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Pastorat Maholm

Wir Kinder sitzen mit den Eltern um den runden Tisch im Speisezimmer. Wir trinken unsern Morgenkaffee, und mein Vater sieht die Post durch, die eben gekommen ist. Er erwartet Nachricht von seinem ältesten Sohn, der an einem schweren Rheumatismus erkrankt ist. Er legt einen Brief aus der Hand und seufzt, meine Mutter sieht ihn sorgenvoll an:

»Sind schlechte Nachrichten aus Maholm von Frommhold?« fragt sie.

»Ja,« ist meines Vaters Antwort, »ich fürchte, er wird nicht gut gepflegt. Die alte Pröpstin schreibt, er wäre so verdrießlich und gedrückt nach seiner Krankheit, und die Kräfte wollten nicht kommen. Sobald die Wege fahrbar sind, mußt du auf einige Wochen mit den Kindern hin.«

Meine Mutter nickt nur: »Ich kann ganz gut für einige Zeit von Hause fort,« sagt sie, »die alten Leute werden schon für dich sorgen.«

Wir Kinder sind selig: ein Besuch im Pastorat bei unserem ältesten Stiefbruder, eine lange Fahrt in einer alten Kutsche mit Glasfenstern, das waren köstliche Aussichten. Wir fingen sogleich an, unsere Puppensachen zu packen, doch dauerte es noch einige Zeit bis die Frühlingswege so weit trocken waren, daß man fahren konnte. Dann wurde eines Tages die alte Kutsche aus der Wagenremise geholt, der Schmied kam, untersuchte sie auf ihre Widerstandsfähigkeit, beklopfte die Räder, und der Kutscher Gustav putzte und wusch an ihr herum. Es gab harte Kämpfe mit Njanja, die uns nicht erlauben wollte, unsere Puppenbetten mitzunehmen, weil das Gepäck zu groß würde.

Und dann war endlich der Tag da, an dem die Kutsche vor der Tür stand und wir wohlverpackt unter der Obhut meiner Mutter und Njanjas die große Reise zu unserem kranken Bruder antraten. Karl mußte zu Hause bleiben, weil er schon ein Schulknabe war und seine Stunden nicht versäumen durfte.

Es waren fast hundert Werst, die wir zurückzulegen hatten; unser Jubel, der zuerst groß war, verstummte allmählich, wir wurden müde, und als wir endlich abends vor der Pastoratstreppe hielten, mußten wir beiden Kinder aus dem Wagen getragen werden, wir waren fest eingeschlafen.

Mein Bruder war erst kurze Zeit Pastor in Maholm, er war noch unverheiratet, und die Witwe seines Vorgängers, die alte Pröpstin, verlebte bei ihm ihr »Witwenjahr«, wie man es nannte. In dieser Zeit mußte mein Bruder für sie arbeiten, und sie bekam alle Einnahmen des Pastorats.

Als mein Schwesterchen und ich ihr vorgestellt wurden, hatten wir erst große Furcht vor ihr. Der Titel »Pröpstin«, den wir nicht kannten, erfüllte uns mit einem gewissen Schauer, und wir nannten sie nur die »Krebsin«. Sie war groß und hager, ihre schwarze Witwenkleidung und eine riesige, schwarze Tüllhaube machten einen düsteren Eindruck. Kleine Kinder lagen ihrem Herzen sehr fern, und so fanden wir keinen Weg zu ihr. Sie hatte ihre starren Gewohnheiten, von denen sie nicht ließ, so mußte z. B. das Brot, das bei ihr gebacken wurde, in Kohlblätter gewickelt werden, was ihm einen abscheulichen Geschmack gab, wir Kinder konnten es zuerst gar nicht essen.

Ehe wir zu meinem Bruder gebracht wurden, ermahnte meine Mutter uns beide:

»Ihr müßt liebevoll gegen Frommhold sein, denn er ist sehr krank gewesen und hat viel Schmerzen. Vor allen Dingen müßt ihr versuchen, ihn zu unterhalten und ihm allerlei erzählen, damit er auf fröhliche Gedanken kommt.«

Das genügte, um mich vollständig scheu und schüchtern zu machen, denn ein unheimliches Verantwortungsgefühl hatte sich meiner bemächtigt und raubte mir alle Unbefangenheit. Meine Mutter führte uns beide ins Krankenzimmer, wo mein Bruder in einem großen Lehnstuhl saß. Er litt noch so schwer unter seiner Krankheit, daß er sich nicht viel bewegen konnte, und seine Hände und Füße waren in Binden gewickelt, was mir Furcht vor ihm einflößte. Es war alles so fremd, es roch nach Medizinen im Zimmer. Ich fing an zu weinen und mußte von Njanja hinausgeführt werden. Als ich mich beruhigt und versprochen hatte, artig zu sein, durfte ich wieder ins Krankenzimmer kommen. Mein Schwesterchen war unterdessen mit unserem Bruder vollständig eingelebt: sie saß auf einem Bänkchen und stützte seine große Pfeife, die er mit den kranken Händen nicht halten konnte.

Nun wollte ich doch auch zeigen, daß ich artig sein könnte und erbot mich mit etwas zitternder Stimme, meinem Bruder vorzusingen, was er dankbar annahm. Wenn ich singen konnte, schwanden die bösen Geister der Zaghaftigkeit und der Scheu. Ich stellte mich ans Fenster und sang mit heller Stimme: »In einer Scheune saßen acht Mäuselein.« Ich liebte dieses Lied besonders, weil es so dramatisch war: zuerst sprach die Mausemutter, dann antworteten die Kinder, zuletzt kam der Bäcker, der die ungehorsamen Kinder alle fing. Als ich geendet hatte, wurde ich sehr gelobt, nicht nur von meinem Bruder, sondern auch von meiner Mutter.

Dieses sind die einzigen klaren Erinnerungen, die ich an meinen ersten Besuch in Maholm habe.

Nach dem Tode meines Vaters haben wir oft die Sommerferien dort verlebt. Wir fuhren nicht mehr mit der alten Kutsche durchs Land, die Reise von Riga aus war zu weit dazu, es ging mit dem Dampfschiff nach Pernau und von dort über Weißenstein zu meinen Geschwistern, bis endlich die Eisenbahn gebaut wurde, was die Reise weniger beschwerlich und kürzer machte.

