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Ein Pastorat in Kurland

Einige Tage vor Pfingsten besuchte mich eine alte Freundin unseres Hauses. Als ich ein kleines Ding war, hat sie mich unterrichtet, nun verbindet uns, trotz des Altersunterschiedes, eine warme Freundschaft. Mit einer gewissen Feierlichkeit tritt sie ins Zimmer, ich merke, sie hat etwas auf dem Herzen.

»Nun, Anning,« sage ich, »sprich dich aus. Hast du einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann? Du bist so feierlich.«

Sie sieht mich ganz erstaunt an.

»So, hast du das schon gleich gemerkt?« fragt sie.

»Das ist bei dir nicht schwer,« ist meine lachende Antwort. »Dir steht ja alles sofort auf dem Gesicht geschrieben.«

Ich helfe ihr den Mantel ablegen, mache ihr die Bindebänder vom altmodischen Seidenhut auf und führe sie ins Zimmer, wo sie sich bald behaglich im Lehnstuhl niedergelassen hat.

Sie ist eine prächtige Erscheinung, wie sie so dasitzt, steif und gerade, ohne sich anzulehnen. Ihr Haar ist trotz ihrer hohen Jahre dunkel und glänzend, ihre Augen grau und klarblickend, ihre Züge sind grade und edel und sprechen von früherer großer Schönheit. Sie ist peinlich sorgfältig und ein wenig altmodisch gekleidet, ihre ganze Persönlichkeit wirkt wie »auf den Fels gebaut«.

Es strömt eine warme Welle über mein Herz, ich werde mir plötzlich mit Dank bewußt, was für ein Glück es für mich ist, solch eine alte Freundin zu haben: so unbestechlich, wahrhaftig, liebevoll und treu.

Ich fasse ihre Hand:

»Nun, Anning, jetzt sage mir, was kann ich tun?«

»Mein Bruder Heinrich und meine Schwestern lassen dich grüßen und bitten dich, sie für die Pfingstfeiertage in ihrem Pastorat zu besuchen,« sagt sie immer noch ein wenig feierlich.

»Das habe ich mir längst gewünscht. Ich komme mit großer Freude!«

Wir besprechen alles miteinander, und der Pfingstsonnabend findet uns auf dem Wege zu ihren Geschwistern nach Kurland. Die Eisenbahnfahrt liegt hinter uns, wir halten an der kleinen Station und steigen aus. Der Kutscher aus dem Pastorat steht wartend da. Er ist ein altes Faktotum des Pastors. Freundlich und wohlgenährt, in selbstgewebten grauen Stoff gekleidet, begrüßt er uns mit dem gewohnten Handkuß, verstaut unsere Sachen im Wagen, hilft uns beim Einsteigen und hüllt uns in unzählige Tücher, Paletots und Schals, als gälte es eine Fahrt an den Nordpol. Auf meine jammervolle, halberstickte Bitte, mir doch wenigstens mein Gesicht freizulassen, damit ich etwas von der schönen Welt sehen könnte, ist seine Antwort freundlich, aber bestimmt lautend:

»Der Herr Pastor hat mir aufgetragen, das städtische Fräulein ganz besonders einzupacken, da muß man gehorchen.«

Ich fügte mich, ein wenig seufzend.

Nach mehrstündiger Fahrt sehen wir einen Kirchturm auftauchen.

»Das ist unsere Kirche,« sagt der Kutscher, »gleich werden wir auch des Pastors Haus sehen.«

Und bald halten wir vor dem Pastorat. Auf der breiten Holztreppe steht der Pastor, umgeben von seinen fünf alten Schwestern. Schlichtes, graues Haar umrahmt sein liebes Gesicht, aus dem einen ein Paar wunderschöne, blaue Augen mit strahlender Güte anblicken.

Er hilft uns aus dem Wagen und führt mich mit einer gewissen Feierlichkeit über die Schwelle seines Hauses.

»Willkommen in Kurland,« sagte er dabei, ein Gruß, den ich nur in Kurland gehört habe, der in unseren anderen Provinzen nicht üblich war.

Ein wenig betäubt lasse ich mich aus all meinen Tüchern wickeln und begrüße dann die alten Schwestern, die ich zum Teil gut kannte: Amalie, Emma, Gusting, Berta, Lina.

