Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Tegel, den 6. Mai 1831.

Unmittelbar nach dem Abgang meines letzten Briefes an Sie, liebe Charlotte, empfing ich den Ihrigen und ersah daraus, daß ich die Ursache Ihres verzögerten Schreibens richtig erraten hatte. Bald darauf erhielt ich auch Ihren zweiten Brief.

Ich habe Sie längst befragen wollen, liebe Charlotte, ob Sie je Schillers Leben von Frau von Wolzogen gelesen haben. Wo nicht, so rate ich Ihnen, das Buch ja bald zu lesen. Ich glaube nicht, daß es ein zweites so schön geschriebenes, so geistvoll gedachtes und so tief und zart empfundenes Buch gibt. Ein Mann könnte garnicht so schreiben, wenn er auch sonst vorzüglich von Kopf und Gemüt wäre. Unter allem, was ich bisher von Frauen gelesen habe, weiß ich nichts damit zu vergleichen. Außerdem sind viele Briefe von Schiller in dem Werke, und unter diesen vortreffliche. Das Buch wird Ihnen Freude machen.

Was ist Poesie? – sagen Sie und setzen hinzu, ich denke, man muß sie empfinden. – Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wer recht lebendig empfindet (denn empfunden muß und kann es eigentlich nur werden), daß etwas poetisch ist, bedarf nicht der Erklärung, und wer kein Gefühl dafür hat, dem kann alle Erklärung durch Worte nicht helfen. Insoweit es möglich ist, hat es gewiß Schiller getan, der mehr als irgend jemand die Gabe besaß, in Worte zu kleiden, was in seiner eigentümlichen Natur dem Ausdruck widerstrebt. Beispiele erklären es schon besser. Nehmen wir zwei gleichzeitige Dichter, die Sie gleich gut kennen. Gellert und Klopstock. Beide sind miteinander zu vergleichen, weil sie beide geistliche Stoffe behandelt haben, weil sie gewiß beide von gleich edler Frömmigkeit und gleich reiner Tugendliebe beseelt waren, und endlich auch, weil sie eine große, und tiefe Wirkung auf die Gemüter und die Herzen ihres Zeitalters hervorgebracht haben. Aber gewiß sind Sie meiner Meinung, daß in Klopstock ein ungleich höherer Schwung ist, daß man bei seinen Worten mehr denkt, von ihnen mehr hingerissen wird. Gellerts Verse sind nur gereimte Prosa, Klopstock war durchaus eine poetische Natur. – Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 24. abzusenden. Leben Sie herzlich wohl. Mit der aufrichtigsten Teilnahme und Freundschaft der Ihrige.

H.


>

Tegel, den 3. Juni 1831.

