Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Der Widerspruch, in welchen die hier aufgeführten Gründe und Gegengründe zu verwickeln schienen, löst sich, dünkt mich, durch die Betrachtung, daß eine letztwillige Verordnung zweierlei Bestimmungen enthalten kann, 1. wer unmittelbar der nächste Besitzer des Nachlasses sein, 2. wie er damit schalten, wem er ihn wiederum hinterlassen und wie es überhaupt in der Folge damit gehalten werden soll, und daß alle vorhin erwähnte Nachteile nur von der letzteren, alle Vorteile hingegen allein von der ersteren gelten. Denn haben die Gesetze nur, wie sie allerdings müssen, durch gehörige Bestimmung eines Pflichtteils Sorge getragen, daß kein Erblasser eine wahre Unbilligkeit oder Ungerechtigkeit begehen kann, so scheint mir von der bloß wohlwollenden Meinung, jemanden noch nach seinem Tode zu beschenken, keine sonderliche Gefahr zu befürchten zu sein. Auch werden die Grundsätze, nach welchen die Menschen hierin verfahren werden, zu einer Zeit gewiß immer ziemlich dieselben sein, und die größere Häufigkeit oder Seltenheit der Testamente wird dem Gesetzgeber selbst zugleich zu einem Kennzeichen dienen, ob die von ihm eingeführte Intestaterbfolge noch passend ist oder nicht. Dürfte es daher vielleicht nicht ratsam sein, nach der zwiefachen Natur dieses Gegenstandes, auch die Maßregeln des Staats in Betreff seiner zu teilen, auf der einen Seite zwar jedem zu gestatten, die Einschränkung in Absicht des Pflichtteils ausgenommen, zu bestimmen, wer sein Vermögen nach seinem Tode besitzen solle, aber ihm auf der andern zu verbieten, gleichfalls auf irgendeine nur denkbare Weise zu verordnen, wie derselbe übrigens damit schalten oder walten solle? Leicht könnte nun zwar das, was der Staat erlaubte, als ein Mittel gemißbraucht werden, auch das zu tun, was er untersagte. Allein diesem müßte die Gesetzgebung durch einzelne und genaue Bestimmungen zuvorzukommen bemüht sein. Als solche Bestimmungen ließen sich z. B., da die Ausführung dieser Materie nicht hiehergehört, folgende vorschlagen, daß der Erbe durch keine Bedingung bezeichnet werden dürfte, die er nach dem Tode des Erblassers vollbringen müßte, um wirklich Erbe zu sein; daß der Erblasser immer nur den nächsten Besitzer seines Vermögens, nie aber einen folgenden ernennen und dadurch die Freiheit des früheren beschränken dürfte; daß er zwar mehrere Erben ernennen könnte, aber dies nicht geradezu tun müßte; eine Sache zwar dem Umfange, nie aber den Rechten nach, z. B. Substanz und Nießbrauch, teilen dürfte usf. Denn hieraus, wie auch aus der hiermit nah verbundnen Idee, daß der Erbe den Erblasser vorstellt – die sich, wenn ich mich nicht sehr irre, wie so vieles andre, in der Folge für uns noch äußerst wichtig Gewordene auf eine Formalität der Römer und also auf die mangelhafte Einrichtung der Gerichtsverfassung eines erst sich bildenden Volkes gründet –, entspringen mannigfaltige Unbequemlichkeiten und Freiheitsbeschränkungen. Allen diesen aber wird es möglich sein zu entgehen, wenn man den Satz nicht aus den Augen verliert, daß dem Erblasser nichts weiter verstattet sein darf, als aufs höchste seinen Erben zu nennen; daß der Staat, wenn dies gültig geschehen ist, diesem Erben zum Besitze verhelfen, aber jeder weitergehenden Willenserklärung des Erblassers seine Unterstützung versagen muß.

Für den Fall, wo keine Erbesernennung von dem Erblasser geschehen ist, muß der Staat eine Intestaterbfolge anordnen. Allein die Ausführung der Sätze, welche dieser sowie der Bestimmung des Pflichtteils zum Grunde liegen müssen, gehört nicht zu meiner gegenwärtigen Absicht, und ich kann mich mit der Bemerkung begnügen, daß der Staat auch hier nicht positive Endzwecke, z. B. Aufrechthaltung des Glanzes und des Wohlstandes der Familien oder in dem entgegengesetzten Extreme Versplitterung des Vermögens durch Vervielfachung der Teilnehmer oder gar reichlichere Unterstützung des größeren Bedürfnisses, vor Augen haben darf, sondern allein den Begriffen des Rechts folgen muß, die sich hier vielleicht bloß auf den Begriff des ehemaligen Miteigentums bei dem Leben des Erblassers beschränken, und so das erste Recht der Familie, das fernere der Gemeine usw. einräumenSehr vieles in dem vorigen Räsonnement habe ich aus Mirabeaus Rede über eben diesen Gegenstand entlehnt; und ich würde noch mehr davon haben benutzen können, wenn nicht Mirabeau einen der gegenwärtigen Absicht völlig fremden politischen Gesichtspunkt verfolgt hätte. S. Collection complette des travaux de Mr. Mirabeau l'ainé à l'Assemblée nationale. T. V. p. 498-524. .

