Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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Le difficile est de ne promulguer que des lois nécessaires, de rester à jamais fidèle à ce principe vraiment constitutionnel de la société, de se mettre en garde contre la fureur de gouverner, la plus funeste maladie des gouvernemens modernes.

Mirabeau l'aîné, Sur l'education publique. p. 69.

I

Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen mit einander und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philosophen und Politiker vergleicht, so wundert man sich vielleicht nicht mit Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt und so wenig genau beantwortet zu finden, welche doch zuerst die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen scheint, die Frage nämlich: zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll. Den verschiedenen Anteil, welcher der Nation oder einzelnen ihrer Teile an der Regierung gebührt, zu bestimmen, die mannigfaltigen Zweige der Staatsverwaltung gehörig zu verteilen und die nötigen Vorkehrungen zu treffen, daß nicht ein Teil die Rechte des andren an sich reiße, damit allein haben sich fast alle beschäftigt, welche selbst Staaten umgeformt oder Vorschläge zu politischen Reformationen gemacht haben. Dennoch müßte man, dünkt mich, bei jeder neuen Staatseinrichtung zwei Gegenstände vor Augen haben, von welchen beiden keiner ohne großen Nachteil übersehen werden dürfte: einmal die Bestimmung des herrschenden und dienenden Teils der Nation und alles dessen, was zur wirklichen Einrichtung der Regierung gehört, dann die Bestimmung der Gegenstände, auf welche die einmal eingerichtete Regierung ihre Tätigkeit zugleich ausbreiten und einschränken muß. Dies letztere, welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maß ihrer freien ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der Tat das wahre, letzte Ziel, das erstere nur ein notwendiges Mittel, dies zu erreichen. Wenn indes dennoch der Mensch dies erstere mit mehr angestrengter Aufmerksamkeit verfolgt, so bewährt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Tätigkeit. Nach einem Ziele streben und dies Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft erringen, darauf beruht das Glück des rüstigen, kraftvollen Menschen. Der Besitz, welcher die angestrengte Kraft der Ruhe übergibt, reizt nur in der täuschenden Phantasie. Zwar existiert in der Lage des Menschen, wo die Kraft immer zur Tätigkeit gespannt ist und die Natur um ihn her immer zur Tätigkeit reizt, Ruhe und Besitz in diesem Verstande nur in der Idee. Allein dem einseitigen Menschen ist Ruhe auch Aufhören einer Äußerung, und dem Ungebildeten gibt ein Gegenstand nur zu wenigen Äußerungen Stoff. Was man daher von dem Überdruß am Besitze, besonders im Gebiete der feineren Empfindungen, sagt, gilt ganz und gar nicht von dem Ideale des Menschen, welches die Phantasie zu bilden vermag, im vollesten Sinne von dem ganz Ungebildeten und in immer geringerem Grade, je näher immer höhere Bildung jenem Ideale führt. Wie folglich, nach dem Obigen, den Eroberer der Sieg höher freut als das errungene Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Reformation höher als der ruhige Genuß ihrer Früchte, so ist dem Menschen überhaupt Herrschaft reizender als Freiheit oder wenigstens Sorge für Erhaltung der Freiheit reizender als Genuß derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Tätigkeit. Sehnsucht nach Freiheit entsteht daher nur zu oft erst aus dem Gefühle des Mangels derselben. Unleugbar bleibt es jedoch immer, daß die Untersuchung des Zwecks und der Schranken der Wirksamkeit des Staats eine große Wichtigkeit hat und vielleicht eine größere als irgendeine andre politische. Daß sie allein gleichsam den letzten Zweck aller Politik betrifft, ist schon eben bemerkt worden. Allein sie erlaubt auch eine leichtere und mehr ausgebreitete Anwendung. Eigentliche Staatsrevolutionen, andre Einrichtungen der Regierung sind nie ohne die Konkurrenz vieler, oft sehr zufälliger Umstände möglich und führen immer mannigfaltig nachteilige Folgen mit sich. Hingegen die Grenzen der Wirksamkeit mehr ausdehnen oder einschränken kann jeder Regent – sei es in demokratischen, aristokratischen oder monarchischen Staaten – still und unbemerkt, und er erreicht vielmehr seinen Endzweck nur um so sicherer, je mehr er auffallende Neuheit vermeidet. Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren und holderen Segen als der gewiß notwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Ausbruch tobender Vulkane. Auch ist keine andre Art der Reform unsrem Zeitalter so angemessen, wenn sich dasselbe wirklich mit Recht eines Vorzugs an Kultur und Aufklärung rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staats muß – wie sich leicht voraussehen läßt – auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handlenden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener. Wenn sonst das gezückte Schwert der Nation die physische Macht des Beherrschers beschränkt, so besiegt hier Aufklärung und Kultur seine Ideen und seinen Willen, und die umgeformte Gestalt der Dinge scheint mehr sein Werk als das Werk der Nation zu sein. Wenn es nun schon ein schöner, seelenerhebender Anblick ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen- und Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht, so muß – weil, was Neigung oder Achtung für das Gesetz wirkt, schöner und erhebender ist, als was Not und Bedürfnis erpreßt – der Anblick eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt und dies Geschäft nicht als Frucht seiner wohltätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner ersten, unerläßlichen Pflicht betrachtet. Zumal da die Freiheit, nach welcher eine Nation durch Veränderung ihrer Verfassung strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal eingerichtete Staat geben kann, ebenso verhält als Hoffnung zum Genuß, Anlage zur Vollendung.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Staatsverfassungen, so würde es sehr schwierig sein, in irgendeiner genau den Umfang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirksamkeit beschränkt, da man wohl in keiner hierin einem überdachten, auf einfachen Grundsätzen beruhenden Plane gefolgt ist. Vorzüglich hat man immer die Freiheit der Bürger aus einem zwiefachen Gesichtspunkte eingeengt, einmal aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit, die Verfassung entweder einzurichten oder zu sichern; dann aus dem Gesichtspunkte der Nützlichkeit, für den physischen oder moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder weniger die Verfassung, an und für sich mit Macht versehen, andre Stützen brauchte, oder je mehr oder weniger die Gesetzgeber weit ausblickten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem andren Gesichtspunkte stehengeblieben. Oft haben auch beide Rücksichten vereint gewirkt. In den älteren Staaten sind fast alle Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug haben, im eigentlichsten Verstande politisch. Denn da die Verfassung in ihnen wenig eigentliche Gewalt besaß, so beruhte ihre Dauer vorzüglich auf dem Willen der Nation, und es mußte auf mannigfaltige Mittel gedacht werden, ihren Charakter mit diesem Willen übereinstimmend zu machen. Eben dies ist noch jetzt in kleinen republikanischen Staaten der Fall, und es ist daher völlig richtig, daß – aus diesem Gesichtspunkt allein die Sache betrachtet – die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grade steigt, in welchem die öffentliche sinkt, da hingegen die Sicherheit immer mit dieser gleichen Schritt hält. Oft aber sorgten auch die älteren Gesetzgeber und immer die alten Philosophen im eigentlichsten Verstande für den Menschen, und da am Menschen der moralische Wert ihnen das Höchste schien, so ist z. B. Platos Republik, nach Rousseaus äußerst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs- als eine Staatsschrift. Vergleicht man hiermit die neuesten Staaten, so ist die Absicht, für den Bürger selbst und sein Wohl zu arbeiten, bei so vielen Gesetzen und Einrichtungen, die dem Privatleben eine oft sehr bestimmte Form geben, unverkennbar. Die größere innere Festigkeit unsrer Verfassungen, ihre größere Unabhängigkeit von einer gewissen Stimmung des Charakters der Nation, dann der stärkere Einfluß bloß denkender Köpfe – die ihrer Natur nach weitere und größere Gesichtspunkte zu fassen imstande sind –, eine Menge von Erfindungen, welche die gewöhnlichen Gegenstände der Tätigkeit der Nation besser bearbeiten oder benutzen lehren, endlich und vor allem gewisse Religionsbegriffe, welche den Regenten auch für das moralische und künftige Wohl der Bürger gleichsam verantwortlich machen, haben vereint dazu beigetragen, diese Veränderung hervorzubringen. Geht man aber der Geschichte einzelner Polizeigesetze und Einrichtungen nach, so findet man oft ihren Ursprung in dem bald wirklichen, bald angeblichen Bedürfnis des Staats, Abgaben von den Untertanen aufzubringen, und insofern kehrt die Ähnlichkeit mit den älteren Staaten zurück, indem insofern diese Einrichtungen gleichfalls auf die Erhaltung der Verfassung abzwecken. Was aber diejenigen Einschränkungen betrifft, welche nicht sowohl den Staat als die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht haben, so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten. Die alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen; die neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbfähigkeit. Die alten suchten Tugend, die neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein; und daher zeigen alle älteren Nationen eine Einseitigkeit, welche (den Mangel an feinerer Kultur und an allgemeinerer Kommunikation noch abgerechnet) großenteils durch die fast überall eingeführte gemeinschaftliche Erziehung und das absichtlich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der Bürger überhaupt hervorgebracht