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Norderney, den 2. August 1833
Mit dem Anfange dieses Monats ist gerade die Hälfte meiner Badekur vollendet, liebe Freundin, und es wird Ihnen Freude machen, wenn ich Ihnen sage, daß ich sie ununterbrochen habe fortsetzen können, und befinde mich, Dank sei es der Vorsehung, sehr wohl. Von der gänzlichen Wirkung läßt sich erst nach Monaten urteilen. Dem Erfolg bis jetzt nach zu schließen, wird sie hoffentlich nicht geringer als im vorigen Jahre sein. Hier werde ich fast allgemein, meiner einzelnen Schwächlichkeiten ungeachtet, für stark gehalten, und gewissermaßen könnte ich mir selbst so erscheinen. Denn kein noch so junger rüstiger Mann braucht das Bad stärker als ich, und ich fühle mich niemals nur einen Augenblick davon angegriffen. Ich nehme nie etwas Stärkendes nachher und beschäftige mich, wenn ich nicht der Lust im Gehen genießen will, mit jeder Sache, die mich gerade interessiert. Von der Witterung spüre ich gar keinen Einfluß. Einige Körperstärke setzt das allerdings voraus. Aber die Hauptsache ist doch, das ganze Leben hindurch die Seele zur Ertragung jedes Ungemachs abgehärtet zu haben. Es ist unglaublich, wieviel Kraft die Seele dem Körper zu verleihen vermag. Es erfordert auch gar nicht eine große oder heldenmütige Energie des Geistes. Die innere Sammlung reicht hin, nichts zu fürchten und nichts zu begehren, als was man selbst in sich abwehren und erstreben kann. Darin liegt eine unglaubliche Kraft. Man ist darum nicht in eine phlegmatische Ruhe versenkt, sondern kann dabei gerade von den tiefsten und ergreifendsten Gefühlen bewegt sein, ihre Gegenstände gehören nur nicht der äußeren Welt an, sondern sind höheren Dingen und Wesen zugewendet. Man ist nicht frei von Sehnsucht, vielmehr ihr oft hingegeben, aber es ist nicht die verzehrende, die nach äußerer Gewährung strebt, sondern eine eigene, nur die lebendige Empfindung von etwas Besserem und Schönerem, mit dem die Seele innig verwandt ist. – Das Wetter war hier seit unserer Ankunft für den Gebrauch des Bades sehr günstig. Denn da es immer windig und einigemal sehr stürmisch war, so war die See fast unausgesetzt sehr hoch und unruhig, und diesen heftigen Wellenschlag hält man gerade für sehr zuträglich. Mit Sonnenschein verbunden, wie wir ihn oft hatten, ist er zugleich ein reizender Anblick. Über Hitze hat man sich hier wohl selten zu beklagen. Da die Winde meistenteils vom Meer herkommen, so kühlen sie die Luft hinreichend ab. Auf Inseln, besonders auf kleinen, ist große Hitze ebenso wie große Kälte selten. Wir haben aber in diesem Sommer wirklich sehr heiße Tage gehabt. Meine Liebe für große Wärme schreibt sich doch nicht, wie Sie glauben, aus meinem längeren Aufenthalt in Spanien und Italien her, ich erinnere mich, sie von früher Kindheit an gehabt zu haben.