Sehr nah verwandt mit der Erbschaftsmaterie ist die Frage, inwiefern Verträge unter Lebendigen auf die Erben übergehen müssen. Die Antwort muß sich aus dem festgestellten Grundsatz ergeben. Dieser aber war folgender: der Mensch darf bei seinem Leben seine Handlungen beschränken und sein Vermögen veräußern, wie er will, auf die Zeit seines Todes aber weder die Handlungen dessen bestimmen wollen, der alsdann sein Vermögen besitzt, noch auch hierüber eine Anordnung irgendeiner Gattung (man müßte denn die bloße Ernennung eines Erben billigen) treffen. Es müßten daher alle diejenigen Verbindlichkeiten auf den Erben übergehn und gegen ihn erfüllt werden, welche wirklich die Übertragung eines Teils des Eigentums in sich schließen, folglich das Vermögen des Erblassers entweder verringert oder vergrößert haben; hingegen keine von denjenigen, welche entweder in Handlungen des Erblassers bestanden oder sich nur auf die Person desselben bezogen. Selbst aber mit diesen Einschränkungen bleibt die Möglichkeit, seine Nachkommenschaft durch Verträge, die zur Zeit des Lebens geschlossen sind, in bindende Verhältnisse zu verwickeln, noch immer zu groß. Denn man kann ebensogut Rechte als Stücke seines Vermögens veräußern; eine solche Veräußerung muß notwendig für die Erben, die in keine andre Lage treten können, als in welcher der Erblasser selbst war, verbindlich sein, und nun führt der geteilte Besitz mehrerer Rechte auf eine und die nämliche Sache allemal zwingende persönliche Verhältnisse mit sich. Es dürfte daher wohl, wenn nicht notwendig, doch aufs mindeste sehr ratsam sein, wenn der Staat entweder untersagte, Verträge dieser Art anders als auf die Lebenszeit zu machen, oder wenigstens die Mittel erleichterte, eine wirkliche Trennung des Eigentums da zu bewirken, wo ein solches Verhältnis einmal entstanden wäre. Die genauere Ausführung einer solchen Anordnung gehört wiederum nicht hieher und das um so weniger, als, wie es mir scheint, dieselbe nicht sowohl durch Feststellung allgemeiner Grundsätze als durch einzelne auf bestimmte Verträge gerichtete Gesetze zu machen sein würde.

Je weniger der Mensch anders zu handeln vermocht wird, als sein Wille verlangt oder seine Kraft ihm erlaubt, desto günstiger ist seine Lage im Staat. Wenn ich in Bezug auf diese Wahrheit – um welche allein sich eigentlich alle in diesem Aufsatze vorgetragene Ideen drehen – das Feld unsrer Ziviljurisprudenz übersehe, so zeigt sich mir neben andren, minder erheblichen Gegenständen noch ein äußerst wichtiger, die Gesellschaften nämlich, welche man, im Gegensatze der physischen Menschen, moralische Personen zu nennen pflegt. Da sie immer eine von der Zahl der Mitglieder, welche sie ausmachen, unabhängige Einheit enthalten, welche sich, mit nur unbeträchtlichen Veränderungen, durch eine lange Reihe von Jahren hindurch erhält, so bringen sie aufs mindeste alle die Nachteile hervor, welche im vorigen als Folgen letztwilliger Verordnungen dargestellt worden sind. Denn wenngleich ein sehr großer Teil ihrer Schädlichkeit bei uns aus einer nicht notwendig mit ihrer Natur verbundnen Einrichtung – den ausschließlichen Privilegien nämlich, welche ihnen bald der Staat ausdrücklich, bald die Gewohnheit stillschweigend erteilt und durch welche sie oft wahre politische Korps werden – entsteht, so führen sie doch auch an sich noch immer eine beträchtliche Menge von Unbequemlichkeiten mit sich. Diese aber entstehen allemal nur dann, wenn die Verfassung derselben entweder alle Mitglieder, gegen ihren Willen, zu dieser oder jener Anwendung der gemeinschaftlichen Mittel zwingt oder doch dem Willen der kleineren Zahl, durch Notwendigkeit der Übereinstimmung aller, erlaubt, den der größeren zu fesseln. Übrigens sind Gesellschaften und Vereinigungen, weit entfernt, an sich schädliche Folgen hervorzubringen, gerade eins der sichersten und zweckmäßigsten Mittel, die Ausbildung des Menschen zu befördern und zu beschleunigen. Das Vorzüglichste, was man hiebei vom Staat zu erwarten hätte, dürfte daher nur die Anordnung sein, daß jede moralische Person oder Gesellschaft für nichts weiter als für die Vereinigung der jedesmaligen Mitglieder anzusehen sei und daher nichts diese hindern könne, über die Verwendung der gemeinschaftlichen Kräfte und Mittel durch Stimmenmehrheit nach Gefallen zu beschließen. Nur muß man sich wohl in acht nehmen, für diese Mitglieder bloß diejenigen anzusehen, auf welchen wirklich die Gesellschaft beruht, nicht aber diejenigen, welcher sich diese nur etwa als Werkzeuge bedienen – eine Verwechslung, welche nicht selten und vorzüglich bei Beurteilung der Rechte der Geistlichkeit gemacht worden ist.