Wie von einem Schleier verhüllt sind unsere weiteren Besuche dort in meiner Erinnerung. Mein Bruder hatte geheiratet; ein kleines Kind nach dem anderen erschien im Pastorat und wurde von den Eltern mit großer Liebe empfangen. Meine Erinnerung wird erst wieder lebendig, als ich ein Backfisch von vierzehn oder fünfzehn Jahren war.

Nach einer anstrengenden Eisenbahnfahrt durch die Nacht halten wir an der Station Kappel und besteigen die mit zwei Pferden bespannte Kalesche, die auf uns wartet. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, eine wundervolle Luft umfängt uns, die wir in vollen Zügen einatmen. Wir werden ganz wach und frisch und schauen uns mit hellen Augen um. Die Wiesen und Felder liegen voller Tau, da hebt sich auch leuchtend die Sonne am Himmel empor, vom Jubel der Lerchen begrüßt. Wir fahren den altgewohnten Weg, der durch Wiesen und Felder führt, nirgendwo eine Erhebung, nirgendwo eine Abwechslung, nur am Horizonte liegt ein dunkler Streifen, der Wald. Schmal und spitz in den Horizont gezeichnet, taucht ein Turm empor, der Kirchturm von Maholm. Es dauert aber noch eine ganze Weile, bis wir an der Kirche herüberfahren und zum Pastorat einbiegen. Alles schläft noch, und es empfängt uns niemand von den Hausgenossen auf der Treppe, so war es der Wunsch meiner Mutter. Das Stubenmädchen erscheint eilig, noch völlig verschlafen, mit bloßen Füßen und wirrem Haar und hilft uns aus dem Wagen. Bald liegen wir in den Betten im altgewohnten Zimmer, es ist hier immer ein Stück Heimkommen.

Es war ein sehr behagliches Pastorat: ein großes Holzhaus mit Schindeln gedeckt, mit weißen Fensterrahmen, kleinen, altmodischen Scheiben und einer großen, vorgebauten Veranda, die von wildem Wein umsponnen war. Ein mächtiger Pielbeerbaum breitete seine Zweige über das Dach, in seinem Schatten versammelte sich die Familie gern zur gemeinsamen Lektüre. Von der Verandatreppe blickte man über einen grünbewachsenen Wirtschaftshof grade auf die gegenüberliegende Kirche, die in ganz besonders schönen Proportionen gebaut war. Schneeweiß mit ihrem schlanken Turm und rotem Ziegeldach sah man sie auf viele Werst durchs flache Land ragen. Sie lag mitten auf dem Friedhof mit seinen uralten Monumenten, Kreuzen und den Familienbegräbnissen der alten Pastoren und der benachbarten Gutsbesitzer. Dicht ans Haus schloß sich ein wunderschön gepflegter Garten voller Blumen und Gemüsebeete, der in einen schönen, schattigen Park auslief. Im Garten hatte mein Bruder ein kleines Treibhaus gebaut, es gab Bienenstöcke und auch einen Bleichplatz, wo selbstgesponnene Leinwand von einem alten Mann, »Kangataat« genannt, bewacht wurde.

Das Pastorat war von Wiesen und Feldern umgeben, man erwachte am Morgen vom Singen der Lerchen.

Mein Bruder war ein eifriger Landwirt, alles gedieh unter seinen Händen, sein Garten und seine Felder waren immer im besten Zustande, seine Pferde- und Viehwirtschaft war berühmt, denn er war unermüdlich fleißig und griff überall selbst ein, am Morgen der erste, der aufstand, am Abend der letzte, der schlafenging. Seine Persönlichkeit war sehr stark, knorrig und eigenwillig, er war gewohnt, daß sein Wille überall der maßgebende war.

Unermüdlich tätig war er auch in seiner Gemeinde, hatte immer Pläne, die er mit größter Energie ausführte; mehr Schulmann als Seelsorger lag ihm hauptsächlich die Entwicklung des Schulwesens seiner Gemeinde am Herzen. Dafür war von seinem Vorgänger nichts getan worden, es waren in seinem Gebiet nur drei Schulen vorhanden, als er sein Amt antrat, die er im Lauf der Jahre bis auf dreißig brachte. Zuletzt gründete er sogar eine Parochialschule, in der er sich seine Lehrer selbst erzog.

Seine Kirche, die für die große Gemeinde zu klein war, versah er mit Emporen, schmückte sie mit Holzschnitzereien, die ein geschickter Bauer verfertigte, und sammelte Mittel für eine schöne Orgel, auf der sogar Konzerte veranstaltet werden konnten. Es wurden einige Choräle aus alter Tradition von der Gemeinde immer falsch gesungen, das konnte sein musikalisches Ohr nicht vertragen. Eines Sonntags nach dem Gottesdienst hielt er folgende Ansprache:

»Es geht nicht länger, daß ihr die Choräle falsch singt. Nach dem Gottesdienst werden die Türen verschlossen, niemand darf hinaus; der Küster und ich werden so lange mit euch üben, bis ihr sie richtig gelernt habt. Heute lernen wir zwei Choräle, nächsten Sonntag wieder zwei, bis ihr alle falschen richtig singen könnt.«

So geschah es. Der Küster stand vor der Orgel und sang mit seiner leuchtenden Tenorstimme die falschen Stellen erst richtig vor, dann sang die Gemeinde sie nach. Mein Bruder stand im Mittelschiff, taktierte und sekundierte, es war eine richtige Übungsstunde, in die sich die Bauern willig fügten. Er erreichte es mit seiner Energie, daß er sich allmählich einen ausgezeichneten Gemeindegesang erzog.

Seine geistige Regsamkeit war erstaunlich: er las unendlich viel, schriftstellerte, und sein »Leben Fenelons« war ein Buch, das viel gelesen und sehr gut in ausländischen Blättern besprochen wurde.

Seine gesellschaftlichen Gaben waren glänzend: er konnte eine ganze Gesellschaft unterhalten und amüsieren, denn er besaß ein großes Erzählertalent, viel Humor und eine gefährliche Gabe Menschen nachzumachen.