Sie haben allerdings recht, wenn Sie sagen, Frau von Staël und Frau von Laroche werden schlimm im Goetheschen Briefwechsel behandelt. Es ist dies Goethes Schuld. Im vertraulichen Briefwechsel kann man sich, wie im Gespräch, kleine Spöttereien erlauben, da man keine üble Absicht damit verbindet und genau weiß, wie man verstanden wird. Wenn man aber solche Briefe vor das große Publikum bringt, muß man solche Stellen wegstreichen, und darin ist Goethe, der den Briefwechsel herausgegeben, zu sorglos gewesen. Solche kleine Flecken können aber einem Werke keinen Eintrag tun, das sonst einen solchen Reichtum an genialen und neuen Ideen enthält und so das lebendige Gepräge des Gedankenaustausches zweier großer Geister in sich trägt; denn es gibt nicht leicht eine Schrift, die einen so unendlichen Stoff zum Nachdenken darbietet und so, nach allen Richtungen hin, die einzig richtig leitenden Ansichten angibt. Der Staël mußten Goethe und Schiller Unrecht tun, da sie sie gar nicht genug kannten. Die Staël war bei weitem weniger von ihren schriftstellerischen Seiten, als im Leben und von Seiten ihres Charakters und ihrer Gefühle, Geist und Empfindung. Beides war in ihr auf eine ganz ihr angehörende Weise verschmolzen. Goethe und Schiller konnten das nicht so wahrnehmen. Sie kannten sie nur aus einzelnen Gesprächen, und auch da nur unvollkommen, da sie sich doch beide nicht französisch mit vollkommener Freiheit ausdrückten. Diese Gespräche griffen sie an, weil sie dadurch angeregt wurden, ohne sich doch in dem fremden Organ ganz und rein aussprechen zu können, und so wurde ihnen die lästig, die solche Gespräche veranlaßte. Von dem wahren inneren Wesen der Frau wußten sie nichts. Was man von ihrer Unweiblichkeit sagte, gehört zu dem trivialen Geschwätz, das sich der gewöhnliche Schlag der Männer und Weiber über Frauen erlaubt, deren Art und Wesen über ihren Gesichtskreis geht. Sich über das Höhere allen Urteils zu enthalten, ist eine zu edle Eigenschaft, als daß sie häufig sein könnte. Wirklich selbst vorzügliche Frauen, welche die Staël kannten, haben sie nie als unweiblich getadelt, und noch weniger kann man sie so in ihren Schriften finden.
Die Laroche habe ich selbst gleichfalls gekannt. Sie war sehr gutmütig und mußte in ihrer Jugend schön gewesen sein. Von Geist war sie allerdings nicht ausgezeichnet. Allein ihre Schriften sind nicht ohne Wirkung auf die weibliche Bildung ihrer Zeit geblieben. Insofern hat die Frau ein Verdienst gehabt, das ihr auch Goethe und Schiller nie würden haben absprechen wollen. Sie dachten nur an den literarischen Wert, der freilich nicht groß war. Man muß aber auch, was sie in scherzhaft heiterer Laune hinschrieben, nicht als vollwichtigen Ernst aufnehmen. Die Epochen, in die uns diese Erinnerungen zurückführen, weichen allmählich in solche Ferne zurück, daß schon darum das Interesse an ihnen wächst. Auch erscheint immer mehr, was zur Charakterisierung der damals merkwürdigsten Personen dient. In den Urteilen über sie wirkt noch die Stimmung mit fort, welche sie im Leben hervorbrachten; allein nach und nach tritt eine andere Stimmung ein, bis sich endlich das bildet, was man den bleibenden Nachruhm nennt. Die Menschen werden in diesem gewissermaßen zu Schattengestalten. Vieles, was sie an sich tragen, erlischt, und das Übrigbleibende wird nun zu einer ganz anderen Erscheinung. Dabei wird noch, was man von ihnen weiß, nach dem Geiste der jedesmaligen Zeit aufgenommen. So ungewiß steht es um das Bild, das auch die größten Menschen hinterlassen, und um die Geschichte!