Es waren bis auf Amalie alles große Gestalten, die sich sehr gerade hielten, mit prächtigen Gesichtern, Typen aus einer längst verklungenen Zeit. Gusting führte dem Bruder, der Junggeselle war, den Hausstand.

Das Abendbrot wartete schon auf uns, und der Tisch war auf der Veranda gedeckt. Ich wollte sofort in den Garten stürzen, um den Frühling mit all seinen vielen Blumen zu grüßen, aber sieben Stimmen erhoben sich, und sieben Willen stellten sich wie eine Mauer diesem Wunsch entgegen. Und aus den sieben Stimmen erhob sich die eine des Pastors, der verlangte, ich solle mich zuerst an den Tisch setzen und etwas essen, dann das Haus besehen; und dann würde er mir den Garten zeigen, es müsse alles seine Ordnung haben.

Als wir uns nun an den Tisch gesetzt und der Pastor das Tischgebet gesprochen hatte, bemerkte ich, was ich bei meiner Ankunft übersehen hatte, daß es noch einen ganz jungen Hausgenossen gab: ein kleines Mädchen, das Pflegetöchterchen des alten Geschwisterpaares: Toni. Ein rosiges Menschenknöspchen, merkwürdig, wie verweht in seiner Jugendblüte unter den Alten.

Das Essen schmeckte prachtvoll, schlicht und einfach, aber alles aufs wohlschmeckendste bereitet, die Portionen waren riesengroß. Der Tisch war mit einem weißen, selbstgewebten Tuch bedeckt, alles war von blitzender Sauberkeit und einer eigentümlichen Frische.

Die Veranda lag hoch, man sah in einen Garten voll blühender Frühlingsblumen. Von den Wiesen kam der frische Geruch von Erde, Gras und Kalmus; in den Büschen schlug eine Nachtigall, Jasminduft lag schwer in der Luft.

»Bei Ihnen ist es wunderschön,« sagte ich aus vollstem Herzen heraus.

»Ja,« sagte der Pastor einfach. »Wir haben es gut,« und seine blauen Augen leuchteten.

Nach dem Abendessen mußte ich das Haus besehen: bis in die Küche hinein ging es, wo ich die alten Dienstboten, Knechte und Mägde, begrüßte. Die Wirtin verlangte, ich solle durchaus auch die Speisekammer sehen. Da mußte ich lachen, als ich die Berge von Speckkuchen, frischgebackenem Brot, die Schinken und Würste sah.

»Davon muß man ja ein ganzes Jahr leben,« rief ich; mein Ausspruch wurde ins Lettische übersetzt und löste große Heiterkeit aus.

Nun wollten mir die Mägde auch ihre Zimmer zeigen. Zuerst wurde ich in eine Ecke geführt, wo ganz still und friedlich zwei Hühner auf ihren Nestern saßen und brüteten. Dann ließen sie mich die selbstgewebten bunten Decken und die selbstgesponnenen Laken bewundern. Alles war im Hause gemacht: der Flachs war auf den Pastoratsfeldern gewachsen, die Wolle von den Pastoratsschafen gewonnen, und zu den weichen Kissen hatten die Pastoratsgänse ihre Federn liefern müssen. Man fühlte sofort, welch ein festes Band sich um Dienstboten und Herrschaften schlang, und daß sie gewohnt waren, Freud und Leid miteinander zu teilen.

Endlich durfte ich in den Garten, die Blumenpracht in der Nähe besehen. Es war eine solche Fülle von Frühlingsblumen da: Primeln blühten in Masse, der Rasen war gelb von Schlüsselblumen, alles war gepflegt und gedieh prächtig. Riesengroße Büsche von wilden Rosen und Jasmin umwucherten fast das Haus; ich erfuhr später, daß Bruder Heinrich nicht erlaubte, die Büsche und Bäume zu beschneiden, es durfte alles so hoch wachsen, wie der liebe Gott es wollte. Wir durchwanderten den ganzen großen Garten, an den sich ein Park schloß. Alles stand festlich im ersten Frühlingsgrün, alles war voll Frieden und stiller Schönheit.