Wenn meine Mutter da war, war er froh, denn sie teilte alle seine geistigen Interessen. Viele Stunden konnten sie sich unausgesetzt miteinander unterhalten, nie ging ihnen der Gesprächsstoff aus, und es war sehr interessant ihnen zuzuhören. Seine Liebe zur Musik war groß, denn sie löste alle weichen Regungen in seiner Seele.

Meine Schwägerin war siebzehn Jahre alt, als sie meinen Bruder heiratete, ein zartes, seelisch verwöhntes Kind. Vielleicht war er zu stark für sie und sie zu jung, als sie in die Ehe trat. Sie war sehr still und schüchtern, aber voll Herzensgüte und Freundlichkeit. Wenn sie zutraulich wurde, hatte sie eine entzückende Art von Humor und eine zarte Fröhlichkeit, die ihr einen unendlichen Reiz verlieh. An meiner Mutter hing sie mit großer Verehrung, obschon deren rasche, impulsive Art sie oft einschüchterte. Aber sie wußte, daß meine Mutter sie lieb hatte, und sie erwiderte diese Liebe mit großem Zutrauen und mit Bewunderung. Wir Geschwister hingen an unserer Schwägerin mit Herzlichkeit, sie ließ uns in ihrem Hause völlige Freiheit, erfüllte, soweit es ihr irgend möglich war, unsere Wünsche und hatte großes Verständnis für unsere Art, obschon sie anders war als die ihre.

»Unsere Familie ist dir bestimmt viel zu stark,« sagten wir ihr oft im Scherz, dazu konnte sie fröhlich und kindlich lachen.

Wie herzlich klang auch ihr Lachen, wenn meine Schwester und ich versuchten, sie gegen ihren starken Mann aufzuhetzen, dem sie sich in unendlicher Sanftmut unterordnete, was uns reizte.

»So widersprich ihm doch einmal,« sagte ich, »das würde ihm gut tun.«

Sie schüttelte ein wenig wehmütig den Kopf.

»Das kann man nicht, das geht nicht.«

Sieben Kinder erfüllten allmählich mit ihrem starken Leben das Haus, alle waren mehr oder weniger voll Originalität und manchmal von erschreckender Unartigkeit.

Die Älteste, Klara, hatte eine Art, bei Tisch Fragen zu stellen, die einem das Blut vor Schreck erstarren machten. Sie kannte keine Furcht und ging den Sachen direkt auf den Grund. Die alte, dicke Wärterin Marri litt unter der Unruhe und Energie dieses Kindes, das ihre behaglichen Kreise störte. Um sich ihr Leben nach Wunsch zu gestalten und friedlich in der Ecke mit ihrem Strickstrumpf zu sitzen, ängstigte sie das Kind.

»Das kann man nicht tun, dahin darf man nicht gehn, das darf man nicht anfassen, dann kommt der Kollomatz,« sagte sie mit geheimnisvoller Stimme. Und es gelang ihr wirklich, Klara für kurze Zeit völlig einzuschüchtern, bis sie sich eines Tages besann und den Schrecknissen ohne Ende einen Schluß machte. Sie stellte sich vor die alte Wärterin.

»So,« sagte das kleine, energische Ding, »jetzt ist es genug mit dem Ängstigen, ich will den Kollomatz sehen, bring mich sofort zu ihm.«

Wolfgang, der zweite, war ein eigentümlich sarkastisches, ironisch veranlagtes Kind. Er liebte Streiche zu spielen, zu necken, ja, sogar die Seinigen ein wenig zu ängstigen. Als er ungefähr vier Jahre alt war, verschwand er plötzlich spurlos, er wurde atemlos vom ganzen Hause gesucht, ja sogar die alte Marri geriet in Aufregung. Endlich fand man ihn ganz hinten im Park, wo er in einem trockenen Graben unter einer Brücke kauerte. Er wurde hervorgezogen und von meiner Schwägerin mit Liebkosungen überhäuft, er blieb ganz kaltblütig.

»Ich wollte nur sehen, was ihr machen würdet,« sagte er, »habt ihr schon im Teich nach mir gefischt?«

Karli, der dritte, war ein wunderschönes Kind mit großen, dunklen Augen und einem streng geschnittenen kleinen Gesicht. Er interessierte sich unendlich für Zahlen und Rechenexempel und verfolgte mich mit Problemen.

»Tanta Monika, wie alt würde Methusalems urahnische Großmutter sein, wenn sie jetzt noch leben würde?« fragte er einmal und sah mir dabei so scharf und beobachtend in die Augen, als hätte er mich in meiner Schwäche auf diesem Gebiet durchschaut.

Im Wohnzimmer stand eine große, alte Standuhr, vor der sah man ihn oft auf seinem kleinen Stühlchen sitzen, sie mit ernsten Augen beobachtend. Er hielt jeden Vorübergehenden an, fragte, wieviel die Uhr sei und richtete seinen Blick dann wieder mit intensiver Aufmerksamkeit aufs Zifferblatt. Eines Tages nahm er sein Stühlchen, brachte es wieder zurück ins Kinderzimmer, ging zur Mutter und sagte:

»Jetzt verstehe ich nach der Uhr zu sehen, jetzt könnt ihr mich alle fragen wieviel die Uhr ist.«

Und wirklich legte der kleine Kerl, als mein Bruder ihn examinierte, ein glänzendes Examen ab. Er hatte ganz aus sich heraus gelernt, nach der Uhr zu sehen.

Die beiden Kinder, die dann folgten, Lucie und Edi, waren ganz von der Art meiner Schwägerin: zart, leicht erschrocken und ängstlich, anschmiegend und sehr zärtlicher Natur. Das kleine Mädchen starb früh, Edi war mein großer Liebling. Ich spielte oft mit ihm seine kleinen Kinderspiele, war sein Pferd und ließ mich beim »Räuber und Wanderer« von ihm als Räuber gefangen nehmen, doch war er dabei nicht immer zufrieden mit mir.

»Du wieherst zu laut und schlägst zu stark aus, kannst du nicht ein stilles Pferd sein?«

Als er beim Räuberspiel mich einmal fing, schrie der Gefangene derart laut, daß der kleine Räuber bange wurde.

