor uns auf. Ich half Gustav bei der Feldarbeit und im Garten, hörte die endlosen Erzählungen des alten Mütterchens in drolligem Deutsch mit Vergnügen an, half Charlotte die Kuh besorgen, fuhr zum Fischen aufs Meer hinaus und kämpfte tapfer für Gustav mit den bösen Nachbarn um das Recht, seinen ans Meeresufer angespülten Seetang zu behalten. Abends saß ich auf einem Schemel in ihrer primitiven kleinen Sommerküche, sah zu, wie sich die Leutchen ihr Abendessen an einem offenen Feuer kochten und beantwortete ihre tausend Fragen. Sie waren so merkwürdig ahnungslos dem Leben gegenüber, machten sich seltsame Bilder von der Welt da draußen und fürchteten sich davor, aber sie grübelten, und Gustav las allerlei, was er nur halb verstand. Er hatte sich fest in seine eigene kleine Welt eingesponnen und galt in seiner Familie, namentlich bei seiner alten Mutter, für eine Art Orakel.
Ihre Fragen wollten gar kein Ende nehmen und machten mich oft lachen.
Ob in Italien wirklich alle Menschen nur Italienisch sprächen, auch die kleinen Kinder? Ob schon die kleinen Kinder in Afrika so schwarz seien, oder ob die Sonne sie nur verkohle und verbrenne? Ob man auch alt werden könne, wenn man schwarz sei? Ob die Erde sich wirklich drehe, und ob man nicht einmal auf dem Kopf stehen müßte, wenn das, was oben sei, nach unten käme? Davor fürchteten sie sich namenlos.
Am nächsten von den dreien stand mir Gustav. Er rechnete mir meine freiwilligen Hilfeleistungen hoch an, denn er arbeitete nicht gern und begriff nicht, wie man sich mühen könnte, ohne dazu gezwungen zu sein.
»Arbeiten« nannte er nur »quälen«.
Sein Glaube an meine Klugheit und an mein Wissen waren unerschütterlich; als die alte Mutter über ein Wort von mir einen kleinen Zweifel zu äußern wagte, berief er sie streng:
»Erbarm dich, Mutter, klüger als das Fräulein kann doch keiner sein!«
Hoch oben auf der Düne hatte er mir eine Bank gezimmert, wo ich immer des Abends beim Sonnenuntergang saß. Man hatte von dort einen wundervoll freien Blick übers Meer, und Gustav suchte mich dort oft auf. Er saß dann in ehrfurchtsvoller Entfernung im Dünengras, fragte, erzählte, und ich blickte in eine merkwürdige Seele, die sich mir weit öffnete und die voll Leidensfähigkeit war. Seinem Leben war er in keiner Weise gewachsen, weder körperlich noch seelisch, und schwer litt er darunter. Er war wohl ein Poet, und seine Seele war verwundbar, scheu und voll Schönheitsdurst.
»Es ist alles so grob im Leben,« sagte er traurig, »man muß immer kämpfen, sonst lachen die Leute einen aus, und ich liebe den Frieden und daß es um mich still ist!«
Eine große Angst erfüllte sein Herz, das war die Furcht vor Hexen, und als er das erstemal damit gegen mich herauskam, mußte ich lachen, was ihn sehr erregte.
»Wenn das Fräulein über die Hexen lacht,« sagte er aufgeregt, »wird es meinem Hause Schaden bringen, denn die Hexen lieben nicht, daß man über sie spottet.«
»Erzählen Sie mir doch, wie Sie auf diesen Unsinn kommen,« sagte ich. »Haben Sie jemals im Leben eine Hexe gesehen?«
»Wer sie sieht, muß sterben,« sagte er geheimnisvoll, »aber man fühlt sie und merkt, wenn sie dagewesen sind. Sie spucken einem auf die Blätter der Gebüsche, haben Sie denn nie Spuck auf Blättern gesehen?«
Als ich ihm erklärte, es wären kleine Tiere, die das täten, es wäre von Gelehrten beobachtet und ganz genau festgestellt, da versteinerte sich sein Gesicht.