Ihr Brief vom 22. bis 25. vor. Monats ist mir allerdings so spät zugekommen, daß mich sein Ausbleiben wunderte. Ich wußte diesmal garnicht, welcher Ursache ich Ihr Stillschweigen zuschreiben sollte. Doch hatte ich keine Besorgnis vor Krankheit, weil ich mich darauf verlasse, daß Sie mir, liebe Charlotte, in einem solchen Fall immer, wenn auch noch so wenige Worte sagen werden. Desto mehr habe ich mich jetzt gefreut, einen ausführlichen Brief zu erhalten. Wenn ich dies sage, meine ich nur, daß ich die Blätter von Ihrer Hand immer gern lese, und immer, was Sie betrifft, es sei erfreulich, oder es sei das Gegenteil, mit wahrer und aufrichtiger Teilnahme mitgeteilt erhalte. Denn sonst konnte mich das, was Sie mir darin über den neuen Verlust, der Sie betroffen, und die Stimmung, in welche Sie dieser Trauerfall versetzt hat, nur schmerzlich berühren. Auch ganz ohne die Familie zu kennen, hat der Todesfall dieser jungen Person etwas ungemein Rührendes. Er ist sichtbar eine Folge des Todes der Schwester und der, aus Liebe für die Dahingegangene, zu beschwerlich in der Besorgung der Kinder und des Hauswesens übernommenen Anstrengung. Beides vereinigt hier alles, was das Bedauernswürdige des Falles vermehren kann. Sie sagen, daß ein so früher Tod beneidenswert sei, der eine schöne, reine, frische Blüte bricht, ehe der rauhe Nord sie erstarrt, und Sie kommen auch in einer andern Stelle Ihres Briefes hierauf zurück. Ich erinnere mich sehr wohl, das gleiche Gefühl vor vielen Jahren bei dem Tode meines ältesten Sohnes, eines damals zehnjährigen Knaben, gehabt zu haben. Er starb in Rom, wo er auch an einem schönen Orte unter nun großen schattigen Bäumen begraben liegt. Er war ein wunderschönes, verständiges, gutes Kind und ging aus einer plötzlichen und schnell endenden Krankheit in vollem Frohsein und voller Heiterkeit hinüber. Ich erkenne daher sehr die Wahrheit jenes Gefühls, allein das Leben hat doch auch seinen Wert, selbst wenn es der Freuden weniger gibt oder gegeben hat. Es stärkt die Kraft, es reift das Gemüt, und ich kann mir wenigstens die Überzeugung nicht nehmen, daß das Wichtigste für den Menschen der Grad der inneren Vollkommenheit ist, zu dem er gedeiht. Dazu aber trägt das Leben selbst in seinen Stürmen, und seinen rauhen Stürmen, mächtig bei. Alle diese Betrachtungen sind aber nur bis auf einen gewissen Punkt trostreich und beruhigend. Der Verlust geliebter Personen bleibt in sich unersetzlich, und der Kummer und Gram darum lindert sich, wie ich sehr gut weiß und empfinde, durch keine Betrachtungen, eher noch in manchen Fällen und bei manchen Gemütern durch den ruhigen Verlauf der Zeit. Da Sie schon sehr einsam leben, so begreife ich noch 385' mehr und fühle noch lebhafter, wie dieser unerwartete Verlust Sie auf einmal noch viel schmerzlicher trifft. Wenn die Aufrichtigkeit und die Wärme meiner Teilnahme dazu beitragen kann, Ihrem Kummer Linderung zu gewähren, so zählen Sie mit Sicherheit auf beide. Sie kennen meine Gesinnungen für Sie, Sie wissen, daß dieselben vom ersten Augenblicke an, wo Sie sich nach einer bedeutenden Reihe von Jahren an mich wandten anteilvoll und wohlwollend gewesen sind, ob gleich ich in der ganzen Zwischenzeit nichts von Ihnen wußte, und unsere Jugendbekanntschaft nur das Werk weniger Tage war. Dieser Ihnen aus dem reinen Wunsche, wohltätig und erheiternd auf Sie, Ihre Stimmung und Ihr Leben einzuwirken, gewidmete Anteil wird Ihnen bleiben, und Sie können sich versichert halten, daß er sich bei jedem kleineren und größeren Vorfall Ihres Lebens aufs neue beweisen wird. Je mehr ich in mir selbst lebe, je mehr ich in dem Zustand bin, nichts von außen empfangen zu wollen, je freier ich mich in die Lage versetzt habe, ohne alle Rücksicht jede Gemeinschaft, außer der mit meinen Kindern, zurückzuweisen, desto freier, reiner und forderungsloser ist auch mein Anteil an denen, von welchen ich weiß, daß sie ihn gütig aufnehmen und daß er ihnen Freude macht. Ich sehe und empfinde die Ereignisse des Lebens jetzt mehr in anderen als in mir selbst, ich bin ruhig und in Erinnerungen und Betrachtungen, wenn auch oft wehmütig, dennoch heiter. Meine Freunde und Bekannten, die das wissen, lassen mich gewähren und stören mich in diesem abgeschlossenen Kreise nicht; aber mein Anteil an Ihnen und Ihrem Schicksal ist gleich groß.