Nun mußte ich zur Ruhe gehen, die Geschwister geleiteten mich in mein kleines Zimmer, voller Sorge, daß mir nur ja nichts fehle. Bald lag ich behaglich in meinem blütenweißen Bett und schlief traumlos. Aber ich hatte eine große Unvorsichtigkeit begangen: am Abend gestand ich Anna auf ihre Frage, daß ich ein wenig Halsschmerzen hätte, denn sie bemerkte, daß ich heiser sprach. Das wurde den Geschwistern mitgeteilt, und noch am Pfingstsonnabend war über mich Ahnungslose Familienrat gehalten worden, und Bruder Heinrich sprach das entscheidende Wort, ich müsse im Bett bleiben und dürfe nicht in die Kirche fahren.

Als ich am Morgen erwachte, hörte ich ein überraschendes Knistern im Ofen. Gusting hatte anheizen lassen, denn ein Kranker müsse es warm haben. Nachher erschien Anna in der Tür mit einer Kanne heißer Milch und meldete mir den Familienbeschluß.

Ich hatte mich sehr auf die Kirche gefreut. Hätte ich auch wenig von der lettischen Predigt verstanden, so war es doch ein Festgottesdienst. Auch freute ich mich, die Kirche zu sehen, die berühmt durch ihre alten Holzschnitzereien war und durch die posaunenblasenden Engel, die die Orgel umstanden. Aber ich merkte schon, gegen sieben Willen kam der meine nicht auf.

»Öffnet wenigstens das Fenster,« bat ich, »daß der Frühling zu mir hereinkommen kann.«

»Das geht auf keinen Fall,« sagte Berta fest, die eben ins Zimmer trat. »Was denkst du wohl, es ist draußen sehr frisch.«

Die lieben alten Freundinnen hatten mich schon als Kind und als ganz junges Mädchen gekannt. Die Jugend lag nun wohl hinter mir, ich führte meinen eigenen Haushalt, und meine Schüler und Pensionärinnen waren es gewohnt, daß mein Wille der entscheidende war. Aber in ihren Augen war ich noch jung, etwas leichtsinnig und bedurfte dringend der Aufsicht. Halb gerührt, halb belustigt fügte ich mich und dachte: wenn sie nur erst in der Kirche sind, mache ich, wie ich's will.

Vor ihrer Abfahrt kamen sie alle zu mir, um von mir Abschied zu nehmen; sogar die Älteste, die blinde Amalie, und die Jüngste, Toni, fuhren mit. Wie waren sie alle würdig in ihren etwas altmodischen Kleidern und Hüten, auf denen kein Stäubchen und kein Flecken zu sehen war.

»Ihr seid wohl prachtvolle Menschen!« entfuhr es mir unwillkürlich, worüber sie ein wenig lachten.

Nun rollten die zwei Wagen vor, und sie fuhren ab; das Haus blieb still und einsam unter der Aufsicht einiger alter Dienstboten zurück.

Meine Stunde schlug, mit einem Satz war ich aus dem Bett, mit einigen Schritten am Fenster, welches ich weit aufmachte. – Frühlingsluft, Vogelsingen, Jasminduft drangen zu mir herein, und ich sollte da die Kranke spielen! Schnell war ich angekleidet, und dann ging es in den Garten hinaus. Alles blühte und duftete noch schöner als gestern, und über all das Duften und Blühen zogen die Glockentöne des fernen Landkirchleins hin.

Ich wunderte mich, daß das Pastorat, der Sitte entgegen, nicht mit frischen Birken geschmückt war. Doch der Pastor duldete es nicht, daß man die jungen Birken abhackte. Für ihn war jeder Baum etwas Lebendiges, für die Zukunft Lebendes, woran man nicht rühren durfte.

Als ich den Garten durchwandert hatte, kehrte ich ins Haus zurück und besah mir noch einmal die Zimmer bei Tageslicht und Sonnenschein. Sie trugen ein ganz besonderes Gepräge: alles war blendend weiß von den Gardinen bis zu den Fußböden, nirgendwo war ein Stäubchen zu sehen, aber merkwürdig schmucklos, fast asketisch, mutete einen die Einrichtung an. Nichts Unnützes, nur zum Schmuck Dienendes war zu finden, kaum ein Bild an den Wänden. Die Möbel waren schwer, altmodisch und gradlinig aufgestellt. Aber in einer Ecke stand, völlig unmotiviert, ein kleiner Tisch mit einer Fuchsie darauf. Später erfuhr ich, das sei mir zu Ehren dort hingestellt worden.