Meine Badekur ist den 21. d. M. zu Ende, und ich werde also noch vor dem Ende desselben zurückgekehrt in Tegel sein. Ich fühle mich wohl und sehr gestärkt, und werde die Wirkung nach einiger Zeit noch mehr empfinden. Ich sage Ihnen das, liebe Freundin, schon jetzt und noch von hier aus, da Sie mir mit liebevoller Teilnahme so oft gesagt haben, daß Sie diese Nachrichten zuerst und vor allen anderen in meinen Briefen suchen. So begegnen sie Ihnen schon am Schluß dieses Briefes und kommen Ihnen früher zu, was Ihnen, wie ich weiß, Freude macht. Aber richten Sie es nun auch so ein, daß ich einen Brief von Ihnen in Berlin vorfinde. Mit der innigsten und unveränderlichsten Teilnahme der Ihrige.
H.
Tegel, den 6. Oktober 1833.
Ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank, liebe Charlotte, für Ihren lieben Brief, den ich bei meiner Zurückkunft hier vorfand, und der so viel Liebes und Gütiges über mich enthält. Ob Sie nichts von Ihrem Befinden erwähnen, so scheint mir doch die Stimmung zu beweisen, daß Sie wohl sind. Sie wissen, welchen lebhaften Anteil ich daran nehme. Sie genießen doch gewiß auch recht in Ihrem Garten die schönen Tage, mit denen das sich zum Ende neigende Jahr scheint alle schlimmen Tage, an denen der Sommer reich war, wieder in Vergessenheit bringen zu wollen. Es ist merkwürdig, wie wunderschön das Wetter ist, eben so ausgezeichnet schön war der Frühling. Ich dächte in zwanzig Jahren kein so blütenreiches Frühjahr hier erlebt zu haben. Die Pracht war über alle Beschreibung. Das schöne Wetter wird aber bei weitem nicht so dankbar von den Menschen erkannt, als man das bloß minder gute gleich übermäßig allgemein tadeln hört. Die Menschen scheinen zu meinen, daß, wenn ihnen auch der Himmel alle übrigen Glücksgaben vorenthielt, er ihnen doch diese, gleichsam die wohlfeilste von allen, gewähren müsse. Wieviel dem Himmel das schöne Wetter kostet, ist freilich schwer zu berechnen. Allein in der Wirkung auf das Gemüt gehört ein wahrhaft schöner Tag zu den allerkostbarsten Geschenken des Himmels. Wenn man im Menschen eine gewisse mittlere Seelenstimmung als die Regel annehmen kann, so bringt mich schlechtes Wetter niemals unter dieselbe, dies erlaubt meine gegen alle äußeren unangenehmen Eindrücke sehr gut verwahrte Natur nicht. Aber ein schöner Tag oder eine strahlend sternhelle Nacht hebt mich unaussprechlich darüber empor. Denn man kann, gerade indem man die Empfindung des Schönen schärft, die Reizbarkeit gegen das Unangenehme abstumpfen.
Was Sie über Herder und Goethe sagen und über die verschiedene Wirkung, welche die Schriften beider auf Sie haben, hat mich zu allerlei Betrachtung geführt. Über die Empfindungen anderer sollte man nicht so scharf absprechen. Beschränken Sie das Gesagte auf sich und andere, deren Gemütsart Ihnen genau bekannt ist, so stimme ich Ihnen gänzlich bei. Was mir aber bei dieser Stelle Ihres Briefes besonders aufgefallen ist, ist, daß sie mir wieder recht klar bewiesen hat, daß es zwei ganz verschiedene Arten gibt, sich einem Buche zu nahen. Eine, mit einer bestimmten Absicht verbunden und ganz nahe auf den Lesenden selbst bezogen, und eine freiere, die mehr und näher auf den Verfasser und seine Werke geht. Jeder Mensch liest, nach Verschiedenheit der Stimmungen und der Momente, mehr auf die eine oder die andere Weise; denn rein und gänzlich geschieden sind beide natürlich nie. Die eine wendet man an, wenn man von einem Buche fordert, daß es erheben, erleuchten, trösten und belehren soll, die andere Methode ist einem Spaziergange in freier Natur zu vergleichen. Man sucht und verlangt nichts Bestimmtes, man wird durch