»Nun?« sagte er herausfordernd, in einem Ton, wie ich ihn noch nie gehört, »und daß die Kühe plötzlich keine Milch geben, wovon kommt das her? Wissen die Gelehrten das auch?«
Er ließ sich auf nichts weiter ein, stand auf und ging fort.
Ein anderes Thema, das wir oft erörterten, war das Heiraten, vor dem er sich fürchtete und wo kein Zureden half.
»Davon weiß das Fräulein nichts, denn unter gebildeten Damen ist das alles ganz anders. Bei uns aber ist das so: vor der Hochzeit sind sie alle freundlich, lieblich und sauber, aber nach der Hochzeit, da möge Gott einen bewahren in Gnaden!«
Als ich ihm zu widersprechen versuchte, schwieg er, aber sein Gesicht bekam einen abgeschlossenen Ausdruck. Er schlug die Augen nieder, und sein Mund wurde schmal; in dem sonst so bescheidenen Menschen lag dann eine hochmütige Abwehr.
Eine leidenschaftliche Liebe hatte er für Blumen, und einmal bat er mich flehentlich, doch nicht so viele Blumen abzupflücken. Es sei grausam, ihnen ihre Lebenszeit zu verkürzen, denn »ihre Freude dauert doch sowieso nur kurze Zeit«.
Schüchtern und voller Güte und Feinheit, wie er war, konnte plötzlich eine große Härte über ihn kommen. Sein Gesicht wurde dann eisern und der Blick seiner Augen kalt. Am meisten traten diese Züge seiner alten Mutter gegenüber hervor. Als ich ihm das einmal vorhielt, sagte er kurz:
»Mama ärgert mich, sie spricht zuviel, sie nimmt mir meinen Frieden.«
Danach kam ein Sommer, in dem wir mit einer kranken Verwandten nach Wincke zogen. Im Winter hatte sie schwer gelitten und sollte sich hier völlige Heilung und Kräftigung holen. Sie lag den ganzen Tag unter den Waldbäumen, blaß und rührend anzuschauen; der Seewind strich über ihre klare Stirn und brachte den Duft der blühenden Cyrenen und Pielbeerbäume Eberesche. mit. Er zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen, und ihre dunklen Augen strahlten.
»Hier werde ich gesund werden,« sagte sie.
Gustav ging der Leidenden aus dem Wege, grüßte sie aus der Ferne und war überhaupt viel zurückhaltender als früher, auch gegen mich. Ich fragte ihn einmal geradeheraus, warum er so unfreundlich gegen die Kranke sei, die ihr Leiden mit so rührender Geduld trug.
»Das Fräulein,« sagte er, und seine Stimme hatte einen harten Klang, »das Fräulein ist krank, weil es nicht fromm ist. Keiner braucht krank zu sein, der ein wirkliches Gotteskind ist.«
»Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn aufgebunden,« rief ich empört.
»Ich habe einen frommen Bruder predigen gehört,« sagte er zurückhaltend, »von dem habe ich viel gelernt, auch dieses.«
Er war in die Hände von Baptisten geraten, die sich seiner Seele bemächtigt hatten; er nannte sie nur »die Brüder« und sagte, sie führten ein heiliges Leben. Wir hatten oft lange Gespräche über diese und andere religiöse Fragen, ziemlich erfolglos, denn sein Glaube an mich hatte einen starken Stoß erhalten; ich kam gegen die Brüder nicht auf. Allmählich wurde er aber doch wieder zutraulicher, wir lasen gemeinsam unsere Sonntagspredigt und die Bibel. Er wußte endlos viel Bibelsprüche, die er aber, von den Brüdern beeinflußt, alle schief anwandte.
Als wir uns am Ende dieses Sommers trennten, hatten wir ihn doch so weit bekommen, daß er versprach, die Kirche zu besuchen und nicht nur die Versammlung der Brüder, ja, er wollte sich sogar mit seinem Pastor aussprechen. Beruhigt fuhren wir fort.