und genährt wurde. Auf der andren Seite erhielten und erhöheten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei den alten die tätige Kraft des Menschen. Selbst der Gesichtspunkt, den man nie aus den Augen verlor, kraftvolle und genügsame Bürger zu bilden, gab dem Geiste und dem Charakter einen höheren Schwung. Dagegen wird zwar bei uns der Mensch selbst unmittelbar weniger beschränkt, als vielmehr die Dinge um ihn her eine einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich, den Kampf gegen diese äußeren Fesseln mit innerer Kraft zu beginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen unsrer Staaten, daß ihre Absicht bei weitem mehr auf das geht, was der Mensch besitzt, als auf das, was er ist, und daß selbst in diesem Fall sie nicht – wie die alten – die physische, intellektuelle und moralische Kraft nur, wenngleich einseitig, üben, sondern vielmehr ihr bestimmende Ideen als Gesetze aufdringen, unterdrückt die Energie, welche gleichsam die Quelle jeder tätigen Tugend und die notwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung ist. Wenn also bei den älteren Nationen größere Kraft für die Einseitigkeit schadlos hielt, so wird in den neueren der Nachteil der geringeren Kraft noch durch Einseitigkeit erhöht. Überhaupt ist dieser Unterschied zwischen den alten und neueren überall unverkennbar. Wenn in den letzteren Jahrhunderten die Schnelligkeit der gemachten Fortschritte, die Menge und Ausbreitung künstlicher Erfindungen, die Größe der gegründeten Werke am meisten unsre Aufmerksamkeit an sich zieht, so fesselt uns in dem Altertum vor allem die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen dahin ist, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt. Der Mensch, und zwar seine Kraft und seine Bildung, war es, welche jede Tätigkeit rege machte; bei uns ist es nur zu oft ein ideelles Ganze, bei dem man die Individuen beinah zu vergessen scheint, oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glückseligkeit. Die alten suchten die Glückseligkeit in der Tugend, die neueren sind nur zu lange diese aus jener zu entwickeln bemüht gewesenNie ist dieser Unterschied auffallender, als wenn alte Philosophen von neueren beurteilt werden. Ich führe als ein Beispiel eine Stelle Tiedemanns über eins der schönsten Stücke aus Platos Republik an: Quanquam autem per se sit iustitia grata nobis: tamen si exercitium eius nullam omnino afferret utilitatem, si iusto ea omnia essent patienda, quae fratres commemorant; iniustitia iustitiae foret praeferenda; quae enim ad felicitatem maxime faciunt nostram, sunt absque dubio aliis praeponenda. Iam corporis cruciatus, omnium rerum inopia, farnes, infamia, quaeque alia euenire iusto fratres dixerunt, animi illam e iustitia manantem voluptatem dubio procul longe superant, essetque adeo iniustitia iustitiae antehabenda et in virtutum numero collocanda. Tiedemann in argumentis Dialog Platonis. Ad l. 2. de republica.; und der selbstKant über das höchste Gut in den Anfangsgründen der Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft., welcher die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glückseligkeit, wahrlich mehr wie eine fremde Belohnung als wie ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen. Ich verliere kein Wort über diese Verschiedenheit. Ich schließe nur mit einer Stelle aus Aristoteles' Ethik: »Was einem jeden, seiner Natur nach, eigentümlich ist, ist ihm das Beste und Süßeste. Daher auch den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn nämlich darin am meisten der Mensch besteht, am meisten beseligt.Το οικειον εκαστω τη φυσει, κρατιστον και ηδιστον εσθ' εκαστω· και τω ανθρωπω δη ο κατα τον νουν βιος, ειπερ μαλιστα τουτο ανθρωπος, ουτος αρα και ευδαιμονεστατος. l. X. c. 7. in fin.

Schon mehr als einmal ist unter den Staatsrechtslehrern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichten müsse. Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; indes die natürliche Idee, daß der Staat mehr als allein Sicherheit gewähren könne und ein Mißbrauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich, aber nicht notwendig sei, der letzteren das Wort redete. Auch ist diese unleugbar sowohl in der Theorie als in der Ausführung die herrschende. Dies zeigen die meisten Systeme des Staatsrechts, die neueren philosophischen Gesetzbücher und die Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten. Ackerbau, Handwerke, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen Grundsätzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und Polizeiwissenschaft z. B. beweisen; nach diesen sind völlig neue Zweige der Staatsverwaltung entstanden, Kameral-, Manufaktur- und Finanz-Kollegia. So allgemein indes auch dieses Prinzip sein mag, so verdient es, dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prü[fung muß von dem einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen...]


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