Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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XVIII.

Quasimodo und sein Pflegevater.

Als Quasimodo sah, daß die Zelle der Aegypterin leer war, raufte er sich die Haare aus und heulte vor Schmerz; dann suchte er sie in der Kirche, in allen Gängen und Winkeln. Dies war gerade der Augenblick, wo die Soldaten des Königs siegreich in die Kirche einzogen und die Aegypterin aufsuchten. Quasimodo half ihnen dabei, denn der arme Taube wußte nicht, in welcher Absicht es geschah. Er hielt die Landstreicher, welche die Kirche angegriffen hatten, für die Feinde der Aegypterin. Er führte daher Tristan selbst an die geheimsten Orte der Kirche. Wäre die Unglückliche irgendwo versteckt gewesen, so würde ihr bester Freund sie dem Stricke überliefert haben. Nachdem der Generalprofos das Nachsuchen verdrießlich aufgegeben hatte, setzte Quasimodo die Nachforschung allein fort. Er machte zwanzigmal die Runde in der Kirche und in den Thürmen, von oben bis unten. Endlich, als er sich überzeugt hatte, daß sie nicht mehr da, daß sie ihm geraubt war, stieg er langsam die Stufen des Thurms hinauf, mit gesenktem Haupt, thränenlos und fast ohne Athem. Die Kirche war abermals verlassen, und tiefe Stille herrschte in dem weiten Gebäude. Die Soldaten suchten jetzt die entlaufene Hexe in der Stadt, Quasimodo schlich traurig der Zelle zu, in der die Aegypterin so manche Woche unter seiner Hut geschlafen hatte. Als er sich ihr näherte, faßte er Hoffnung, sie dort vielleicht wieder zu finden. Als er die enge Zelle mit ihrem kleinen Fenster und ihrer kleinen Thüre von weitem sah, brach dem armen Menschen das Herz und er stützte sich erschöpft an einen Pfeiler. Er überredete sich, daß sie zurückgekehrt sei, daß ein guter Genius sie zurückgebracht habe, daß diese Zelle ihr zu viel Ruhe und Sicherheit gewähre, als daß sie nicht darin sein sollte, und wagte keinen Schritt weiter, um nicht enttäuscht zu werden.

»Ja,« sagte er zu sich selbst, »sie schläft vielleicht oder betet. Ich will sie nicht stören.«

Endlich nahm er allen seinen Muth zusammen und schlich auf den Zehen herbei. Die Zelle war leer. Der unglückliche Taube ging langsam darin hin und her, hob das Bett auf und suchte darunter, als ob sie sich zwischen der Matratze und dem steinernen Boden verborgen haben könnte; dann schüttelte er den Kopf und blieb wie betäubt stehen. Plötzlich trat er wüthend die brennende Fackel mit dem Fuße zusammen, und, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Seufzer auszustoßen, rannte er so gewaltsam mit dem Kopf gegen die Mauer, daß er ohnmächtig auf das Pflaster fiel.

Als er wieder zu sich kam, warf er sich auf das Bett und wälzte sich darauf wie ein Wahnsinniger, stand wieder auf und stieß den Kopf gegen die Mauer, mit so erschrecklicher Regelmäßigkeit, wie der Schlegel einer Glocke geht, und mit der Entschlossenheit eines Menschen, der sterben will. Zum zweitenmal fiel er ohnmächtig nieder; dann kroch er auf den Knieen aus der Zelle und setzte sich in einer Art Sinnlosigkeit der Thüre gegenüber. So blieb er über eine Stunde sitzen, ohne die geringste Bewegung zu machen, das Auge fest auf die verlassene Zelle gerichtet, in traurige Gedanken vertieft, wie eine Mutter, die zwischen einer leeren Wiege und einem vollen Sarge sitzt. Er sprach kein Wort, bloß von Zeit zu Zeit, in langen Zwischenräumen, erschütterte ein tiefer Seufzer seinen ganzen Körper.