Nach diesem Sommer waren zwei Jahre vergangen, wo wir unsere Ferien nicht im Winckegesinde verbrachten, und als im dritten Jahr der Frühling kam, fuhr ich hinaus, um wieder für den Sommer das Häuschen zu mieten, denn es zog uns alle sehr nach dem lieben, friedlichen Ort. Aber mit Schrecken sah ich die große Veränderung, die in den letzten Jahren mit ihm vorgegangen war: Armut und Verwahrlosung blickten mir von allen Seiten entgegen. Das Pferd war verkauft, die Trümmer des Bootes lagen im Sande, spärliches Gras wuchs auf den elenden Wiesen, und die Felder waren verkommen. Durch das Strohdach des Hauses war der Regen in Strömen in die Zimmer geflossen, und die sonst so zierlichen Blumenbeete vor den Fenstern wiesen nur Unkraut auf. Eine magere Kuh weidete am Waldrande, und die alte Mutter war ganz allein zu Hause, sie machte einen geängstigten, zerlumpten Eindruck und wollte in keiner Weise Rede und Antwort stehen. Wo denn der Gustav sei, fragte ich.
»Er ist auf mehrere Tage zu den Brüdern über Land gefahren,« war die Antwort.
»Was tut er denn bei den Brüdern?«
»Er betet,« sagte sie scheu.
Sie wollte gar nicht wieder zutraulich werden, und auf meine Frage, ob Gustav auch immer gut zu ihr sei, nickte sie hastig:
»Ja, gewiß!«
Trotz dieses wenig versprechenden Eindrucks mietete ich doch für den Sommer, denn das Fleckchen Erde war so lieblich, die Einsamkeit so lockend, daß wir all das neuerstandene Unbehagen mit in den Kauf nehmen wollten.
Gustav war vollständig unter die Baptisten gegangen, bei denen er als Bruder eine große Rolle spielte. All sein Glaube an uns war verschwunden, und nur Selbstgerechtigkeit und unermeßlicher, geistlicher Hochmut erfüllten ihn. Er ging immer mit niedergeschlagenen Augen umher und sprach meist in Bibelsprüchen, wie in einer Festung, über deren Mauer nichts herüberkonnte, saß er wohl verwahrt. Er arbeitete fast gar nichts mehr, nur das Allernotwendigste tat er.
»Der Herr gibt's den Seinen im Schlaf,« sagte er.
Auch sein Äußeres war verändert, sein Gesicht hatte einen eisernen Ausdruck und seine früher so sanften Augen einen harten und bösen Blick. Besonders schlimm waren die Sonntag-Vormittage; da saß er ganz still in seinem Zimmer, zog sich einen Sack über den Kopf und betete. Am Nachmittag kamen meist die Brüder aus der ganzen Nachbarschaft und sangen und beteten miteinander. Einmal nahm ich teil an der Versammlung, da ich aber Gustav nachher über Verschiedenes angriff und aufzuklären suchte, nahmen die Brüder an meiner Gegenwart Anstoß, und ich mußte mich fernhalten.
Ganz besonders hart und schlecht war er gegen seine Mutter, die sich nicht entschließen konnte, zu den Baptisten überzutreten, und die er deswegen grenzenlos verachtete. Oft klang wilder Zank und Streit und lautes Weinen aus der Küche, erschien ich aber, wie zufällig, an der Tür, wurde es sofort still.
Eines Tages, als das Zanken und Weinen besonders schlimm war, ging ich entschlossen hin und stand plötzlich unerwartet in der offenen Tür, gerade in dem Augenblick, als ein Fischkopf durch den Raum flog, direkt der alten Mutter ins Gesicht.
»Wer hat den Fischkopf geworfen?« rief ich empört.
»Ich,« sagte Gustav ruhig und sah mich kühl an.
