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Der Archidiakonus war nicht mehr in der Liebfrauenkirche, als sein angenommener Sohn den unseligen Knoten, worin der Priester sich und die Aegypterin gefangen hatte, mit einem raschen Streiche zerhieb. Nachdem er in die Sakristei zurückgekommen war, riß er seinen priesterlichen Ornat vom Leibe, warf ihn ungestüm dem Meßner zu und entfloh durch eine Hinterthüre des Klosters. Er ließ sich durch einen Schiffer auf das linke Ufer der Seine übersetzen, eilte vorwärts und vertiefte sich in die engen Gassen der Universität, planlos herumirrend, bei jedem Schritte auf Haufen beiderlei Geschlechts stoßend, die lustig der Sct. Michelsbrücke zueilten, in der Hoffnung, noch zeitig genug zu kommen, um die Hexe hängen zu sehen. Er war bleich, blickte verwirrt umher, erkannte weder Menschen noch Dinge, war geblendeter als ein Nachtvogel, den ein Haufen Kinder am hellen Tage verfolgt. Er wußte nicht mehr, wo er war, was er dachte, ob er träumte. Nur vorwärts, vorwärts, war sein Gedanke, gleichviel, auf welchem Wege, durch welche Straße; er ging, lief, rannte davon: der Richtplatz, der Galgen folgte ihm auf den Fersen. So verließ er die Stadt durch das Thor Sct. Victor und setzte seine Flucht fort, so lange er noch etwas von den Thürmen der Universität und den zerstreuten Häusern der Vorstadt erblicken konnte. Erst als eine Biegung des Weges die verhaßte Stadt seinen Blicken ganz entzogen hatte, als er glauben konnte, daß er so gut als hundert Meilen davon entfernt sei, daß er sich in einem finsteren Gehölze, in einer öden Wüste befinde, erst da hielt er seinen Lauf an und schöpfte Athem aus tiefer Brust.
Jetzt stiegen furchtbare Gedanken in seinem Geiste auf. Er sah bis auf den Boden seiner Seele und schauderte. Er dachte an das unglückliche Geschöpf, das er dem Henker überliefert, an sich selbst, der ewig verloren war. Er warf einen düstern Blick seines Geistes auf den doppelt gewundenen Weg, den das Schicksal ihn und sein Opfer nehmen ließ, bis sie in der Mitte zusammentrafen und unbarmherzig an einander zerschellten. Da trat vor seinen Geist die Thorheit der ewigen Gelübde, die Nichtigkeit der Wissenschaft, der Religion, der Tugend, selbst die Nutzlosigkeit des Daseins eines Gottes. Er berauschte sich in bösen Gedanken, und als sie Raum in seiner Seele gewonnen hatten, da lachte der Satan in seinem Herzen.
Indem er so bis auf den Grund seiner Seele schaute, entdeckte er, welcher weite Raum darin für das Spiel menschlicher Leidenschaften offen sei, und klagte Gott und die Menschen an. Allen Haß, alle Bosheit, jede Leidenschaft, die in ihm war, wühlte er aus ihren verborgensten Tiefen auf, untersuchte sie mit dem kalten Blicke des Seelenarztes und fand, daß dieser Haß, diese Bosheit nur verfehlte Liebe sei, daß die Liebe, diese Quelle jeder Tugend des Mannes, in das Herz eines Priesters geworfen, nur Jammer und Verderben bringe, daß ein Mann seines Schlags, wenn er Priester wird, sich selbst zum Teufel macht. Jetzt entstieg seiner Brust ein gräßliches Lachen der Verzweiflung, er hatte sein Geschick als Priester erfüllt: die Liebe in ihm war zur Giftpflanze geworden, sie hatte den Gegenstand seiner Neigung an den Galgen, ihn selbst an die Pforten der Hölle geführt.
Einen Augenblick vergingen ihm die Sinne, dann lachte er wieder laut auf, er dachte an das Possenspiel des Lebens: Phöbus, den er so bitter haßte, nicht todt, sondern in voller Lebenskraft, munter und vergnügt, in schönen Kleidern, eine neue Geliebte am Arme führend, damit sie zusehe, wie man die alte hängt! Alle die Menschen, die er haßte und verachtete, am Leben; Esmeralda allein, die er liebte, dem Tode geweiht.