»Monika liebt Dekorationen,« hatte Berta gesagt.

Da kam mir ein Gedanke, den ich schnell ausführte. Ich schnitt einen mächtigen Strauß Jasmin im Garten, von dem ich alle grünen Blätter entfernte, dann holte ich mir aus der Küche einen runden, alten Tontopf mit zwei Henkeln daran und stellte den Strauß hinein. Prächtig und phantastisch machte er sich in seinem schlichten Gefäß. Ich brachte ihn mit großer Kühnheit in den Saal und setzte ihn mitten auf den Mahagonisofatisch.

Nun kamen sie alle aus der Kirche, und ich empfing sie auf der Treppe und stellte mich als vollkommen genesen vor. In die fröhliche Begrüßung klang ein Schrei von Tonis Lippen: sie hatte den Strauß entdeckt und rief die Tanten und den Onkel in den Saal, um das Wunder zu sehen – ein Blumenstrauß ohne grüne Blätter – keiner sagte zuerst ein Wort. Der Pastor unterbrach die Stille.

»Vielleicht ist es schön,« sagte er bedenklich. »Aber man muß sich doch sehr daran gewöhnen. Es sieht gar nicht aus, als wäre es ein Jasminstrauß.«

Das meinten die anderen auch mit mehr oder weniger Kopfschütteln, nur das Kind Toni sagte:

»Es sieht aus, als wäre es ein Strauß aus dem Märchenlande.«

Sie waren alle Originale, die alten Geschwister, eigenartig und konservativ bis zum äußersten. Über des Pastors Leben hätte man nur das eine Wort setzen können: »Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.« Eine große Wahrhaftigkeit zeichnete sein Leben aus, schlicht und fest ging er immer den Weg der Pflicht und der Liebe.

Amalie, die Älteste, war fast achtzig Jahre alt. Sie war blind und wurde ein wenig von den anderen Geschwistern beherrscht. Sie verirrte sich immer auf dem Wege zu ihrem Zimmer, das am Ende eines langen Korridors lag. Der Bruder hatte eine Schnur gezogen, die von der Tür des Speisezimmers durch den ganzen Korridor bis an ihr Zimmer führte. Sie wurde immer wieder ermahnt, die Schnur nicht loszulassen, bis sie ihr Ziel erreicht hätte. Aber sie ließ sie doch los, verlor die Richtung und erschien unvermutet, etwas betrübt und ängstlich, wieder im Speisezimmer.

Emma war in ihrer Jugend eine große Schönheit gewesen; sie hatte die Gewohnheit, ihre Handtücher jeden Morgen durch den ganzen Garten bis ans Ende des Parks zu tragen, um sie dort auf einem Baum zu trocknen, und keine Macht der Erde hätte sie davon abhalten können.

Gustchen war eine tadellose Hausfrau, ihr ganzes Leben war Sorgen und Schaffen für andere, sie war wie eine Mutter fürs Haus, fürs Gesinde und für die Gemeinde des Bruders, wo sie jeden kannte.

Die originellste von allen aber war wohl Berta. Sie war viele Jahre Lehrerin an einer Schule für kleine Judenmädchen gewesen, die von meiner Mutter gegründet und erhalten worden war. Da die Schule in unserem Hause war, ging sie bei uns täglich aus und ein. Sie hatte eine große, verehrende Liebe zu meiner Mutter, aber es lag viel Schroffheit in ihr, und ihr Wille war eisern: es gab oft harte Kämpfe zwischen den beiden in Schulangelegenheiten. Und manchmal half nichts anderes, als daß meine Mutter zum äußersten Mittel greifen mußte:

»Berta, mir zuliebe tun Sie's!« Dann beugte sie sich, wir aber sagten: »mit krachenden Knochen«. Auch behaupteten wir, ihre Erziehung in der Schule hätte ihresgleichen nur in altpreußischer Heereszucht, denn sie führte eine eiserne Disziplin über die kleinen verwilderten Judenmädchen. Doch besaß sie dabei in hohem Maße die Liebe und das Vertrauen ihrer Schulkinder.