das Werk angezogen, man will sehen, wie sich eine poetische Erfindung entfalte, man will dem Gange eines Räsonnements folgen. Belehrung, Trost, Unterhaltung findet sich nachher ebenso und in noch höherem Maße ein, aber man hat sie nicht gesucht, man ist nicht von einer beschränkten Stimmung aus zu dem Buche übergegangen, sondern das Buch hat frei und ungerufen die ihm entsprechende selbst herbeigeführt. Das Urteil ist aber auf diese Weise freier, und da es von augenblicklicher Stimmung unabhängiger bleibt, zuverlässiger. Ein Verfasser muß es vorziehen, so gelesen und geprüft zu werden. Herder kann übrigens jede Art der Beurteilung ruhig erwarten. Er ist eine der schönsten geistigen Erscheinungen, die unsere Zeit aufzuweisen hat. Seine kleinen lyrischen Gedichte sind voll tiefen Sinnes und in der Zartheit der Sprache und Anmut der Bilder die Lieblichkeit selbst. Besonders weiß er das Geistige unnachahmlich schön, bald mit einem wohlgewählten Bilde, bald mit einem sinnigen Worte in eine körperliche Hülle einzuschließen, und ebenso die sinnliche Gestalt geistig zu durchdringen. In diesem symbolischen Verknüpfen des Sinnlichen mit dem Geistigen gefiel er sich auch selbst am meisten, bisweilen, obgleich selten, treibt er es bis ins Spielende. Eine seiner großen Eigenschaften war es auch, fremde Eigentümlichkeiten mit bewunderungswürdiger Feinheit und Treue aufzufassen. Dies zeigt sich in seinen Volksliedern und in der Geschichte der Menschheit. Ich erinnere mich z. B. aus der letzten der meisterhaften Schilderung der Araber. Herder stand im Umfang des Geistes und des Dichtungsvermögens gewiß Goethe und Schiller nach, allein es war in ihm eine Verschmelzung des Geistes mit der Phantasie, durch die er hervorbrachte, was beiden nie gelungen sein würde. Diese Eigentümlichkeit führte ihn zu großen und lieblichen Ansichten über den Menschen, seine Schicksale und seine Bestimmung. Da er eine große Belesenheit besaß, so befruchtete er seine philosophischen Ansichten durch dieselbe und gewann dadurch den Reichtum von Tatsachen für seine allegorischen und historischen Ausführungen. Er gehört, wenn man ihn im ganzen betrachtet, zu den wundervollst organisierten Naturen. Er war Philosoph, Dichter und Gelehrter, aber in keiner einzigen dieser Richtungen wahrhaft groß. Dies lag auch nicht an zufälligen Ursachen, an Mangel gehöriger Übung. Hätte er einen dieser Zweige allein ausbilden wollen, so würde es ihm nicht gelungen sein. Seine Natur trieb ihn notwendig zu einer Verbindung von allen zugleich hin, und zwar zu wahrer Verschmelzung, wo jede dieser Richtungen, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verlassen, doch in die der andern einging, und da doch dichtende Einbildungskraft seine vorherrschende Eigenschaft war, so trug das Ganze, indem es die innigsten Gefühle weckte, immer einen doppelt stark anziehenden Glanz an sich. Diese Eigentümlichkeit bringt es aber auch freilich mit sich, daß die Herderschen Räsonnements und Behauptungen nicht immer die eigentlich gediegene Überzeugung hervorbringen, ja daß man nicht einmal das recht sichere Gefühl hat, daß es seine eigene recht feste Überzeugung war, die er aussprach. Beredsamkeit und Phantasie leihen leicht allem eine willkürliche Gestalt. Von der Außenwelt entlehnte er nicht viel. Sein Aufenthalt in Italien hat ihn fast um nichts bereichert, da Goethe der seinige so reiche und schöne Früchte getragen hat. Herders Predigten waren unendlich anziehend. Man fand sie immer zu kurz und hätte ihnen die doppelte Länge gewünscht. Aber eigentlich erbaulich waren die, welche ich gehört habe, nicht, sie drangen wenig ins Herz.