»Dieses Spiel spielen wir lieber nicht mehr,« schlug er vor, »die Leute im Hause könnten erschrecken und sich fürchten.«

Die kleine Pauline Monika, die darauf folgte, war meine Tauftochter. Sie war ein wildes, durables Kind mit großen, blauen Augen und einer starken Persönlichkeit. Als sie ungefähr drei Jahre alt war, begann sie, die merkwürdigsten Geschichten zu erzählen aus einer Zeit, in der sie eine jüdische Frau gewesen sei.

»Das war, ehe ich nach Maholm kam,« fügte sie erklärend hinzu.

Sie erzählte von einer Stadt, in der sie gelebt hätte, schilderte sich, wie auch ihren Mann und ihre Kinder aufs Genaueste, erzählte, welche Speisen sie für ihre Familie zubereitet und welche Kleider und Hüte sie getragen hätte, deren Machart sie bis ins einzelne angeben konnte. Das sonst völlig unphantastische Kind weinte, wenn die Brüder sie mit ihrer Vergangenheit neckten und ihr nicht glaubten. Es war fast unheimlich, sie so reden zu hören; ganz plötzlich aber hörten diese Erzählungen auf und sie vergaß sie.

Sie war namenlos ungezogen, mir gewährte es eine hohe Genugtuung, sie hinten im Park, wo wir beide ganz einsam waren, einmal mit einer Haselnußgerte durchzuprügeln, merkwürdigerweise gab sie mich nicht an.

Ich erzählte ihr rastlos Geschichten, die recht handfester Natur sein mußten; sie waren oft sehr anzüglich lokal gefärbt und handelten immer von unartigen Kindern und furchtbaren Strafen, die sie ereilten. Sie wurde durch diese Erzählungen unendlich gefesselt, nur liebte sie es nicht, wenn andere Leute sie hörten.

»Komm, wenn du erzählst, in die Lindenlaube,« sagte sie dann flüsternd, »es ist besser so, daß die anderen dich nicht hören.«

Theo, der Jüngste, war ein blasses, stilles Kind; ich habe ihn nicht viel gesehen, denn in den Jahren nach seiner Geburt sind wir nicht mehr regelmäßig nach Maholm gekommen.

Die tyrannische Art meines Bruders forderte meinen größten Widerspruch heraus, der aber von meiner Mutter niedergehalten wurde, so daß er zu meinem Bedauern nie zum Ausbruch kommen konnte. Ich sehnte mich nach einem Kampf mit ihm, aus dem ich fest beschlossen hatte, als Siegerin hervorzugehen.

Die Gelegenheit kam, ich war einmal in der Winterzeit zu einem kurzen Besuch ohne meine Mutter in Maholm. Das Haus war voll kleiner Pensionäre, die von einem Hauslehrer und einer Hauslehrerin mit den eigenen Kindern unterrichtet wurden. Wir lebten fröhlich und friedlich miteinander, bis kurz vor meiner Abreise die heimlich ersehnte Gelegenheit zu einem Kampf mit meinem ältesten Bruder sich bot.

»Morgen ist Geburtstag in Malla,« sagte er beim Mittagessen, »es wird dort eine große Gesellschaft beisammen sein, alle benachbarten Güter kommen. Du fährst mit und singst den Menschen etwas vor!«

Ich ärgerte mich und hob mein Haupt.

»Ich werde dort nicht singen, denn ich fahre nicht mit, ich kenne die Gesellschaft zu wenig, als daß es mir Freude machen könnte, dort zu sein. Außerdem bin ich kein Bänkelsänger, den man überall mitnimmt und zum Singen aufzieht!«

Mein Bruder beachtete meinen Widerspruch so wenig, als wenn ein Huhn gegackert hätte, und wir erhoben uns vom Tisch.

»Du denkst doch nicht einen Augenblick daran, deinen Willen durchzusetzen?« sagte meine Schwägerin erschrocken, »ich rate dir, tue es nicht.«

»Da ich weder seine Frau noch seine Tochter bin,« war meine trotzige Antwort, »brauche ich ihm ja nicht zu gehorchen.«

»Ich rate dir,« sagte meine sanfte Schwägerin, »füge dich beizeiten, du kommst mit deinem Willen nicht durch.«

»Das wollen wir doch mal sehen,« sagte ich.

Beim Abendessen nahm mein Bruder den Kampf wieder auf.

»Was wirst du in Malla singen?« fragte er scheinbar harmlos.

»Nichts,« antwortete ich, »da ich ja nicht hinfahre.«

»Du wirst wohl fahren, selbstverständlich wirst du fahren!«

»Du irrst, was ich gesagt habe, bleibt bestehen.«

Mein Bruder schwieg – ich auch.

Es war mir etwas peinlich, daß die Kinder dabei waren, auch hatten sich der Lehrer und die Lehrerin verstohlen lächelnd angeblickt. Aber zurück konnte ich nicht mehr, und vor allen Dingen – ich wollte es nicht.

Meine Schwägerin redete mir zu in ihrer gütigen Art:

»Gib nach,« sagte sie, »denn sieh, zum Schluß mußt du es doch tun, er wird dich zwingen.«

»Ich tue es nie,« war meine Antwort, »eher sterbe ich! Zwingen kann er mich auch nicht, er müßte mich dann ja binden und mit Gewalt in den Schlitten tragen.«

Ich glaube, die Pensionäre und Lehrer wetteten heimlich miteinander, wer den Sieg davontragen würde.

Am anderen Tage, es war wieder beim Mittagessen, sagte mein Bruder ganz beiläufig:

»Gleich nach dem Kaffee werden die Schlitten bereit sein; sorgt, daß ihr fertig angekleidet seid, damit man nicht zu warten braucht.« Bei den letzten Worten hatte er sich zu mir gewendet.

»Sollte nicht ein Schlitten genügen?« fragte ich, »da ich ja nicht mitfahre.«

Mein Bruder beachtete mich nicht, sondern ging in sein Zimmer. Dann aber kam der große Krach. Als die Schlitten vor der Tür standen, erschien er im Wohnzimmer, ich aber saß friedlich mit einem Buch da und las. Er stellte sich vor mich hin und sagte nichts weiter als: »Nun?«, aber in diesem einen kurzen Wort lag ein Sturm verborgen. Ich hatte mich erhoben, sah ihm gerade in die Augen und schwieg, ich fand es schauerlich schön, so zu kämpfen. Dann brach er los, ich hatte ihn nie so heftig gesehen.