Jetzt versank er in tiefe, finstere Träume; er dachte an das Glück, das er auf Erden finden konnte, wenn der Gegenstand seiner Neigung nicht ein ägyptisches Mädchen, er selbst nicht ein Priester gewesen wäre, wenn es keinen Phöbus gegeben, wenn Esmeralda ihn geliebt hätte. Welches Leben heiterer Unschuld und gegenseitiger Liebe führten nicht viele tausend glückliche Menschen auf der Erde! Auch er und Esmeralda konnten ein solches glückliches Paar sein, und wenn er sich die Seligkeit dieses Zusammenlebens dachte, am Ufer eines klaren Baches, in einem schattenreichen Hain, da zerrissen Liebe und Verzweiflung sein Herz.
Sie als seine Geliebte war der einzige Gedanke, der ihm ohne Unterlaß vorschwebte, der ihn peinigte, folterte, marterte bis zum Tod. Er bedauerte nicht, was er gethan, er bereute keine seiner Thaten, er hätte jede noch einmal begangen; lieber wollte er Esmeralda in der Faust des Henkers, als in den Armen ihres Geliebten sehen. Seine Gedanken verwirrten sich in diesem gräßlichen Bilde, er riß sich die Haare aus, um zu sehen, ob der Jammer sie nicht weiß gemacht habe.
Jetzt, dachte er, jetzt in dieser unseligen Minute legt man ihr vielleicht den Strick um den Hals. Dieser Gedanke trieb ihm den Angstschweiß aus. Plötzlich lachte er wieder satanisch auf: Esmeralda schwebte an ihm vorüber, wie an dem Tage, da er sie zum erstenmal sah, singend, tanzend, in voller Lust und Blüthe des Lebens; dann verschwand sie und erschien plötzlich wieder, im bloßen Hemde, mit nackten Füßen, den Strick um den Hals; sie stieg die Galgenleiter hinauf, er stieß einen furchtbaren Schrei aus und sank in die Kniee.
Während dieser Sturm der Leidenschaften jede Wurzel, Alles, was in seiner Seele festhielt, niederriß und zertrümmerte, warf der Unglückliche einen Blick auf die Natur um ihn her. Ueberall Ordnung, Ruhe, Maß und Ziel. Dort hütete ein Schäfer seine Heerde, hier pfiff der Müller sein Liedchen und sah zu, wie sich die Flügel seiner Windmühle drehten; dort lockte eine Henne ihre Jungen, hier wiegte sich ein Schwan auf dem Teich, Alles ruhig und friedlich umher; nur ein sanfter Wind, der kaum die Spitzen der Grashalme kräuselte und leichte Wölkchen am blauen Himmel vor sich hintrieb. Dieses thätige und doch ruhige Leben um ihn her erfüllte sein von Leidenschaften zerrissenes Herz mit neuer Verzweiflung, er floh unaufhaltsam weiter.
So lief er durch Wald und Feld, so lange die Sonne am Himmel stand. Diese Flucht vor der Natur, vor dem Leben, vor sich selbst, vor den Menschen, vor Gott, vor Allem, was da ist, dauerte den ganzen Tag. Von Zeit zu Zeit warf er sich mit dem Gesicht zur Erde und riß mit seinen Nägeln das junge Korn aus. Bisweilen hielt er still in der einsamen Straße eines verlassenen Dorfes, und sein Kopf war so wüste und leer, daß er ihn in beide Hände faßte, um ihn aus den Schultern zu reißen und auf dem Pflaster zu zerschmettern.
Als die Sonne unterging, warf er einen neuen Blick in sein Inneres und fand, daß er nahe am Wahnwitz sei. Der Sturm, der von dem Augenblicke an in ihm tobte, als er die Hoffnung und den Willen aufgegeben hatte, Esmeralda zu retten, hatte in seiner Seele keine einzige richtige Idee, keinen gesunden Gedanken mehr übrig gelassen. Seine Vernunft lag in tiefem Seelenschlummer. Nur noch zwei bestimmte Bilder schwebten ihm vor: Esmeralda und der Galgen. Alles Andere war schwarz in seiner Seele. Diese beiden Bilder, also zusammengestellt, boten seiner Einbildungskraft eine furchtbare Gruppe dar, und je mehr er seine Gedanken darauf fesselte, um so höher stiegen ihre Gestalten in phantastischer Progression, die eine an Reiz, an Schönheit, an Glanz, die andere an schauerlicher Nacht, so daß zuletzt Esmeralda ihm als ein glänzendes Gestirn am fernen Himmel, der Galgen als ein Riesenarm erschien, der sich in dunkler Nacht ausstreckt.