Wenn er jetzt wüßte, daß ich so viel mit unleserlich kleinen Buchstaben über ihn schreibe, würde er sich gewiß wundern, und ich wundere mich über mich selbst. Ich tue es einzig, weil ich denke, daß es Ihnen Freude macht. Sagen Sie mir aber auch, wenn Sie mich nicht mehr lesen können. Denn für mich selbst schreibe ich nicht. Mit der herzlichsten Teilnahme Ihr
H.
Tegel, den 16. Nov. bis 7. Dez. 1833.
Ich fange diesen Brief an, liebe Charlotte, ohne noch einen von Ihnen empfangen zu haben; ich denke aber gewiß, daß in diesen Tagen selbst einer ankommen muß. Zuerst habe ich noch auf eine Stelle Ihres Briefes zurückzukommen, die eigentlich ganz unbeantwortet von mir geblieben ist, und wofür ich Ihnen sehr danke. Es ist nämlich das, was Sie über die verschiedene Art Bücher zu lesen sagen, und über das, was man in ihnen zu suchen hat. Sie beziehen sich dabei auf Goethe. Sie wissen, ich liebe es sehr, wenn man im freundschaftlichen Briefwechsel es frei ausspricht, wo die Meinungen nicht übereinstimmen. Dann auch haben Sie mich veranlaßt, die schöne Stelle in Goethes »Wahrheit und Dichtung« wieder zu lesen, auf die Sie sich beziehen. Im ganzen aber ist es, wie es gewöhnlich im Entgegenstellen der Behauptungen geht, daß man einander doch nicht bekehrt. Meine Art ist es einmal und wird es immer bleiben, ein Buch ebenso wie einen Menschen als eine Erscheinung an sich, nicht als eine Gabe für mich anzusehen. Ich gehe darum noch nicht, wie Goethe sagt, in die Kritik desselben ein, ebensowenig wie ich dies bei einem Menschen tue. Aber ich betrachte es wie ein Produkt des menschlichen Geistes, das ohne alle Beziehung auf meine Gedanken und Gefühle einen eigenen Ideenzusammenhang und eine eigene Gefühlsweise ausspricht und meine Aufmerksamkeit dadurch in Anspruch nimmt. Ich begreife indes, daß viele Leser die Bücher mehr zu sich hinziehen und sie weniger objektiv nehmen, und wenn Sie mich fragen, ob es einem Schriftsteller unangenehm sein könne, wenn er Beruhigung oder Erheiterung in ein dieser oder jener bedürfendes Gemüt ergieße oder eine gebeugte Seele ermutige, so antworte ich mit voller Überzeugung: er ist gewiß damit zufrieden und fühlt sich belohnt, gesetzt, es wäre auch nicht gerade sein Zweck. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie ich Bücher lese, keineswegs aber Ihre Weise tadeln.