Über meine Gesundheit kann ich Ihnen nur Gutes sagen. Ich kann über keine Kränklichkeit, nur über die Schwächlichkeiten klagen, die Sie längst kennen. Sie rühmen, liebe Charlotte, meine feste Hand und freuen sich darüber. Ihr Urteil hierin ist auch mir darum um so wichtiger, als Sie die erste waren, die mich auf die Schwäche und das Zitterhafte meiner Hand aufmerksam machte. Ich wunderte mich damals darüber, wie einer, der etwas von sich erfährt, was er selbst nicht gewußt hat, ich bemerkte aber, daß Ihre Bemerkung ganz richtig war. Ich habe seit dem Winter etwas gebraucht, was das Zittern der Glieder und die Schwäche der Hand heben soll. Gegen das erste hat es sichtbar geholfen, vielleicht auch gegen das letzte, doch glaube ich das eigentlich nicht. Was Ihnen den Eindruck gemacht, schreibe ich mehr der Methode zu, die ich angenommen habe, wie die Kinder auf Linien zu schreiben, dies hält die Züge und die Hand mehr in Ordnung. Mein Arzt schließt aus der Wirkung der verordneten Mittel, daß die Ursache der Schwäche im Rückgrat liegt, und rät zum Gebrauch eines kräftigen Seebades. Ich werde also in diesem Sommer nicht Gastein, sondern Norderney gebrauchen. Sie wissen wohl, daß dies eine Insel ist, welche der Stadt Aurich in Ost-Friesland gegenüber liegt. Meine älteste Tochter wird mich begleiten, und ich werde eine Reise auf eines meiner Güter damit verbinden.

Leben Sie herzlich wohl; mit dem innigsten Anteil der Ihrige.

H.


>

Oschersleben, den 3. Juli 1831.