Während alle diese Qualen durch seine Seele gingen, kam ihm nicht ein einziges Mal der Gedanke an freiwilligen Tod. So hatte die Natur diesen Elenden geschaffen, er hing fest am Leben. Vielleicht erblickte er hinter dem Vorhang den offenen Schlund der Hölle.
Der Tag neigte sich. Das lebende Wesen, das noch in ihm war, dachte verwirrt an die Rückkehr. Er glaubte sich weit von der Stadt; er sah sich um und fand, daß er bloß die Runde um die Universität gemacht hatte. Auf einsamen Pfaden kehrte er nach Paris zurück, er fürchtete das Angesicht der Menschen. Als er an die Seine kam, stieg er schweigend in ein Schiff und ließ sich den Strom aufwärts rudern. Am Grèveplatze stieg er aus. Es war dunkel, und er erkannte nur undeutlich, gleich den vorübergehenden Gestalten der Phantasmagorie, die Gegenstände um sich her. Die Ermattung eines großen Schmerzes bringt häufig diese Wirkung auf den menschlichen Geist hervor.
Seine Sinne verwirrten sich, Gestalten der Einbildungskraft stiegen in seinem Geiste empor. Er sah weder Straßen noch Menschen in ihrer natürlichen Gestalt, die Steine schienen unter seinen Füßen zu leben, die Menschen schwebten wie nächtliche Schatten an ihm vorüber. Er sah nur noch ein Chaos unbestimmter Gegenstände um sich her, und wußte nicht, woher er kam, noch wohin er ging. Auf der Sct. Michelsbrücke erblickte er ein Licht an einem Fenster im unteren Stocke; er näherte sich. Durch ein zersprungenes Fenster sah er in ein schmutziges Zimmer, dessen Anblick verwirrte Erinnerungen in seinem Geiste erweckte. In dem Zimmer, das durch eine schwach brennende Lampe erleuchtet war, saß ein junger Mensch, von blonden Haaren und einem vor Vergnügen leuchtenden Gesicht; er umarmte eben mit großem Gelächter ein junges Mädchen, das sehr frech gekleidet war; neben der Lampe saß ein altes Weib, das spann und dazu mit schrillender Stimme sang. Da der junge Mensch nicht fortwährend lachte, so kam der Gesang in Bruchstücken zu den Ohren des Priesters; er klang etwas unverständlich und hexenartig:
Spindel, dreh' dich an dem Rocken,
Dreh' dem Henker einen Strick!
Zu dem Satan auf dem Brocken
Hexlein nimmer kehrt zurück.
Frucht nicht, sondern Hanf mußt säen,
Hanf mußt säen, keine Frucht,
Hexlein einen Strick zu drehen,
Meister nach dem Hexlein sucht.
Nach dem Kind des Höllenlebens
Satan auf dem Blocksberg sucht,
Meister Satan, suchst vergebens,
Erntet seiner Sünden Frucht!
Der junge Mensch unterbrach von Zeit zu Zeit diesen Gesang durch Gelächter und Liebkosungen, die er an die feile Dirne verschwendete. Das Weib war die alte Falourdel, das Mädchen eine öffentliche Dirne und der junge Mensch sein Bruder Johannes. Der Blick des Priesters war fest auf die Gruppe gerichtet; er kannte dieses Zimmer, er kannte dieses alte Weib. Schauerliche Erinnerungen stiegen in seiner Seele auf, er wollte fliehen und sein Fuß war fest in den Boden gewurzelt.