»Schämen Sie sich denn gar nicht?« rief ich außer mir. »Sie wollen ein heiliger Mann sein, ein Auserwählter Gottes, und mißhandeln Ihre alte Mutter!«
»Die Hunde bleiben draußen,« sagte er ruhig, »so steht's schon in der Bibel.«
»Zeigen Sie mir doch die Stelle, wo die Bibel einem Sohn erlaubt, so zu seiner Mutter zu reden.«
»Meine Mutter muß in die Hölle,« war seine kaltblütige Antwort, »ihr ist das Heil geboten, und sie hat es nicht erkannt.«
»Wo ist denn das Heil bei Ihnen zu finden?« rief ich, »Ihr Haus verkommt, Ihre Felder verkommen. Sie sind ein böser, harter, selbstgerechter Mensch geworden, sind schlecht gegen Ihre Mutter und vom Hochmutsteufel besessen.«
»Dieser Zeit Leiden sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbart werden,« sagte er mit eisernem Ton.
Ich nahm die schluchzende alte Mutter an der Hand.
»Kommen Sie mit mir,« sagte ich überredend, »Sie essen heute abend mit uns, weinen Sie nur nicht mehr.«
Als ich die zitternde kleine Gestalt hinausführte, sah ich mich noch einmal nach Gustav um. Er saß ruhig mit unbewegtem Gesicht auf der Bank und schälte weiter an seinen Kartoffeln, als sei nichts geschehen.
Als die Alte beim warmen Abendessen bei uns in der Küche saß, brach der ganze Jammer aus ihrer geängstigten Seele.
Gustav sei gewiß ein heiliger Mann, die Brüder sagten das alle, und sie würde auch gern Baptistin werden, denn die Brüder könnten so wunderschön beten und singen. Sie fürchtete aber, im Himmel ihren Mann nicht wiederzufinden, da bliebe sie lieber, was sie sei, so sei sie doch sicher, mit ihrem Mann vereint zu werden. Die ganze Seelenangst, ihr Kummer über das verwahrloste Gesinde, ihre Armut, ihr Darben kam zum Vorschein. Dann klagte sie, daß sie sich so krankhaft vor Gewittern fürchte, und diese Angst benutzte Gustav, um sie mit allen Höllenstrafen zu bedrohen. Ein Entsetzen erfaßte mich, was aus dieser feinen Menschenseele geworden war! Und ein tiefes Mitleid mit der armen, alten Mutter erfüllte mein ganzes Herz, aber helfen konnte ich ihr nicht.
Es war auch der letzte Sommer, den wir dort verlebten, denn bald darauf verkaufte Gustav das ganze kleine Anwesen, Charlotte heiratete, und die Mutter starb, wohl vor Kummer, er aber galt unter den Brüdern als ein wohlhabender Mann. Da überredeten sie ihn, sein ganzes Vermögen in ihre Verwaltung zu geben, er hat keinen Pfennig mehr davon wiedergesehen und verarmte vollständig. Das machte ihn ganz stumpfsinnig, und in Elend und Jammer ist er zugrundegegangen.
Viele Jahre mochte ich diesen Ort nicht wiedersehen, es lagerten zu dunkle Schatten in der Erinnerung auf ihm. Aber die Jahre mildern alles, die dunklen Erinnerungen verblaßten und die lichten gewannen wieder Kraft. Und so besuchte ich auch einmal den Ort, den ich nicht vergessen konnte, aber es war ein ganz anderes Bild, das sich meinen Blicken bot, als ich auf der Düne stand und den alten, vertrauten Platz mit den Augen suchte. Eine stattliche Fabrik erhob sich am Waldrand, daneben lag ein schönes Wohnhaus mit gepflegtem Garten. Auf der Waldwiese spielten junge Menschen Tennis, ihre hellen Kleider leuchteten in der Sonne; ihr Lachen klang zu mir herüber, was mein Herz mit Wehmut erfüllte. Wie schnell zieht unser Leben vorüber, »als flöge es davon«. Nur hinter den Dünen brauste noch das ewige Meer unverändert wie damals!