Ich sehe aus Ihrem Briefe, daß Sie Ihren Reiseplan aufgegeben haben, und kann das nur billigen. Solange man noch in seinen häuslichen Gewohnheiten ruhig ist, fühlt man in diesen wohl eine gewisse ermüdende Einförmigkeit, die auf eine Reise mit Vergnügen hinblicken läßt. Wenn aber der Zeitpunkt kommt, sich loszureißen, so fühlt man alles Beschwerliche und Unerfreuliche, das nicht heimisch scheint, und lernt erst den Wert der gewöhnlichen Existenz in alledem erkennen, was einen alle Tage umgibt. Ich selbst habe mich diesmal höchst ungern zur Badekur entschlossen und hätte es nicht getan, wenn ich nicht glaubte, daß ohne die Kur die Schwächlichkeiten, an denen ich leide, und die doch meine freie Tätigkeit hemmen, zu sehr anwachsen könnten. Interesse finde ich an der Reise garnicht. Einige Menschen in den Orten, durch die ich reise, sehe ich allerdings gern wieder, aber das wiegt doch die vielen anderen Unbequemlichkeiten, und besonders den Zeitverlust, nicht auf. Zu dem allen kommt die Ungewißheit der Zeiten. Die Ungewißheit der Zeiten: Zusatz von Charlotte: »In dieser Zeit erschien die gefürchtete Cholera in ganz Deutschland und setzte, wie es jeder erfahren hat, alles in Furcht und Schrecken.« Sie reden in Ihrem Briefe über den Wert des Lebens und äußern, daß ihn die geschwächten Kräfte des Alters noch mindern. Wenn man von dem Glückswert des Lebens spricht, so gebe ich gern zu, daß man ihn nicht immer hoch anschlagen kann. Ich behaupte sogar, daß alle, die ungefähr in meinem Alter sind, von der jetzigen Zeit wenig oder nichts Erfreuliches zu erwarten haben können, denn in allem, was das menschliche Leben äußerlich angeht, trüben sich die Aussichten, verwirren sich die Begriffe bis zu den verschiedensten Meinungen, und die Jahre, die ich noch zu leben habe, werden nicht hinreichen, dies zu lösen. Ist es aber recht und erlaubt, den Wert des Lebens wie den eines andern Guts zu schätzen? Das Leben ist dem Menschen von Gott gegeben, um es auf eine ihm wohlgefällige pflichtgemäße Weise anzuwenden und im Bewußtsein dieser Anwendung zu genießen. Es ist uns allerdings zum Glück gegeben. Dem Glück ist aber immer die Bedingung gestellt, daß man es zuerst, und wenn die mancherlei Tage Prüfungen mit sich führen, allein in der mit Selbstbeherrschung geübten Pflicht finde. Ich frage mich daher nie, welchen Wert das Leben noch für mich hat, ich suche es auszufüllen und überlasse das andere der Vorsehung. Die Schwächung, welche die Kräfte durch das Alter erfahren, kenne ich sehr wohl aus eigener Erfahrung, aber ich möchte darum nicht zurücknehmen, was ich Ihnen neulich schrieb, daß der Zweck des Lebens eigentlich der ist, zu der höchsten, dem inneren Geistesgehalt des Individuums, von dem die Rede ist, den Umständen und der Lebensdauer angemessenen Erkenntnisreife zu gedeihen. Es gibt allerdings Fälle, wo das Alter alle Geisteskräfte vernichtet. So war es mit Campe, der die letzten fünf Jahre seines Lebens hindurch bloß vegetierte, und von dem man kaum sagen konnte, daß er wieder zum Kindesalter zurückgekehrt war. Über diese Fälle ist nichts zu sagen. Der Mensch hört in ihnen menschlich auf zu sein, ehe er physisch stirbt. Sie sind aber glücklicherweise selten. Die gewöhnlichen Altersschwächen gehen mehr den Körper an, und im Geiste bleibt die Kraft des Entschlusses, seine Schnelligkeit und Ausdauer, das Gedächtnis, die Lebendigkeit der Teilnahme an äußeren Begebenheiten. Das in sich gekehrte Denkvermögen und das Gemüt bleiben nicht nur in den meisten Fallen ungeschwächt, sondern sind reiner und minder getrübt durch Verblendung und Leidenschaften. Gerade aber diese Kräfte sind es, die am besten und sichersten zu der oben erwähnten Reife der Erkenntnis führen. Sie wägen in den höheren Jahren, die keine Ansprüche mehr an Erfolge des Glücks und Veränderung der Lage machen, am richtigsten den wahren Wert der Dinge und Handlungen ab und knüpfen das Ende des irdischen Daseins an die Hoffnung eines höheren an; sie läutern die Seele durch die ruhige und unparteiische Prüfung dessen, was in ihr im Leben vorgegangen ist. Niemand muß glauben, mit dieser stillen Selbstbeschäftigung schon fertig zu sein. Je mehr und anhaltend man sie vornimmt, desto mehr entwickelt sich neuer Stoff zu derselben. Ich meine damit nicht ein unfruchtbares Brüten über sich selbst, man kann dabei tief mit seinen Gedanken in der Zeit und der Geschichte leben, aber wenn man dies tut, was nicht notwendig ist, meine ich nicht das Ziehen jedes Gedankenstoffes in den Kreis der Irdischkeit, sondern in den höheren, dem der Mensch vorzugsweise in seinen spätesten Jahren angehört. Denn dieser zweifache Kreis ist dem Menschen sichtbar angewiesen. In dem einen handelt er, ist er geschäftig, trägt er im Kleinsten und Größten zu den Menschenschicksalen bei, davon aber sieht er niemals das Ende, und darin ist nicht er der Zweck. Er ist nur ein Werkzeug, nur ein Glied der Kette, sein Faden bricht oft im entscheidendsten Moment ab, der des Ganzen läuft fort. In dem andern Kreise hat der Mensch das Irdische, nicht dem Erfolg, sondern nur der Idee nach, die sich daran knüpft, zum Zweck und geht mit diesem Streben über die Grenzen des Lebens hinaus. Dieses Gebiet ist nur dem einzelnen, aber jedem Menschen für sich angewiesen. Die Nationen, das Menschengeschlecht im ganzen, strömen bloß im Irdischen fort. Jeder Mensch dreht sich, wenn er auf sich achtet, immer in diesen beiden Kreisen herum, aber dem Alter ist der höhere und edlere mehr eigen, und nicht ohne Grund befallen den Menschen Altersschwächen, er widmet sich, dadurch gemildert und beruhigt, jenen höchsten Betrachtungen. Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 20. Juli zur Post zu geben und nach Norderney über Aurich zu adressieren. Ich habe diesen Brief im Hause meines Pächters angefangen und schließe ihn heute, den 6. Juli, in Zelle. Meine Reise ist, wie es eine so unbedeutende Reise natürlich ist, ohne alle Abenteuer gewesen. Mit unveränderlicher Teilnahme der Ihrige.