»Du wagst, mir zu widerstehen?« schloß er.

»Ja, bis zu meinem letzten Atemzuge!«

Seine Lippen waren ganz schmal und blaß, dann wandte er sich kurz um, ging geradeswegs ins Vorzimmer, zog seinen Pelz an und stieg schweigend, von seiner Frau gefolgt, in den Schlitten und fuhr ab.

»Wenn er nur nicht stirbt,« ging es mir durch den Sinn.

Ich dachte an meine Mutter, und mir war ein wenig ungemütlich ums Herz, etwa wie Marius auf den Trümmern Karthagos.

Mein Bruder trug mir nichts nach, was ich ihm sehr hoch anrechnete, aber einem Kampf mit mir ist er seitdem aus dem Wege gegangen.


Nicht nur vorübergehende Gäste gab es im gastreichen Maholm, sondern auch ständige, die jeden Sommer ihre Erholung dort fanden, und mein Bruder baute im ohnehin geräumigen Hause noch zwei Zimmer aus, um alle unterbringen zu können. Außer meiner Mutter und uns drei Geschwistern kamen die Mutter meiner Schwägerin, ihre Schwester mit ihrem Mann und ihrer einzigen Tochter als regelmäßige Sommergäste hin.

Die »Revalsche Omama«, so genannt zum Unterschied gegen die Rigasche, war eine bescheidene, unendlich gütige Persönlichkeit, stillschweigend zu jedem Opfer für ihre Kinder und Großkinder bereit, die sie unbeschreiblich verwöhnte. Sie war leicht erschrocken und ängstlich und rührend dankbar für jede Freundlichkeit, die man ihr erwies.

Ihre Tochter, Tante Lina, war eine sehr liebenswürdige Hausgenossin, störte niemand und wandelte ihren eigenen fröhlichen Weg, immer freundlich, immer hilfsbereit und heiter. Sie ging nie allein spazieren, weil sie sich namenlos vor Kühen und Hunden fürchtete.

Ihr Mann war Maler, eine richtige, sorglose Künstlernatur, immer guter Laune und zu Scherzen aufgelegt. Er glich meist den Vögeln unter dem Himmel, die nicht säen und nicht ernten. Dazwischen aber kam die Arbeitswut plötzlich über ihn, dann saß er Tag und Nacht stundenlang vor der Staffelei. Ebenso plötzlich aber schlug die Stimmung wieder um, er rührte keinen Pinsel an, las die Nächte durch und schlief am Tage. Er war der Wetterprophet und wußte es immer, wenn ein Gewitter in der Luft lag. Dann ging er sorgenvoll im Hof umher und beobachtete den Horizont.

»Es braut sich was,« sagte er.

Die einzige Tochter war ein richtiges, von der Mutter verwöhntes Backfischchen. Sie schrieb an ihrem Tagebuch, schwärmte für einen Pastor in Reval, dessen Predigten sie nachgeschrieben hatte und im Sommer ausarbeitete.

Eine merkwürdige Gouvernante lernten wir bei meinen Geschwistern kennen, die den unfaßlichen Namen Olympia Jehudia Schaffter trug. Ihre Hauptaufgabe war eigentlich, mit den Kindern französisch zu sprechen, wozu sie aber durch nichts zu überreden war.

»Wie soll ich mit ihnen Französisch sprechen, da sie es ja nicht verstehen,« sagte sie entrüstet.

Dabei blieb es, und keiner konnte sich rühmen, je ein französisches Wort von ihren Lippen vernommen zu haben. Eine Lebensliebe erfüllte ihr Herz, und das war die Liebe zu einem kleinen schwarz und weiß gefleckten Hund Tommy. Sie bestand darauf, ihn auf allen Ausflügen mitzunehmen, und hatte dann doch nur Leiden davon, denn mein Bruder Karl brachte ihn in beständige Lebensgefahr. Bald hielt er ihn über den steilen Abhang des Glints, wo er mit vor Angst hervorquellenden Augen mit allen vier kleinen Beinen in der Luft ruderte. Bald setzte er ihn bei der Landfahrt aus, keuchend mußte er dann im Staube der Landstraße hinter dem Wagen herlaufen – immer hatte er eine Qual für das arme, kleine Tier bereit, was Fräulein Schaffter mit Verzweiflung erfüllte.

»So lassen Sie ihn doch zu Hause,« schlug ich ihr einmal vor.

»Das kann ich nicht, das wage ich nicht,« war ihre kummervolle Antwort. »Ohne meine Aufsicht martern ihn da wieder die zu Hause gebliebenen Kinder.«

Sie hatte den kleinen Hund so gemästet, daß er ständig an Luftmangel litt und Anfälle bekam, er litt wohl an Herzverfettung; und bei jedem solchen Anfall erwartete sie jammernd seinen Tod.

Wie friedlich und heiter flossen die Tage hin, richtige goldene Ferienzeiten voll harmloser Fröhlichkeit! Es wurde viel gemeinsam gelesen, Musik gemacht, jeder tat und trieb in völliger Freiheit das, wozu er gerade Lust hatte.

Nach dem Abendessen versammelte sich alles zu einem großen gemeinsamen Spaziergang über die Landstraße dem Sonnenuntergang entgegen. Die Gegend war ganz flach, Wiesen und Felder reihten sich aneinander, kleine Bauerndörfer mit strohgedeckten Häusern unterbrachen die grüne Ebene, Windmühlen zeichneten ihre scharfen Silhouetten in den klaren Abendhimmel. Mein Bruder freute sich an seinen Wiesen und Feldern, sprach von seiner Ernte, erzählte von seinen Bauern, dazwischen sangen wir.