Aus diesem bisherigen Räsonnement nun rechtfertigen sich, glaube ich, folgende Grundsätze. Da, wo der Mensch nicht bloß innerhalb des Kreises seiner Kräfte und seines Eigentums bleibt, sondern Handlungen vornimmt, welche sich unmittelbar auf den andren beziehen, legt die Sorgfalt für die Sicherheit dem Staat folgende Pflichten auf.

1. Bei denjenigen Handlungen, welche ohne oder gegen den Willen des andren vorgenommen werden, muß er verbieten, daß dadurch der andre in dem Genuß seiner Kräfte oder dem Besitz seines Eigentums gekränkt werde; im Fall der Übertretung den Beleidiger zwingen, den angerichteten Schaden zu ersetzen, aber den Beleidigten verhindern, unter diesem Vorwande oder außerdem eine Privatrache an demselben zu üben.

2. Diejenigen Handlungen, welche mit freier Bewilligung des andren geschehen, muß er in eben denjenigen, aber keinen engern Schranken halten, als welche den Handlungen einzelner Menschen im vorigen vorgeschrieben sind (s.  S. 128).

3. Wenn unter den eben erwähnten Handlungen solche sind, aus welchen Rechte und Verbindlichkeiten für die Folge unter den Parteien entstehen (einseitige und gegenseitige Willenserklärungen, Verträge usf.), so muß der Staat das aus denselben entspringende Zwangsrecht zwar überall da schützen, wo dasselbe in dem Zustande der Fähigkeit gehöriger Überlegung in Absicht eines der Disposition des übertragenden unterworfenen Gegenstandes und mit freier Beschließung übertragen wurde; hingegen niemals da, wo es entweder den Handlenden selbst an einem dieser Stücke fehlt oder wo ein Dritter gegen oder ohne seine Einwilligung widerrechtlich beschränkt werden würde.

4. Selbst bei gültigen Verträgen muß er, wenn aus denselben solche persönliche Verbindlichkeiten oder vielmehr ein solches persönliches Verhältnis entspringt, welches die Freiheit sehr eng beschränkt, die Trennung, auch gegen den Willen eines Teils, immer in dem Grade der Schädlichkeit der Beschränkung für die innere Ausbildung erleichtern; und daher da, wo die Leistung der aus dem Verhältnis entspringenden Pflichten mit inneren Empfindungen genau verschwistert ist, dieselbe unbestimmt und immer, da hingegen, wo bei zwar enger Beschränkung doch gerade dies nicht der Fall ist, nach einer zugleich nach der Wichtigkeit der Beschränkung und der Natur des Geschäfts zu bestimmenden Zeit erlauben.

5. Wenn jemand über sein Vermögen auf den Fall seines Todes disponieren will, so dürfte es zwar ratsam sein, die Ernennung des nächsten Erben ohne Hinzufügung irgendeiner die Fähigkeit desselben, mit dem Vermögen nach Gefallen zu schalten, einschränkenden Bedingung, zu gestatten; hingegen

6. ist es notwendig, alle weitere Disposition dieser Art gänzlich zu untersagen und zugleich eine Intestaterbfolge und einen bestimmten Pflichtteil festzusetzen.

7. Wenngleich unter Lebendigen geschlossene Verträge insofern auf die Erben übergehn und gegen die Erben erfüllt werden müssen als sie dem hinterlassenen Vermögen eine andre Gestalt geben, so darf doch der Staat nicht nur keine weitere Ausdehnung dieses Satzes gestatten, sondern es wäre auch allerdings ratsam, wenn derselbe einzelne Verträge, welche ein enges und beschränkendes Verhältnis unter den Parteien hervorbringen (wie z. B. die Teilung der Rechte auf eine Sache zwischen mehreren), entweder nur auf die Lebenszeit zu schließen erlaubte oder doch dem Erben des einen oder andren Teils die Trennung erleichterte. Denn wenngleich hier nicht dieselben Gründe als im vorigen bei persönlichen Verhältnissen eintreten, so ist auch die Einwilligung der Erben minder frei und die Dauer des Verhältnisses sogar unbestimmt lang.

Wäre mir die Aufstellung dieser Grundsätze völlig meiner Absicht nach gelungen, so müßten dieselben allen denjenigen Fällen die höchste Richtschnur vorschreiben, in welchen die Zivilgesetzgebung für die Erhaltung der Sicherheit zu sorgen hat. So habe ich auch z. B. der moralischen Personen in denselben nicht erwähnt, da, je nachdem eine solche Gesellschaft durch einen letzten Willen oder einen Vertrag entsteht, sie nach den von diesen redenden Grundsätzen zu beurteilen ist. Freilich aber verbietet mir schon der Reichtum der in der Zivilgesetzgebung enthaltenen Fälle, mir mit dem Gelingen dieses Vorsatzes zu schmeicheln.


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