Sie liebte sehr Musik, doch war diese Liebe ebenso originell wie ihr ganzes Wesen. Grundsätzlich besuchte sie nie ein Instrumentalkonzert.

»Diese Musik ist mir zu verwirrt,« sagte sie.

Aber wenn wir in einem solchen Konzert gewesen waren, erschien sie regelmäßig bei uns und ließ sich von meiner Mutter davon erzählen. Wenn diese nun in ihrer sprudelnden Lebendigkeit eine Symphonie schilderte: wie die Violinen jubelten und klagten, wie die Bässe so ernst einherschritten, wie die Themen einander ablösten, dann sagte sie begeistert:

»Jetzt habe ich einen wirklichen Genuß gehabt, jetzt kann ich mir alles denken, denn ich habe alles verstanden.«

Sie liebte sehr Gesang.

»Da hat man doch den Text und weiß, was man hört,« sagte sie.

Ihr Lieblingskomponist war Loewe, und sie konnte es lange nicht verwinden, als Hans Schmidt, den sie einmal bei uns traf, sagte:

»Ach, Sie lieben Loewe? Der hat ja längst ausgebrüllt!«

Nach diesem blasphemischen Ausspruch lehnte sie Hans Schmidt vollständig ab, und nie saß sie grader in ihrem Stuhl, jede Linie eine Abwehr, als wenn man nur seinen Namen nannte.

Lina und Anna verbrachten nur die Ferien im Pastorat des Bruders, im Semester waren sie Lehrerinnen an einer Schule in Riga. Sie standen mir von allen Schwestern am nächsten.


Es wird der Vorschlag gemacht, am Nachmittag einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen, denn die Geschwister wollen mir den Wald zeigen, in dem die Pirola blühen soll. Sie wollen alle mit, und der Auszug der Kinder Israel war eine Kleinigkeit gegen diesen Aufbruch. Endlich waren sie alle bereit, und nun mußte ich einen siebenfachen Kampf bestehen, denn jeder einzelne wollte mich in einen Schal hüllen, jeder noch ein Tuch für mich für besondere Fälle auf dem Arm mitnehmen. Meinen verzweiflungsvollen Bitten, mir doch nicht den ganzen Spaziergang zu verderben, gelang es endlich, alle die mir zugedachten Hüllen zu Hause lassen zu dürfen; und so machten wir uns denn endlich auf den Weg. Das aber gab wieder ein Rennen mit Hindernissen, denn bei jedem Knechtshause blieben sie alle stehen, sprachen mit jedem Kinde und erkundigten sich nach allem und jedem. Bald war es ein altes Mütterchen, das ausführlich von seinen Leiden erzählen mußte, bald eine Mutter, die ihre sämtlichen frischgewaschenen Kinder präsentierte. Dann kam wieder ein Bauer und erzählte von der Wirkung einer Medizin auf seine Kuh oder sein Pferd. Aber trotz meiner Ungeduld und meiner Sehnsucht nach dem Walde und der Pirola fühlte ich doch mit großer Rührung, wie fest verbunden das Pastorat mit den Gemeindegliedern war. Es war schön zu sehen, wie der Pastor und seine Schwestern jede äußere und innere Not ihrer Leute kannten und Sorgen und Freuden mit ihnen teilten.

Ein besonders friedvolles Licht liegt für mich auf der Erinnerung dieser Tage. Es war wohl eine kleine und enge Welt, in der sie sich alle bewegten, ihre Größe aber erhielt sie durch die Liebe und starke Frömmigkeit, die jedes einzelnen Leben erfüllte.

Ich hatte zur gemeinsamen Lektüre ein neues Buch mitgebracht, das damals viel gelesen und besprochen wurde, es war der »Hochlandpfarrer« von Maria Sick. Die Heldin verläßt ihren geliebten Bräutigam, weil sie fühlt, daß sie ihn in seiner religiösen Entwicklung hemmt. Nach Jahren kehrt sie wieder zu ihm zurück. Er ist durch das Leid der Trennung den Entwicklungsweg gegangen, den sie für seine Seele ersehnt hat. Das Buch enthält viel Schönes, namentlich sehr schöne Naturschilderungen, wenn auch der Konflikt sich etwas übertrieben zuspitzt.