Ich sehe noch so deutlich unsere ganze Gesellschaft vor mir auf der hellen Landstraße: plaudernd, lachend, diskutierend; meine Mutter hatte immer ihr Strickzeug in den fleißigen Händen, ich sehe ihr schönes, klares Gesicht mit dem frühergrauten Haar und den strahlenden Augen; meinen ältesten Bruder mit dem eigenartigen Charakterkopf und der mächtigen, kantig ausgearbeiteten Stirn, die er von unserem Ahnherrn, dem Reformator Lübecks, Nikolaus Hunnius, geerbt hatte; meinen Bruder Karl, den Studenten der Theologie, mit seinem edlen Profil in beständiger Diskussion mit unserem Ältesten, Tommy marternd oder Tante Lina neckend, in deren Blicken immer eine leise Sorge zu lesen war, denn sie fürchtete beständig den unerwarteten Überfall eines Bauernhundes oder die Begegnung einer Kuh. Und all die anderen sehe ich, groß und klein, alt und jung, jeder einzelne die friedevollen Ferienzeiten genießend. Auf so manchem aus diesem Kreise lastete der Alltag schwer, aber ein jeder hatte für diese kurze Zeit seine Sorgenlast beiseite gestellt. Und über allem lag die große Einsamkeit unserer estländischen Landschaft und das Licht unserer nordischen Sommerabende.

Dazwischen ließ mein Bruder die große Liniendroschke anspannen, auf der die ganze Familie Platz hatte. Man saß in zwei Reihen, Rücken an Rücken, darauf, atembeklemmend aneinandergepreßt, mit Vorratskörben reichlich versehen. Unser Ziel war gewöhnlich ein Flußtal, das tief in die Wiesen und Felder einschnitt, und dessen Abhänge waldbewachsen waren. Dort lagerte man sich, atmete die wunderbare Waldluft und freute sich an der schönen Aussicht.

Am glücklichsten aber waren wir, wenn es an den Glint ging, diese merkwürdige Naturbildung des estländischen Strandes: das ganz flache Land fällt plötzlich steil zum Meere ab. Da saß man am Rande des Glints, tief unten rauschten und brandeten die Wellen, und der Blick ging weit über die blaue, schimmernde Fläche hin bis zum Horizont, an dem die Schiffe langsam, majestätisch ihre Bahn zogen. Nur in Rügen habe ich noch ähnliche Uferbildungen gesehen wie hier.

Ich ging mit meiner ältesten Nichte Klara, die allmählich herangewachsen war, gerne spazieren. Sie war ein kluger Backfisch mit ganz eigenartigen Anschauungen über das Leben und die Menschen. Zu mir hatte sie Vertrauen und kam mit all ihren Gedanken heraus. Wir wanderten auch oft beim Mondschein heimlich über Land mit einem großen Neufundländer als einzigem Schutz und Begleiter. Wie wunderbar waren diese Gänge durch die unermeßlichen Wiesen und Kornfelder in dem großen Schweigen um uns, die ganze Welt in silbernes Mondlicht gebadet. Manchmal kamen wir erst heim, wenn das Morgenrot schon am Horizont empordämmerte. Niemand wußte von diesen Ausflügen, und das Heimliche war eigentlich das Schönste dabei.

Noch ein Geheimnis hatten wir miteinander: ein großes Nest von Heu, das wir uns mitten im Kornfeld zusammengetragen hatten. Durch die Furchen schlichen wir uns dorthin, legten uns hinein, beobachteten stundenlang das seltsame Leben im Felde, sahen durch die goldenen Ähren in den blauen Sommerhimmel, an dem die lichten Wolken hinzogen und horchten auf die Lerchen, die nimmermüden, die jubelnd in der klaren Sommerluft verschwanden.

Keiner wußte von dem Nest, das Korn wurde geschnitten, da kam alles an den Tag: mein Bruder erzählte einmal bei Tisch ganz erregt, die Leute hätten beim Roggenschnitt ein großes Nest aus Heu mitten im Felde gefunden. Der Aufseher behaupte, es müsse irgend ein Tier, vielleicht ein Wolf, gewesen sein, der sich seine Lagerstatt dort bereitet habe.

»Das ist natürlich ein Unsinn,« schloß mein Bruder. »Ich aber denke, daß es am Ende Landstreicher gewesen sind, die auf eine günstige Gelegenheit warteten, um einen Diebstahl im Pastorat auszuführen.«

Da konnten wir aber unser Lachen nicht unterdrücken und mußten alles gestehen.

»Das verbitte ich mir für die Zukunft,« sagte mein Bruder ein wenig ärgerlich, »ihr zertrampelt ja meinen Roggen, denkt an den Schaden, den ihr mir macht.«

»Wir essen ein ganzes Brot weniger im nächsten Sommer,« gelobten wir feierlich.

»Das werdet ihr bestimmt nicht halten,« meinte meine Mutter skeptisch.


Mein Bruder braucht Geld und plant ein Kirchenkonzert; die schöne, kleine Orgel, die durch seine beispiellose Energie angeschafft wurde, ist noch nicht völlig bezahlt, die fehlende Summe soll das Konzert einbringen.

Am Morgen beim Kaffeetisch legt er uns seinen Plan vor, der mit großer Wärme von der ganzen Familie aufgenommen wird. Ein Brief an einen tüchtigen Organisten in Reval ist bereits geschrieben, das Programm wird besprochen: einige Orgelsoli, einige Gesangsnummern von mir stehen fest, nun wollen wir noch einen jungen Studenten von einem Nachbargut auffordern, der eine schöne Baritonstimme hat, und mit dem ich eine Duettgruppe singen soll. Mein Bruder ist Feuer und Flamme, für seine tatkräftige Natur ist es willkommene Arbeit, und wir alle freuen uns über die Abwechslung in unserem stillen Landleben.

Die Sache nimmt einen günstigen Verlauf: der Organist in Reval sagt bereitwillig zu, auch der Bariton fühlt sich sehr geehrt, daß er mitsingen darf. Am Tage vor dem Konzert werden der Orgelstimmer und der Organist erwartet, aber schon zwei Tage vorher hält an der Pastoratstreppe ein Bauernwägelchen, auf dem Stroh sitzt ein Mann mit einem riesigen, baumwollenen Regenschirm und einem großen Kasten und schwenkt seinen Hut zur Begrüßung. Er klettert aus dem Wagen, wobei er seinen Regenschirm und seinen Kasten nicht aus der Hand läßt und stellt sich als Orgelstimmer vor; er ist total betrunken.