Jetzt trat sein Bruder Johannes an ein Fenster am entgegengesetzten Ende des Zimmers, öffnete es, blickte den Fluß aufwärts, wo ihm tausend beleuchtete Fenster entgegenstrahlten, und sagte, indem er das Fenster wieder schloß: »Bei meiner armen Seele, es ist schon Nacht! Der liebe Gott zündet seine Sterne und die Pariser Spießbürger ihre Talglichter an.«
Hierauf trat er an den Tisch, zerschlug eine Bouteille und rief zornig: »Schon leer, und ich habe kein Geld mehr! Isabelle, ich wollte, daß der liebe Gott Deine beiden weißen Brüste in zwei schwarze Bouteillen verwandelte, aus denen ich Tag und Nacht Burgunder trinken könnte.«
Das Freudenmädchen lachte über diesen Scherz und der Student ging fort.
Der Archidiakonus hatte kaum noch so viel Zeit übrig, sich auf den Boden zu werfen, um nicht von seinem Bruder erkannt zu werden. Zum Glück war die Straße finster und Johannes Frollo betrunken. Gleichwohl nahm er den auf dem Boden liegenden Archidiakonus wahr.
»Oh! Oh! Da liegt auch Einer, der heute ein fideles Leben geführt hat!« sagte er und stieß ihn mit dem Fuße an. Der Archidiakonus gab kein Lebenszeichen von sich. »Toll und voll!« fuhr der Student fort. »Ein wahrer Blutigel des Weinfasses! Ein Kahlkopf!« fügte er hinzu, indem er sich auf ihn niederbückte, »ein alter betrunkener Mann! Fortunate senex!«
Er entfernte sich, indem er vor sich hinmurmelte: Das ist Alles einerlei! Ja, ja, es ist freilich eine schöne Sache um die Vernunft, und mein Bruder, der Archidiakonus, ist sehr glücklich, daß er so weise ist und Geld hat.
Nachdem sich der Student entfernt hatte, erhob sich der Archidiakonus und rannte athemlos der Liebfrauenkirche zu, deren ungeheure Thürme er in nächtlichem Schatten über die Häuser emporragen sah. Als er auf dem Platze ankam, schauderte er zurück und wagte nicht die Augen zu dem unseligen Gebäude zu erheben. Oh, sagte er leise, ist es denn wahr, daß solches hier vorgegangen ist, hier auf diesem Platze, erst heute, diesen Morgen?
Er blickte an der Kirche hinauf, sie war so düster als seine Seele. Hinter ihr leuchtete der Himmel von Sternen.
Die Thüre des Klosters war verschlossen, aber der Archidiakonus trug immer den Schlüssel des Thurmes bei sich, in welchem sich sein Laboratorium befand. Mit diesem öffnete er, um in die Kirche zu gelangen.
Drinnen herrschte die Dunkelheit und Stille einer weiten, einsamen Höhle. Sie war noch schwarz behängt, wie am heutigen Morgen. Die schwarzen Tücher reichten bis zum Bogengewölbe der langen Chorfenster hinauf, deren gemalte Gläser, vom Monde beleuchtet, in der Nacht nur ein zweifelhaftes, schwankendes Farbenspiel hatten, eine Art weiß, blau und violett, wie man es nur auf dem Gesichte Verstorbener findet. Als der Priester zu diesen strahlenden Rundungen der Bogenfenster des Chors hinaufsah, glaubte er Mützen zur Hölle verdammter Bischöfe zu erblicken. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, schien es ihm, daß ihn ein Halbzirkel bleicher Todtengesichter anstarre.
Entsetzt floh er durch die Kirche hin; aber das leblose Gebäude fing an sich zu regen und zu bewegen; jede Säule, jeder Stein wackelte, wankte, wurde lebendig; die unermeßliche Kirche schien ein großer Elephant zu werden, er schnaubte, machte Riesenschritte, die hohen Pfeiler waren seine Füße, die Thürme sein Rüssel, die schwarze Behängung die Decke, die auf seinem Rücken hing.