Den 4. Dezember. Ich bin nunmehr im Besitz Ihres Briefes vom 24. November und danke Ihnen herzlich für den ganzen Inhalt desselben. Erhalten Sie sich in der ruhigen, heitern, zufriedenen Stimmung. Eine Heiterkeit wie die, von der Sie sagen, daß sie Ihnen natürlich inwohnt, ist eine sehr glückliche Gabe des Himmels oder des Schicksals und, wie Sie selbst sehr richtig bemerken, mehr noch eine Frucht einer natürlich einfachen, bescheiden genügsamen Gemütsart. Wenn sie aber auch so, gleichsam von selbst, im Charakter hervorblüht, so kann und muß man sie doch auch nähren und unterstützen. Ich meine das nicht von außen, sondern recht eigentlich von innen. Ebenso ist es auch mit der Wehmut. Der Mensch hat sich, wenn er irgendein innerliches Leben gelebt hat, ein geistiges Eigentum von Überzeugungen, Gefühlen, Hoffnungen, Ahnungen gebildet. Dies ist ihm sicher, ja, im eigentlichen Verstande unentreißbar. Kann er darin sein Glück, seine Beruhigung, seine stille Heiterkeit finden, so ist ihm diese gesichert und geborgen, wenn seine Stimmung auch wehmütig bleibt. Denn jeder Gegenstand edler Wehmut schließt sich willig an den eben genannten Kreis an. Sobald man überhaupt irgend etwas, was das Gemüt ergreift, in das Gebiet geistiger Tätigkeit hinüberführen kann, wird es linder und mischt sich auf eine sehr versöhnende Weise mit allem, was uns eigentümlich ist, wovon wir, wenn es auch schmerzte, uns nicht trennen könnten, ja nicht trennen möchten. Ich meine aber unter geistiger Tätigkeit nicht die der Vernunft. Diese könnte ein fühlendes Gemüt nur zu starrer Resignation bringen, die immer eine Ruhe des Grabes ist und nicht die schöne lebendige Heiterkeit gewähren kann, von der ich hier rede. Die rein geistige Wirksamkeit hat aber ein viel weiteres Gebiet und verschmilzt mit der Empfindung gerade zu dem Höchsten, dessen der Mensch fähig ist, und diese Verschmelzung enthält das wahre Mittel aller wahrhaft hilfreichen Beruhigung. Der Gedanke verliert in ihr seine Kälte, und die Empfindung wird auf eine Höhe gestellt, auf der sich die verletzende einseitige Beziehung auf das persönliche Selbst und den Augenblick der Gegenwart abstumpft. Leben Sie herzlich wohl! Ihren letzten Brief beantworte ich das nächste Mal. Mit dem innigsten Anteil der Ihrige.
H.
Tegel, den 20. Dez, 1833 bis 7. Jan. 1834.
Es ist sehr gütig von Ihnen, liebe Charlotte, daß Sie lieber meine Briefe entbehren wollen als mir zumuten, sie bei dem Zustand meiner Augen und Hand zu schreiben. Ich erkenne es mit doppelter Dankbarkeit, da ich weiß, was Ihnen meine Briefe sind, und daß Sie weit mehr darin finden als wirklich darin liegt. Ich fühle auch, daß Ihre Einsamkeit sie Ihnen noch wertvoller macht, da es nicht immer leicht ist, im Innern ganz allein zu stehen. Ich begreife daher und fühle vollkommen, daß das Ausbleiben meiner Briefe eine bedeutende Lücke in Ihrem täglichen Leben machen würde. Gewiß weiß ich also die Stelle, die Ihr letzter Brief enthält, nach ihrem vollen Wert zu schätzen. Für den Augenblick sehe ich noch keine Notwendigkeit ein, eine Änderung vorzunehmen. Wenn mich, wofür man freilich menschlicherweise nicht stehen kann, nichts Plötzliches befällt, so wird überhaupt ein gänzliches Abbrechen nicht nötig sein. Die Übel, die mir das Schreiben erschweren, sind von der Art bis jetzt, daß sie nur nach und nach und bis jetzt sogar nicht schnell zunehmen. Die Folge wird daher auch nur die sein können, daß ich weniger ausführliche Briefe schreibe, wobei es mir doch auch ein Trost sein wird zu denken, daß Sie weniger Mühseligkeit haben werden zu lesen. Überlassen