»Und wenn der Deiwel in die Orgel sitzt,« sagt er in seinem unverfälschten Estnisch-Deutsch, »ich hol ihm heraußer! Ich bin besser früher gekommen, nichts für ungut.«

Er wird in ein Zimmer des Konfirmandenhauses gebracht, wo er vor allem seinen Rausch ausschlafen soll. Er trennt sich nicht für einen Augenblick von seinem Instrumentenkasten und seinem dicken Regenschirm.

»Es fängt gut an,« sagt meine Mutter trocken.

Mein Bruder ist sorgenvoll.

»Wenn er nur meine Orgel nicht verdirbt.«

Nach einigen Stunden erscheint der Mann ein wenig beschämt, völlig ausgeschlafen und geht an die Arbeit. Eine große Sorge ist mit ihm ins Haus gekommen, er muß beim Stimmen scharf beaufsichtigt werden, denn er verschwindet bei jeder Gelegenheit im Kruge, von wo er sehr animiert herauskommt und fröhlich erklärt, er wäre dem Deiwel schon auf der Spur.

»Wer weiß, wie der Künstler ist,« sagt meine Schwägerin skeptisch.

Wir sitzen alle auf der Verandatreppe und erwarten ihn; der Wagen, der ihn bringen soll, ist bereits abgeschickt.

»Wenn er sich nur nicht verspätet hat,« sage ich, »bei Künstlern ist alles möglich.«

Da sieht man die Kalesche auf der Landstraße schnell daherkommen, und bald hält sie vor der Tür. Mein Bruder und meine Schwägerin stehen auf den Stufen der Treppe und empfangen den Künstler, der langsam und ungeschickt, riesengroß und schmalschultrig, aussteigt. Er ist tief brünett, hat große Hände und Füße, schlechtsitzende Kleider und ein hilfloses Benehmen. Aber wenn er die Augen aufschlägt und einen mit hellem, treuherzigem Kinderblick anschaut, gewinnt er aller Herzen. Man sieht, er ist ein Mensch, ohne Falsch, ein Riese, ein ungelenker, ausländischer Bär mit einer schlichten Kinderseele und einem gütigen Herzen.

»Es war wunderschön in der Chaise zu fahren!« sagt er begeistert.

Sein Dialekt ist so drollig, daß man die Kinder zuerst fortschicken muß, weil sie fassungslos über ihn lachen. Nach einer kurzen Weile hatte er das ganze Haus für sich gewonnen, namentlich die Kinder hingen wie verzaubert an ihm. Ich glaube, es war nicht allein seine Herzensgüte, sondern vor allem sein Dialekt, der sie so bestrickte. Er erzählte ihnen rastlos Geschichten von einem Bär, der in das Nest eines Zaunkönigs »juckte«, sprach von einer »jaffenden Menge« und von einem Wolf, der mit einem Bären »jejangen« wäre.

Nachdem er sich ausgeruht hatte, zog die ganze Familie zur Kirche, um ihm die Orgel zu zeigen. Alle Kinder gingen mit, auch die, die sich noch kaum auf den kleinen Beinen halten konnten. Dort wartete unser eine unangenehme Überraschung: die Kirchentür stand weit offen, die Orgel war teilweise auseinandergenommen, und der Stimmer spurlos verschwunden, nur sein Regenschirm, sein teuerster Besitz, lehnte an der Orgelbank. Mein Bruder, der Student, erschien bald mit dem Sünder, der wie immer im Kruge gesessen hatte.

»Von jetzt ab wird er unter Aufsicht arbeiten,« entschied der Organist energisch.

Endlich war die Orgel soweit instand gesetzt, daß wir an eine Probe denken konnten, vor allem wollte ich meine Sachen mit dem Begleiter durchnehmen. Die Probe fiel günstig aus, der Organist schüttelte mir die Hand, daß er sie fast aus dem Gelenk riß, und gratulierte mir zu meiner Stimme. Ungeachtet seines Enthusiasmus sah er mich aber durchaus als seine Privatbedienung an und jagte mich atemlos auf dem Orgelchor umher.

»Pst, pst,« kommandierte er, »hören's mol, langen's mir emol meine Noten her. – Falsch, besser aufgepaßt! 's annere Heft!«

Man kam gar nicht aus dem Lachen über ihn heraus.

Es gab noch viel Aufregung bis zum Anfang des Konzerts, die Orgel war immer noch nicht ganz in Ordnung, obschon die ersten Konzertbesucher in den Pastoratshof fuhren, und Organist und Stimmer krochen noch in Hemdsärmeln auf dem Orgelpodium umher, als die ersten Zuhörer schon ihre Plätze einnahmen.

Endlich war alles bereit, und das Konzert begann mit einer prachtvollen Fuge von Bach. Das große, ungelenke Kind war ein feiner Künstler, der seine Orgel gut kannte und seine Kunst mit heiliger Begeisterung ausübte. Es ging eine große Kraft von ihm aus, die uns Sänger auch mit auf ihre Flügel nahm, daß wir unser Bestes gaben. Tief befriedigt gingen die Zuhörer auseinander, die ganze Nachbarschaft war vollzählig erschienen. Mein Bruder war glücklich, denn mit der guten Einnahme des Konzerts konnte er die Schuldenlast, die auf der Orgel lag, vollständig tilgen.

Noch in der Nacht mußte unser Künstler wieder abreisen, vorher aber gab es ein festliches Abendessen und dann einen Punsch, den mein Bruder gebraut hatte. Der Organist war vollständig aufgelöst vor Dankbarkeit und Freude über alles und jedes: über das Konzert, über unsere Freude an seinem Spiel, über das gute, festliche Abendessen und über den Punsch. Das Herz ging ihm auf, und er erzählte aus seinem Leben und von seiner freudlosen, einsamen Kindheit: seine Mutter hatte er früh verloren, sein Vater kümmerte sich nicht viel um ihn, und die Wirtschafterinnen »schwammen bald ab,« wie er sich ausdrückte, »wenn sie merkten, daß sie sich einen Korb bei meinem Vater holten.«

Er hatte dabei Tränen in den Augen, und mein Bruder, der ihn auf andere Gedanken bringen wollte, schlug vor:

»Wollen wir singen: »Wir sitzen so fröhlich beisammen und haben einander so lieb.«

Wie ein Löwe sang der Organist mit, aber beim Schluß: »Ach, wenn es doch immer so blieb!« brach er gerührt ab und holte sein Taschentuch hervor.

