Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Eine nähere Veranlassung, Verbrechen durch Unterdrückung der in dem Charakter liegenden Ursachen derselben zu verhüten, hat der Staat bei denjenigen, welche durch wirkliche Übertretungen der Gesetze gerechte Besorgnis für die Zukunft erwecken. Daher haben auch die denkendsten neueren Gesetzgeber versucht, die Strafen zugleich zu Besserungsmitteln zu machen. Gewiß ist es nun, daß nicht bloß von der Strafe der Verbrecher schlechterdings alles entfernt werden muß, was irgend der Moralität derselben nachteilig sein könnte, sondern daß ihnen auch jedes Mittel, das nur übrigens nicht dem Endzweck der Strafe zuwider ist, freistellen muß, ihre Ideen zu berichtigen und ihre Gefühle zu verbessern. Allein auch dem Verbrecher darf die Belehrung nicht aufgedrungen werden; und wenn dieselbe schon eben dadurch Nutzen und Wirksamkeit verliert, so läuft ein solches Aufdringen auch den Rechten des Verbrechers entgegen, der nie zu etwas mehr verbunden sein kann, als die gesetzmäßige Strafe zu leiden.

Ein völlig spezieller Fall ist noch der, wo der Angeschuldigte zwar zuviel Gründe gegen sich hat, um nicht einen starken Verdacht auf sich zu laden, aber nicht genug, um verurteilt zu werden. (Absolutio ab instantia.) Ihm alsdann die völlige Freiheit unbescholtener Bürger zu verstatten macht die Sorgfalt für die Sicherheit bedenklich, und eine fortdauernde Aufsicht auf sein künftiges Betragen ist daher allerdings notwendig. Indes eben die Gründe, welche jedes positive Bemühen des Staats bedenklich machen und überhaupt anraten, an die Stelle seiner Tätigkeit lieber, wo es geschehen kann, die Tätigkeit einzelner Bürger zu setzen, geben auch hier der freiwillig übernommenen Aufsicht der Bürger vor einer Aufsicht des Staats den Vorzug; und es dürfte daher besser sein, verdächtige Personen dieser Art sichere Bürgen stellen zu lassen, als sie einer unmittelbaren Aufsicht des Staats zu übergeben, die nur in Ermanglung der Bürgschaft eintreten müßte. Beispiele solcher Bürgschaften gibt auch, zwar nicht in diesem, aber in ähnlichen Fällen, die englische Gesetzgebung.