H.


>

Norderney, den 26. Juli 1831.

Es kommt mir ordentlich wunderbar vor, liebe Charlotte, nachdem ich Ihnen mehrere Sommer von den Gebirgen von Gastein aus geschrieben, es nun von den niedrigen Dünen und der flachen Küste der Nordsee zu tun. Es interessiert Sie aber wohl auch, imstande zu sein, sich einen Begriff von dem Seebade und meinen Umgebungen zu machen. Zuerst werden Sie, nach Ihrer Teilnahme an mir, von meinem Befinden zu hören wünschen. Bis jetzt kann ich Ihnen nur das Beste davon sagen, und da ich schon heute das vierzehnte Bad genommen, so hoffe ich, daß mein Befinden ferner gut bleiben wird, obgleich man freilich von Erfolg und Wirkung einer Badekur erst urteilen kann, wenn sie beendet ist. Aber das Gefühl der allgemeinen Belebung und Erfrischung, die Freiheit des Kopfes und die Leichtigkeit in allen Gliedern, unmittelbar wenn man aus der See kommt, habe ich bis jetzt vollkommen. Das übrige und Wesentlichere hoffe ich um so mehr, als meine Forderungen an die Kur höchst mäßig sind. Ich bin vollkommen zufrieden, wenn das Übel, um dessenwillen der Arzt wollte, daß ich dies Bad nehmen sollte, im nächsten Jahre nicht zunimmt. Ich bin nicht so betört und nicht so unbescheiden gegen das Schicksal, an eine wirkliche Heilung zu denken. In höheren Jahren, muß man sich darauf gefaßt machen, gewisse Unbequemlichkeiten in seine Existenz als unvermeidlich und unabänderlich aufzunehmen. Der menschliche Organismus und die im Laufe der Zeit natürliche Vergänglichkeit lassen das nicht anders zu, und die Unbequemlichkeiten, an denen ich leide, sind überdies, gegen die anderer Menschen gehalten, so leidlich, daß ich doppelt strafbar sein würde, dadurch ungeduldig gemacht zu werden. Die Lust wird hier, selbst bei heiterem Sonnenschein, auch in diesem Monat unaufhörlich durch frische Seewinde abgekühlt, die das Meer bald nur lieblich kräuseln, bald in hohen Wellen bewegen. Dieser Anblick des Meeres ist für mich hier dasjenige, was dem Aufenthalt seinen eigenen Reiz gibt. Ich besuche den Strand gewöhnlich jeden Tag mehr als einmal außer dem Baden und oft auf Stunden. So einfach die Bewegung des Meeres scheint, so ewig anziehend bleibt es, ihr zuzusehen. Man kann es nicht mit Worten ausdrücken, was einen gerade daran fesselt, aber die Empfindung ist darum nicht weniger wahr und dauernd. Viel trägt gewiß die Unermeßlichkeit der Erscheinung, der Gedanke des Zusammenhanges des einzelnen Meeres, an dessen Küste man steht, mit der ganzen, Weltteile auseinander haltenden Masse bei. Diese malt sich wirklich, kann man sagen, in jeder einzelnen Welle. Das Dunkle, Unergründliche der Tiefe tut auch das ihrige hinzu, und nicht bloß das der Tiefe, sondern auch das Unerklärliche, Unverständliche dieser wilden und unermeßlichen Massen der Luft und des Wassers, deren Bewegungen und Ruhe man weder in ihren Ursachen, noch in ihren Zwecken einsieht, und die doch wieder ewigen Gesetzen gehorchen und nicht die ihnen gezogenen Grenzen überschreiten. Denn die bewegtesten Wellen des Meeres laufen in spielenden Halbkreisen schäumend auf dem flachen Lande aus. Schade ist es, daß man hier das Meer nirgends aus den Häusern oder doch nur sehr unvollkommen aus Bodenkammern