»Ja, Sie habens gut,« sagte er, als wir geendet hatten, »Sie verstehen zu leben und zu lieben,« nahm einen tüchtigen Schluck aus seinem Punschglase und wurde dann wieder vergnügt.

Der Wagen stand vor der Tür, und er mußte Abschied nehmen. Er faßte nach links und nach rechts nach unseren Händen, dankte immer wieder für die unvergeßlichen Tage, schwor, er hätte nirgends solch einen Punsch getrunken, und nie so gern gespielt wie hier. Er war so aufgeregt, daß er alles vergaß:

»Himmelsakramenter, hätte ich doch fast meine Noten vergessen,« schrie er, indem er aus einem Zimmer ins andere stürzte. »Tausend noch eins, wo ist mein Überzieher! Mein Gott und Vater, ich hab ihn doch noch heut nachmittag g'habt!«

»Es ist alles schon im Wagen,« sagte meine Schwägerin beruhigend, »nun steigen Sie ein, sonst kommen Sie zum Zuge zu spät.«

»Darf ich wirklich wieder in der Chaise fahren? das ist mir eine Freude!« rief er.

Endlich hatte er seine langen Gliedmaßen glücklich im Wagen untergebracht, wir sangen nach alter heimatlicher Sitte das Abschiedslied:

»Nun leb wohl, du kleine Gasse,«

dann winkte eine riesengroße Hand ein letztes Lebewohl, und der Wagen fuhr ab. Wir hörten noch lange durch die Stille der Nacht das Rollen der Räder auf der einsamen Landstraße.


Es kam eine Zeit, in der unsere fröhlichen Sommerfahrten nach Maholm ein Ende haben mußten: meine Mutter erkrankte, und viele Jahre Siechtums fesselten sie ganz an ihr Bett. Nach ihrem Tode besuchte ich das Geschwisterhaus, ich hatte Sehnsucht den Ort wiederzusehen, wo wir mit unserer Mutter viele Jahre frohe Ferienzeiten verlebt hatten. Ich fand eine große Veränderung: ein schwerer Druck lastete auf dem Hause, und der Druck ging von meinem Bruder aus: er war wunderlich geworden, und alle Kanten und Ecken seines Wesens traten stärker hervor als je. Er war ganz versponnen in seine Gedankenwelt, hatte kaum einen Zusammenhang mit seiner Umgebung, und es lag dadurch etwas Traurig-Einsames über ihm. Sein Garten, in dem er früher mit so viel Freude gearbeitet hatte, war vernachlässigt, um seine Landwirtschaft kümmerte er sich kaum noch, ich hatte das Gefühl, als wenn seine Seele krank wäre. Mit einem schmerzlichen Eindruck verließ ich dieses Mal das Geschwisterhaus wie mit einer dunklen Ahnung, die sich bald erfüllen sollte. Ich hatte meinen Bruder zum letzten Mal gesehen, er konnte die Last des Lebens nicht mehr tragen und warf sie ab. Vernichtend traf uns die Nachricht seines plötzlichen Todes.

Wir dachten zuerst, meine Schwägerin würde den Schlag nicht überleben, aber die Liebe ihrer Kinder, denen sie sehr nötig war, führte sie wieder ins Leben zurück. Viele Beweise der Teilnahme von nah und fern wurden ihr gebracht und taten ihr wohl. Ganz besonders ergreifend aber war die Anhänglichkeit der Bauern an ihren alten Pastor und die Dankbarkeit, mit der sie sein Andenken ehrten.

»Er hat viel für uns getan,« sagte ein Bauer an seinem Grabe, »er hat zu viel gearbeitet, deshalb wurde er krank und mußte sterben.«

Als der Nachfolger seine Probepredigt gehalten hatte, zog die versammelte Gemeinde in großer Aufregung vors Pastorat und verlangte meine Schwägerin zu sprechen. Sie trat von ihren Kindern umgeben aus der Haustür.

»Was wollt ihr?« rief sie in die aufgeregte Menge, »warum habt ihr euch hier versammelt?«

»Wir wollen den neuen Pastor nicht haben,« war die stürmische Antwort.

»Ihr bekommt einen guten Prediger,« rief meine Schwägerin wieder. »Denkt an euren alten Pastor und wie traurig er über euch sein würde. Geht nach Hause, ich bitte euch darum.«

Da trat ein Bauer vor und sprach im Namen der Versammelten:

»Wir wollen den ältesten Sohn unseres Pastors zu seinem Nachfolger haben und keinen Fremden.«

»Ihr wißt,« war die Antwort meiner Schwägerin, »daß er ein Doktor ist, er kann euer Pastor nicht sein.«

»Das macht nichts,« entgegnete der Bauer, »wir nehmen auch einen Doktor, er ist klug, und das bißchen Predigen lernt er schon bald.«

Nur mühsam ließen die Leute sich beruhigen und verließen dann den Pastoratshof.

 

Ehe meine Schwägerin und die Kinder, die nun alle erwachsen waren, die Heimat verließen, besuchte ich sie noch einmal: ich wollte von dem Ort Abschied nehmen, in dem so viele liebe und sonnige Erinnerungen aus der Jugendzeit lebten. Wohl waren es Tage voller Schmerzen, aber auch voller Liebe und Frieden. Wir besuchten all die Stellen, die wir liebten: fuhren an den Glint, suchten das Flußtal auf mit seinen rauschenden Tannen und den weiten Fernblicken, wanderten wie früher über die Landstraße dem Sonnenuntergang entgegen, sprachen von alten Zeiten, von den Lieben, die früher mit uns gewandert waren, und die dunklen Schatten wichen vor dem Licht der Erinnerungen.

Dann mußte ich abreisen; unser letzter Gang war auf den Friedhof. Der Herbst war über Nacht gekommen, aber es war ein leuchtender Herbst ohne Sturm und voller Klarheit. Golden lagen die Blätter der Birken und Ahornbäume auf unserem Wege und rauschten leise, als unser Fuß über sie hinschritt. Dann standen wir am Grabe unseres Heimgegangenen, dem die Last des Lebens so schwer geworden war, daß er den Mut verloren hatte, sie weiterzutragen.

»Ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten,« klang es in mir, als sich die Kirchhofspforte hinter uns schloß.



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