Jetzt war der Wahnwitz des Priesters auf einen solchen Grad der Intensität gestiegen, daß die äußere Welt für den Unglücklichen nur noch eine Art Apokalypse, sichtbar, fühlbar, schauderhaft war. Jetzt erblickte er in der allgemeinen Dunkelheit hinter einer Reihe von Pfeilern einen röthlichen Schein, er eilte darauf zu, als auf einen Rettungsstern. Es war die ewige Lampe, die unter ihrem Eisengitter Tag und Nacht leuchtete. Er eilte auf das Brevier zu, das aufgeschlagen da lag, um in diesem heiligen Buche einigen Trost zu finden. Er las folgende Stelle aus dem Buche Hiob: »Es schwebte ein Geist an mir vorüber, und sein Hauch berührte meine Stirne, und die Haare meines Hauptes standen mir zu Berge.«
Diese unheilverkündenden Worte schlugen ihn vollends zu Boden, seine Kniee versagten ihm den Dienst und er sank auf den kalten Stein nieder. Der Schatten der an diesem Tage Hingerichteten schwebte an ihm vorüber. Tausend furchtbare Gedanken kreuzten sich in seinem Gehirne, und es schien ihm, daß sein Kopf ein rauchendes Kamin der Hölle geworden sei.
So blieb er lange Zeit liegen, erschöpft, keines Gedankens mehr mächtig, ohne Widerstand hingegeben in die Hände des Dämons. Endlich gewann er wieder einige Kraft, und der Gedanke kam ihm, sich in seinen Thurm, zu seinem getreuen Quasimodo zu flüchten. Er stand auf und nahm die ewige Lampe mit sich, denn er hatte Furcht. Das war ein Kirchenraub, aber was lag ihm heute daran!
Langsam stieg er die Stufen des Thurmes hinauf. Jetzt fühlte er sich von einem frischen Winde angeweht, er stand unter der Thüre der obersten Galerie. Die Luft war kalt; am Himmel zogen Wolken hin, die der Wind über einander weg trieb, so daß sie dem Eisgang eines Flusses im Winter glichen. Der Mond, durch die durchsichtige Hülle der leichten Wolken strahlend, erschien als ein himmlisches Fahrzeug, das im Eismeer der Lüfte gefangen war. Der Mond warf nur einen schwachen Glanz von sich, der Himmel und Erde aschenfarbig erscheinen ließ.
Der Priester blickte auf die dunkeln Häuser und Dächer der Stadt hinab. Da ertönte der Hammer der großen Glocke und kündigte die zwölfte Stunde der Nacht an. Zwölf Stunden waren verflossen, der Unglückliche dachte an die Mittagsstunde und schauderte zusammen. Oh! sagte er seufzend, jetzt ist sie kalt und todt!
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so erhob sich ein Wind, der seine Lampe auslöschte, und zugleich erschien im entgegengesetzten Winkel des Thurmes ein weißer Schatten, es war ein weibliches Wesen. Neben ihm ging eine weiße Ziege, die in den letzten Glockenschlag der Mitternacht ihr unheimliches Blöcken mischte.
Schauer des Todes ergriffen den Priester, doch hatte er die Kraft, hinzublicken. Sie war es wirklich, bleich und düster, ein Schatten. Ihre Haare fielen auf die Schulter herab, wie am Morgen; aber kein Strick schlang sich mehr um ihren Hals, ihre Hände waren nicht mehr gefesselt, sie war frei, sie war todt.
Ihr Schatten war weiß gekleidet und trug einen weißen Schleier auf dem Haupte. Sie kam langsam auf ihn zu, ihre Blicke waren zu den Wolken gerichtet. Die geisterhafte Ziege folgte ihr. Er wollte fliehen, aber seine Füße waren schwer, wie der Stein, auf dem sie standen. Bei jedem Schritte, den die Erscheinung vorwärts that, that er einen zurück. Das war Alles, was er vermochte. So trat er unter die dunkle Wölbung der Treppe zurück. Todesfurcht ergriff ihn bei dem Gedanken, daß ihm das Gespenst auch dahin folgen könne.
Die Erscheinung trat bis dicht an die Pforte, blieb einige Augenblicke stehen und ging dann langsam vorüber. Sie erschien ihm noch einmal so groß als im Leben, er hatte sie gesehen, ihr Hauch hatte ihn angeweht.
Nachdem sie vorüber war, stieg er langsam die Stufen hinab, eben so langsam, als sie geschritten war, stieren Blickes, mit emporstehenden Haaren, immer noch die ausgelöschte Lampe in der Hand tragend, nicht mehr lebend, selbst ein Gespenst. Als er so die Stufen hinabschritt, hörte er die lachende höhnende Stimme, eines Geistes: »Es schwebte ein Geist an mir vorüber, und sein Hauch berührte meine Stirne, und die Haare meines Hauptes standen mir zu Berge.«