Das Buch fiel bei meinen alten Freunden vollständig durch, sie lehnten es einstimmig und entrüstet ab.

»Das ist ja ein ganz unsinniges Buch,« sagte der Pastor. »Warum faltet die Braut nicht ihre Hände und bittet Gott um Klarheit und Verstand? Das hätte ihr geholfen, eine rechte Pastorin zu werden für den Mann und die Gemeinde.«

Es gab so wenig Konflikte im Leben dieser klaren, frommen Menschen. Sie sahen nur einen Weg vor sich, und der führte himmelan.

An einem Regentage öffneten die Schwestern ihre Kommoden und Truhen und holten merkwürdige Schätze aus alter Zeit hervor: großmütterliche Seidenkleider, schöne alte Stickereien, vergilbte Spitzen und feine Häkel- und Strickarbeiten. Ich erhielt zum Andenken ein wunderbares Schminkdöschen aus getriebenem Silber aus dem früheren Besitz einer Urgroßmutter.

Am Abend vor meiner Abreise baten die Leute um die Erlaubnis, für mich eine Aufführung machen zu dürfen. Es sollte ein Volksspiel sein, das, aus alten Zeiten stammend, immer zu Fastnacht aufgeführt wurde.

Nach dem Abendessen versammelten wir uns in der Leutestube, aus der alle Sachen entfernt waren. Grüne Zweige schmückten das Gebälk der Lage, und der Fußboden war mit weißem Sand und zerhacktem Kalmus bestreut. Auf einer Reihe von Stühlen nahmen wir feierlich Platz, und die Vorstellung begann. Zuerst stürzte ein Bär herein, der Harmonika spielte und tanzte, zu ihm gesellte sich bald ein Schwein, und dann wimmelte es von allerhand Ungeheuern mit Tierköpfen. Es war eine groteske Versammlung mit langen Schwänzen und spitzen Hörnern, auch eine Giraffe mit einem endlosen Halse gab es. Aber das Herrlichste war doch, wie zum Schluß der Teufel hereinsprang mit einer roten, heraushängenden Zunge und einem langen Schwanz. Die Aufführung endete damit, daß er ihm ausgerissen wurde und er eine Tracht Prügel mit seinem eigenen Schwanz erhielt.

Nun erhob sich der Pastor und dankte in meinem Namen. Dann wandte er sich an mich und bat mich, ihnen ein Lied vorzusingen. Es war ein wunderliches Publikum, das sich nun zum Zuhören auf der Diele zusammenkauerte, und ich konnte mich zuerst des Lachens nicht erwehren, als ich alle die wilden Tiere so friedlich beisammen sitzen sah.

Ich erhob mich und sang Lied auf Lied, und der Pastor übersetzte jedesmal den Inhalt ins Lettische.

Dann gab es ein großes Danken und Händeküssen, und alles ging befriedigt und lachend auseinander.

Nur noch einmal in meinem Leben bin ich an diesem lieben Friedensort gewesen, dann nie mehr.

Die erste lettische Revolution kam über unser Land, aber an diesem Pastorat zog sie vorüber und störte seinen Frieden nicht. Dicht am Hause führte die Landstraße vorbei, aber die wilden Banden mieden es. Es lag geborgen unter seinen mächtigen Rosen- und Jasminbüschen.

Der Pastor erlaubte keine Schutzmaßregeln, es blieb alles wie in Friedenszeiten, und die Haustür und die Läden durften nicht geschlossen werden. Abend für Abend konnten die Vorübergehenden ins Fenster des Studierzimmers schauen, wo ihr alter Pastor, an seinem Arbeitstisch sitzend, beim friedlichen Schein seiner Lampe las oder schrieb, als wären Sicherheit und Ruhe um ihn. Es ist ihm nichts geschehen.

Nun sind sie alle tot, nur Toni, das Pflegetöchterchen, die den meisten von ihnen die Augen zugedrückt hat, lebt; und ein neues Leben hat in den alten Räumen begonnen.

Ob die Rosen- und Jasminbüsche noch so hoch ums Haus stehen wie damals? Ob die Nachtigall im Frühling noch in den blühenden Büschen singt und ob Menschen mit solchen ehrlichen, treuen Herzen und mit einer solchen Liebe in den alten Räumen leben?



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