Es scheint, daß er in dieser trostlosen Träumerei auf den Gedanken kam, Niemand, als der Archidiakonus, könne die Aegypterin entführt haben. Er erinnerte sich, daß nur er allein einen Schlüssel zur Thurmtreppe habe; er dachte an die zwei nächtlichen Versuche gegen das junge Mädchen, deren einen er, Quasimodo, befördert, deren andern er verhindert hatte. Es fielen ihm tausend Einzelnheiten ein, und er zweifelte bald nicht mehr daran, daß der Archidiakonus die Aegypterin geraubt habe. Gleichwohl hatte er eine solche Achtung vor dem Priester, seine Dankbarkeit und Liebe für diesen Mann hatten so tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, daß sie selbst in dem Augenblicke festhielten, wo Eifersucht und Verzweiflung mit Geierskrallen sein Herz zerfleischten. Gegen jeden Andern würde er Blut und Tod in seinem Herzen getragen haben, aber da es seinen Pflegevater betraf, so fühlte der arme Taube nur einen Zuwachs von Schmerz.

In diesem Augenblicke sah er auf dem obern Stock einen Menschen, der langsam auf und abging. Es war der Archidiakonus. Quasimodo erhob sich, um zu ihm hinaufzusteigen. Der Priester entfernte sich eben durch die Thüre, die zum nördlichen Thurme führt, von dem man auf den Grèveplatz hinabsieht. Quasimodo folgte ihm. Als er auf die oberste Stufe der Treppe gekommen war, sah er sich, ehe er auf die Platform trat, vorsichtig um, wo der Priester sei. Dieser kehrte ihm den Rücken. Er stand am Geländer und blickte auf den Platz hinab. Quasimodo trat mit leisen Schritten hinter ihn, um zu sehen, was er betrachte. Die Aufmerksamkeit des Priesters war so sehr auf einen Punkt gerichtet, daß er den Tauben hinter sich nicht gehen hörte.

Unterhalb des Geländers, gerade an dem Punkte, wo der Priester stand, war eine steinerne Rinne. Ueber sie hinab richtete er seine starren Blicke auf den Grèveplatz.

Quasimodo brannte vor Begierde, ihn zu fragen, wohin er die Aegypterin gebracht habe; allein der Priester schien in diesem Augenblicke die ganze Welt um sich her vergessen zu haben. Seine Augen waren fest und unwandelbar auf einen Punkt geheftet. Er stand still und unbeweglich, und diese lautlose Unbeweglichkeit hatte etwas so Furchtbares, daß der arme Glöckner kein Wort vorzubringen vermochte. Er folgte bloß der Richtung der Augen des Priesters, und so fielen die Blicke des unglücklichen Tauben auf den Grèveplatz.

Jetzt sah er, was der Priester betrachtete. Die Leiter stand vor dem Galgen. Einiges Volk und viele Soldaten waren auf dem Platze. Ein Mensch schleifte auf dem Pflaster etwas Weißes, woran etwas Schwarzes hing. Dieser Mensch machte Halt unter dem Galgen. Jetzt geschah etwas, was Quasimodo nicht recht sah, weil ein Haufen Soldaten in der Richtung seines Auges stand. Jetzt stieg dieser Mensch die Leiter hinauf. Quasimodo sah ihn wieder deutlich. Er trug ein Weib auf seiner Schulter, ein junges, weißgekleidetes Mädchen. Dieses Mädchen hatte einen Strick um den Hals. Quasimodo erkannte sie, es war die Aegypterin.

Jetzt stand der Mensch oben an der Leiter und befestigte den Strick. Der Priester beugte sich über das Geländer, um besser sehen zu können.

Plötzlich stieß der Mensch die Leiter mit den Fersen um, und Quasimodo, dem der Athem stehen geblieben war, sah die Unglückliche, mit dem Henker auf dem Nacken, zwei Klafter hoch vom Pflaster, an dem Stricke schweben. Der Strick schwankte hin und her, und ihr Körper gab die letzten Zuckungen von sich. Der Priester, den Hals weit ausgestreckt und mit aus ihren Höhlen getretenen Augen, sah dem furchtbaren Schauspiele zu. Ein teuflisches Lachen ertönte aus seinem Munde und wurde in den Zügen seines bleichen Antlitzes sichtbar. So lacht nur, wer die Menschheit ganz ausgezogen hat. Quasimodo hörte dieses Lachen nicht, aber er sah es auf dem Gesichte des Priesters. Eine plötzliche Wuth ergriff ihn, er stürzte sich auf den Priester, faßte ihn mit seinen starken Fäusten und stieß ihn in den Abgrund hinab,

»Tod und Verdammniß!« rief der Priester im Fallen.

Die steinerne Rinne unterhalb des Geländers hielt ihn auf. Er umfaßte sie verzweiflungsvoll mit beiden Armen. In dem Augenblicke, wo er den Mund öffnen wollte, um einen zweiten Schrei auszustoßen, erblickte er über sich das Gesicht des Rächers. Es war Quasimodo, sein Pflegsohn. Jetzt schwieg er.