Die letzte Art, Verbrechen zu verhüten, ist diejenige, welche, ohne auf ihre Ursachen wirken zu wollen, nur ihre wirkliche Begehung zu verhindern bemüht ist. Diese ist der Freiheit am wenigsten nachteilig, da sie am wenigsten einen positiven Einfluß auf die Bürger hervorbringt. Indes läßt auch sie mehr oder minder weite Schranken zu. Der Staat kann sich nämlich begnügen, die strengste Wachsamkeit auf jedes gesetzwidrige Vorhaben auszuüben, um dasselbe vor seiner Ausführung zu verhindern; oder er kann weiter gehen und solche an sich unschädliche Handlungen untersagen, bei welchen leicht Verbrechen entweder nur ausgeführt oder auch beschlossen zu werden pflegen. Dies letztere greift abermals in die Freiheit der Bürger ein, zeigt ein Mißtrauen des Staats gegen sie, das nicht bloß auf ihren Charakter, sondern auch für den Zweck selbst, der beabsichtet wird, nachteilige Folgen hat, und ist aus eben den Gründen nicht ratsam, welche mir die vorhin erwähnten Arten, Verbrechen zu verhüten, zu mißbilligen schienen. Alles, was der Staat tun darf und mit Erfolg für seinen Endzweck und ohne Nachteil für die Freiheit der Bürger tun kann, beschränkt sich daher auf das erstere, auf die strengste Aufsicht auf jede entweder wirklich schon begangene oder erst beschlossene Übertretung der Gesetze; und da dies nur uneigentlich den Verbrechen zuvorkommen genannt werden kann, so glaube ich behaupten zu dürfen, daß ein solches Zuvorkommen gänzlich außerhalb der Schranken der Wirksamkeit des Staats liegt. Desto emsiger aber muß derselbe darauf bedacht sein, kein begangenes Verbrechen unentdeckt, kein entdecktes unbestraft, ja nur gelinder bestraft zu lassen, als das Gesetz es verlangt. Denn die durch eine ununterbrochene Erfahrung bestätigte Überzeugung der Bürger, daß es ihnen nicht möglich ist, in fremdes Recht einzugreifen, ohne eine gerade verhältnismäßige Schmälerung des eignen zu erdulden, scheint mir zugleich die einzige Schutzmauer der Sicherheit der Bürger und das einzige untrügliche Mittel, unverletzliche Achtung des fremden Rechts zu begründen. Zugleich ist dieses Mittel die einzige Art, auf eine des Menschen würdige Weise auf den Charakter desselben zu wirken, da man den Menschen nicht zu Handlungen unmittelbar zwingen oder leiten, sondern allein durch die Folgen ziehen muß, welche der Natur der Dinge nach aus seinem Betragen fließen müssen. Statt aller zusammengesetzteren und künstlicheren Mittel, Verbrechen zu verhüten, würde ich daher nie etwas anders als gute und durchdachte Gesetze, in ihrem absoluten Maße den Lokalumständen, in ihrem relativen dem Grade der Immoralität der Verbrecher genau angemessene Strafen, möglichst sorgfältige Aufsuchung jeder vorgefallenen Übertretung der Gesetze und Hinwegräumung aller Möglichkeit auch nur der Milderung der richterlich bestimmten Strafe vorschlagen. Wirkt dies freilich sehr einfache Mittel, wie ich nicht leugnen will, langsam, so wirkt es dagegen auch unfehlbar, ohne Nachteil für die Freiheit und mit heilsamem Einfluß auf den Charakter der Bürger. Ich brauche mich nun nicht länger bei den Folgen der hier aufgestellten Sätze zu verweilen, wie z. B. bei der schon öfter bemerkten Wahrheit, daß das Begnadigungs-, selbst das Milderungsrecht des Landesherrn gänzlich aufhören müßte. Sie lassen sich von selbst ohne Mühe daraus herleiten. Die näheren Veranstaltungen, welche der Staat treffen muß, um begangene Verbrechen zu entdecken oder erst beschlossenen zuvorzukommen, hängen fast ganz von individuellen Umständen spezieller Lagen ab. Allgemein kann hier nur bestimmt werden, daß derselbe auch hier seine Rechte nicht überschreiten und also keine der Freiheit und der häuslichen Sicherheit der Bürger überhaupt entgegenlaufende Maßregeln ergreifen darf. Hingegen kann er für öffentliche Orte, wo am leichtesten Frevel verübt werden, eigene Aufseher bestellen, Fiskale anordnen, welche, vermöge ihres Amts, gegen verdächtige Personen verfahren, und endlich alle Bürger durch Gesetze verpflichten, ihm in diesem Geschäfte behilflich zu sein und nicht bloß beschlossene und noch nicht begangene Verbrechen, sondern auch schon verübte und ihre Täter anzuzeigen. Nur muß er dies letztere, um nicht auf den Charakter der Bürger nachteilig zu wirken, immer nur als Pflicht fordern, nicht durch Belohnungen oder Vorteile dazu anreizen; und selbst von dieser Pflicht diejenigen entbinden, welche derselben kein Genüge leisten könnten, ohne die engsten Bande dadurch zu zerreißen.

Endlich muß ich noch, ehe ich diese Materie beschließe, bemerken, daß alle Kriminalgesetze, sowohl diejenigen, welche die Strafen, als diejenigen, welche das Verfahren bestimmen, allen Bürgern ohne Unterschied vollständig bekanntgemacht werden müssen. Zwar hat man verschiedentlich das Gegenteil behauptet und sich des Grundes bedient, daß dem Bürger nicht die Wahl gelassen werden müsse, mit dem Übel der Strafe gleichsam den Vorteil der gesetzwidrigen Handlung zu erkaufen. Allein – die Möglichkeit einer fortdauernden Verheimlichung auch einmal angenommen – so unmoralisch auch eine solche Abwägung in dem Menschen selbst wäre, der sie vornähme, so darf der Staat und überhaupt ein Mensch dem andren dieselbe doch nicht verwehren. Es ist im vorigen, wie ich hoffe, hinlänglich gezeigt worden, daß kein Mensch dem andren mehr Übel als Strafe zufügen darf, als er selbst durch das Verbrechen gelitten hat. Ohne gesetzliche Bestimmung müßte also der Verbrecher so viel erwarten, als er ohngefähr seinem Verbrechen gleich achtete; und da nun diese Schätzung bei mehreren Menschen zu verschieden ausfallen würde, so ist sehr natürlich, daß man ein festes Maß durch das Gesetz bestimme und daß also zwar nicht die Verbindlichkeit, Strafe zu leiden, aber doch die, bei Zufügung der Strafe nicht willkürlich alle Grenzen zu überschreiten, durch einen Vertrag begründet sei. Noch ungerechter aber wird eine solche Verheimlichung bei dem Verfahren zur Aufsuchung der Verbrechen. Da könnte sie unstreitig zu nichts andrem dienen, als Furcht vor solchen Mitteln zu erregen, die der Staat selbst nicht anwenden zu dürfen glaubt, und nie muß der Staat durch eine Furcht wirken wollen, welche nichts anders unterhalten kann, als Unwissenheit der Bürger über ihre Rechte oder Mißtrauen gegen seine Achtung derselben.