sieht. Die ganze Insel ist von Dünen, niedrigen Sandhügeln, umgeben, die man immer erst übersteigen muß, ehe man an das Ufer kommt. Auf diesen geht man dann aber auch, wenn es die Zeit der Ebbe ist, besser wie es sonst irgend auf dem Lande möglich ist. Der Boden ist fest wie eine Tenne, und doch elastischer und minder hart. Zwischen diesem in der Zeit der Flut immer bespritzten Strande und den Dünen ist tiefer Sand, und wo diese Strecke sehr breit ist, da gleicht die Insel einer afrikanischen Wüste. Ein Bach ist nirgends, nur teils gegrabene, teils natürliche Brunnen süßen Wassers. Aber auch dies Wasser ist nicht sonderlich gut. In der Mitte, von den Dünen eingeschlossen, sind aber grüne Anger und Wiesen, auf denen Vieh weidet. Wirklich hohe Bäume hat die Insel garnicht, nur Gesträuch; höherem Wuchs widersetzen sich die Stürme, aber von diesem Gesträuch sind ganz hübsche Bosketts und einige gegen Sonne und Wind schützende Laubengänge angelegt. Es gibt auf der ganzen Insel nur ein, aber sehr ansehnliches Dorf. In diesem wohnen auch die Badegäste, in kleinen, aber sehr reinlichen Wohnungen. Die Einrichtung ist hier schon mehr holländisch und englisch. Was diesen Fischer- und Schifferhäusern, denn das sind die Bewohner größtenteils, von außen ein gefälliges Äußere und innerlich Freundlichkeit und Licht gibt, ist, daß die Fenster sehr groß sind, hölzerne Kreuze und große, helle und gut gehaltene Glasscheiben haben, viel besser, als dies bei uns manchmal selbst in größeren Städten der Fall ist. Ein Haus gehört der Badeanstalt selbst, in diesem wohne ich, es ist aber klein und gewährt wenig Vorzüge gegen die Wohnungen bei den Dorfbewohnern. Die Badegesellschaft ist ziemlich zahlreich, obgleich die Furcht vor der Cholera viele abhält, in diesem Jahr die Ost- und selbst die Nordseebäder zu besuchen. Für das Zusammenkommen der Badegäste gibt es ein eigenes Gebäude mit Versammlungssälen zum Speisen und zu Abendgesellschaften. Ich esse aber in meiner Wohnung und bin erst einmal in jenem Saale gewesen. Doch gibt es einzelne Personen, die mich und die ich besuche. Was den Aufenthalt in diesem und in allen Seebädern in Vergleichung mit anderen Bädern angenehmer macht, ist der Umstand, daß man hier nicht von so schweren Kranken und von so großen Krüppelhaftigkeiten hört und noch weniger sieht. Gegen solche Übel ist das Seebad nicht geeignet, und da es auch immer, um Gebrauch davon machen zu können, noch gewisse Kräfte voraussetzt, so können so sehr kranke Personen es nicht benutzen. Ich sehe nur einen Mann hier, der auf Krücken geht und sich, da der Weg zum Badestrande vom Dorfe nicht ganz nahe ist, in einer Sänfte hintragen läßt. So können Sie sich nach der ausführlichen Beschreibung meines hiesigen Aufenthaltes ein anschauliches Bild meines Lebens machen.

Ich habe noch keinen Brief von Ihnen erhalten, glaube aber gewiß, daß ich morgen, wo Posttag für ankommende Briefe ist, einen erhalten werde. Ich lasse indes den meinigen immer abgehen. Die Briefe bleiben hier ungewöhnlich lange aus. Ich bitte Sie, mir am 5. August hierher, wie ich Ihnen neulich schrieb, über Aurich zu schreiben. Mit der herzlichsten Teilnahme Ihr

H.



 << zurück weiter >>