Unter ihm lag der Abgrund. Ein Fall von mehr als zweihundert Fuß und das Steinpflaster. In dieser furchtbaren Lage sprach der Priester kein Wort, stieß keinen Seufzer aus. Nur strengte er alle seine Kräfte an, um an der Rinne hinaufzusteigen; aber seine Hände konnten den Granit nicht fest fassen und seine Füße glitschten an der glatten Mauer ab.

Quasimodo hätte ihm, um ihn aus dem Abgrund zu ziehen, nur die Hand reichen dürfen, aber er sah nicht einmal nach ihm hin. Er blickte starr und unverwandt auf den Grèveplatz, auf den Galgen, auf die Aegypterin. Dort hing Alles, was ihm auf der Welt lieb war. Stumm und unbeweglich blickte er hin, und ein Strom von Thränen entrann seinem einzigen Auge.

Inzwischen mattete sich der Priester, in der Luft schwebend, vergeblich ab. Der Schweiß trof über seine Stirne herab, seine Nägel waren blutig gerissen, seine Kniee an der Mauer wund gerieben. Er hörte bei jeder Bewegung seinen Priesterrock, der sich in der Rinne festgehängt hatte, krachen und brechen. Um das Unglück voll zu machen, endigte sich die Rinne in einem bleiernen Rohr, das sich unter dem Gewicht seines Körpers bog. Der Priester fühlte, wie es allmählig nachgab und sich neigte. Wenn die Kraft seiner Arme erschöpft, wenn sein Priesterrock zerrissen, wenn das Blei gebogen war, dann mußte er in den Abgrund fallen. Er schloß die Augen, um nicht zu sehen; dann öffnete er sie wieder, warf einen Blick auf den Platz, auf den gähnenden Abgrund hinab; der Schrecken schloß sie ihm wieder, und die Haare auf seinem Haupte stiegen empor.

Es lag etwas Furchtbares in dem tiefen Schweigen dieser beiden Menschen. Während der Priester einige Fuß unter ihm zwischen Leben und Tod schwebte, blickte der Zwerg, still weinend, auf den Grèveplatz, auf den Galgen, auf die Aegypterin hinab.

Da der Priester sah, daß jede Bewegung seinen Fall nur beschleunigen mußte, hielt er sich ruhig. Da hing er, die Rinne umfassend, kaum athmend, kein Glied rührend. Man sah keine andere Bewegung an ihm, als jene unwillkürliche Zuckung des Bauches, die man im Traume empfindet, wenn man zu fallen glaubt. Bald sah man seine Augen geschlossen, bald offen und in den Abgrund starrend. Je mehr und mehr neigte er sich dem Falle zu, seine Finger glitschten an der Rinne; er fühlte die Schwäche seiner Arme zunehmen und seinen Körper schwerer werden. Das bleierne Rohr neigte sich mit jedem Augenblicke mehr dem Abgrunde zu. Er heftete den Blick auf die unbeweglichen steinernen Bilder um ihn her, die gleich ihm über dem Abgrund schwebten, aber ohne Schrecken für sich und ohne Mitleid für ihn. Alles um ihn her war von Stein: vor seinen Augen die steinernen Bildsäulen, unter ihm, tief im Abgrund, das steinerne Pflaster, über ihm der weinende Quasimodo.

Vom Platze aus blickten einige Neugierige zum Thurme empor. Ihre Stimmen drangen in der reinen Morgenluft bis zum Ohre des Priesters und er hörte sie sagen: »Dem hilft kein Gott, er muß den Hals brechen!«

Quasimodo weinte.

Endlich wagte der Priester einen letzten Versuch. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, und es gelang ihm, einen Schuh hoch empor zu steigen. Aber die Heftigkeit seiner Bewegung bog das Blei vollends, machte seinen Priesterrock bersten; er fühlte die Kraft seiner Arme zu schwach, das ganze Gewicht seines Körpers allein zu tragen, ließ sie los und stürzte in den Abgrund.

Quasimodo sah ihn fallen und weinte.

Der Priester lag zerschmettert auf dem Pflaster. Der Wind spielte in dem weißen Gewande der Aegypterin, die am Galgen hing. Quasimodo seufzte aus tiefer Brust: »Oh! Alles zumal, was mir im Leben lieb war.«


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