Ich ziehe nunmehr aus dem bisher vorgetragenen Räsonnement folgende höchste Grundsätze jedes Kriminalrechts überhaupt:

1. Eins der vorzüglichsten Mittel zur Erhaltung der Sicherheit ist die Bestrafung der Übertreter der Gesetze des Staats. Der Staat darf jede Handlung mit einer Strafe belegen, welche die Rechte der Bürger kränkt, und, insofern er selbst allein aus diesem Gesichtspunkt Gesetze anordnet, jede, wodurch eines seiner Gesetze übertreten wird.

2. Die härteste Strafe darf keine andre als die nach den individuellen Zeit- und Ortverhältnissen möglichst gelinde sein. Nach dieser müssen alle übrige gerade in dem Verhältnis bestimmt sein, in welchem die Verbrechen, gegen welche sie gerichtet sind, Nichtachtung des fremden Rechts bei dem Verbrecher voraussetzen. So muß daher die härteste Strafe denjenigen treffen, welcher das wichtigste Recht des Staats selbst, eine minder harte denjenigen, welcher nur ein gleich wichtiges Recht eines einzelnen Bürgers gekränkt, eine noch gelindere endlich denjenigen, welcher bloß ein Gesetz übertreten hatte, dessen Absicht es war, eine solche bloß mögliche Kränkung zu verhindern.

3. Jedes Strafgesetz kann nur auf denjenigen angewendet werden, welcher dasselbe mit Vorsatz oder mit Schuld übertrat, und nur in dem Grade, in welchem er dadurch Nichtachtung des fremden Rechts bewies.

4. Bei der Untersuchung begangener Verbrechen darf der Staat zwar jedes dem Endzweck angemessene Mittel anwenden, hingegen keines, das den bloß verdächtigen Bürger schon als Verbrecher behandelte, noch ein solches, das die Rechte des Menschen und des Bürgers, welche der Staat auch in dem Verbrecher ehren muß, verletzte oder das den Staat einer unmoralischen Handlung schuldig machen würde.

5. Eigene Veranstaltungen, noch nicht begangene Verbrechen zu verhüten, darf sich der Staat nicht anders erlauben, als insofern dieselben die unmittelbare Begehung derselben verhindern. Alle übrige aber, sie mögen nun den Ursachen zu Verbrechen entgegenarbeiten oder an sich unschädliche, aber leicht zu Verbrechen führende Handlungen verhüten wollen, liegen außerhalb der Grenzen seiner Wirksamkeit. Wenn zwischen diesem und dem bei Gelegenheit der Handlungen des einzelnen Menschen S. 128 aufgestellten Grundsatz ein Widerspruch zu sein scheint, so muß man nicht vergessen, daß dort von solchen Handlungen die Rede war, deren Folgen an sich fremde Rechte kränken können, hier hingegen von solchen, aus welchen, um diese Wirkung hervorzubringen, erst eine zweite Handlung entstehn muß. Verheimlichung der Schwangerschaft also, um dies an einem Beispiel deutlich zu machen, dürfte nicht aus dem Grunde verboten werden, den Kindermord zu verhüten (man müßte denn dieselbe schon als ein Zeichen des Vorsatzes zu demselben ansehen), wohl aber als eine Handlung, welche an sich und ohnedies dem Leben und der Gesundheit des Kindes gefährlich sein kann.


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