Sie es also vertrauensvoll mir, abzumessen, was meinen Kräften noch zusagt und wozu sie nicht mehr ausreichen. Ich bin von Natur und durch eigene frühe Gewöhnung tätig und von nicht leicht zu ermüdender Geduld, lasse schwer ab in Überwindung von Schwierigkeiten und gestatte nicht gern der Natur, meinem Willen etwas abzunötigen. Ganz aus eigenem Triebe habe ich als Kind schon mich geübt zu tun, was mir körperlich sauer wurde, und Schmerz und Beschwerde mir nicht aus Weichlichkeit zu ersparen gesucht. Noch danke ich dem Himmel, daß er mir gerade das in die Brust legte. Denn wenn auch die Selbstverleugnung und Übung der Willenskraft garnicht zu den höchsten und größten Tugenden gehören, so kann man sie doch mit vollem Recht zu den nützlichsten zählen. Sie können nicht ganz von wechselnden Fügungen des Schicksals unabhängig machen. Eine solche wahre Unabhängigkeit kann der Mensch auf Erden niemals erlangen, er muß es schon als einen unendlich großen, ihm von der Vorsehung eingeräumten Vorzug ansehen, daß die Unabhängigkeit, die es ihm gelingen kann sich zu erstreben, in seine Gewalt gegeben ist, ja, daß er allein sie sich zu schaffen imstande ist, da sie eine innerliche ist. Wenn man aber recht frei und kühn auf das Ziel zugeht, den äußeren Einflüssen keine Herrschaft zu gestatten, so gelangt man immer weit und kann nicht allem, aber viel im Leben begegnen. Auch im Alter, kann ich mit Wahrheit sagen, suche ich mir das Leben nicht leicht und bequem zu machen, wenn ich den einzigen Punkt ausnehme, daß ich nicht mehr in Gesellschaft gehe: denn das habe ich ganz aufgegeben, selbst für die wenigen Orte, die ich noch, wenn auch schon selten, im vorigen Winter besuchte. Den 4. Januar 1834. Es ist das erstemal, daß ich die neue Jahreszahl schreibe. Ich hätte früher nie geglaubt, daß ich noch soviel schreiben würde, und noch jetzt, wo ich das Leben schon seit Jahren für das, was mich eigentlich daran knüpft, als geendet ansehe, habe ich weder ein äußeres körperliches, noch inneres geistiges Vorgefühl, daß ich nicht noch mehrere neue Jahreszahlen schreiben würde. Das sage ich nicht im mindesten darum bestimmter, weil ich weiß, daß Sie es gern hören, so gern ich Ihnen auch Freude mache, sondern weil ich es wirklich so fühle. Ungeachtet des sonderbaren Winters ist mein eigentliches Befinden, wenn ich es von den hindernden Beschwerden trenne, so, daß es mir zu keiner Klage Anlaß gibt. Der Ideenumtausch, von dem Sie in Ihrem Briefe reden, ist wohl sehr hübsch, aber mir ist der Sinn dafür vergangen. Die persönliche Nähe anderer ist mir immer eine Störung meiner Einsamkeit, das heißt jetzt im engsten Sinne meiner selbst. Sie wird mir leicht beunruhigend und kann mir peinigend werden. Ich vermeide daher, soviel ich kann, die Besuche meiner ältesten Freunde und Bekannten, sollte ich auch dadurch lieblos oder unhöflich erscheinen. Es gibt Opfer, die man unrecht hätte zu bringen. Die meisten aber sind diskret und gütig und gönnen mir die Lust des Alleinseins.
Was Sie mir von Paul Gerhard schreiben, hat mich sehr interessiert, und ich werde die Lieder, die Sie mir bezeichnen, nochmals nachlesen. Seine Schicksale waren mir im allgemeinen bekannt, aber nicht in so genauer Beziehung auf die Lieder, die doch hier gerade das Wichtigste ist. Ich schließe jetzt meinen Brief mit meinen herzlichen Glückwünschen für das neue Jahr. Möge dasselbe Sie frei von störenden Ereignissen, in Gesundheit und der stillen heiteren Stimmung erhalten, die das Erfreuliche, wo es nicht zu ändern ist, still hinüberträgt. Mit der innigsten Teilnahme der Ihrige.
H.