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Phöbus war nicht todt. Leute dieses Schlags haben ein hartes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, außerordentlicher Advokat des Königs, der armen Esmeralda gesagt hatte: »er stirbt,« so geschah es wohl aus Irrthum, vielleicht gar aus Scherz. Als der Archidiakonus ihr sagte, »er ist todt,« so wußte er dies zwar nicht, aber er glaubte es, er zweifelte nicht daran, er hoffte es sogar. Es wäre ihm zu schwer gefallen, dem Mädchen, das er liebte, gute Nachrichten von seinem Nebenbuhler zu geben. Jeder Mann hätte wohl an seiner Stelle das Nämliche gethan.
Phöbus war zwar sehr verwundet, aber nicht tödtlich, wie der Priester gehofft hatte. Der Apotheker, zu dem ihn die Soldaten der Nachtwache im ersten Augenblicke getragen hatten, fürchtete acht Tage lang für sein Leben, und theilte sogar diese Besorgniß dem Patienten selbst in lateinischer Sprache mit. Gleichwohl gewann die Kraft der Jugend die Oberhand, und die Natur rettete, trotz der medicinischen Voraussagungen, den Kranken, und nahm ihn dem Arzt und dem Tod vor der Nase weg. Während er bei dem Apotheker auf dem Schragen lag, hatte er das erste Verhör des Advokaten des Königs und der Officialen erstanden. Dies hatte ihm viele Langeweile gemacht, und da er sich besser fühlte und ein zweites Verhör fürchtete, so machte er sich heimlich davon und ließ dem Apotheker seine goldene Sporen an Zahlungstatt zurück. Diese Abwesenheit störte übrigens den Gang der Untersuchung nicht. Die damalige Justiz kümmerte sich wenig darum, ob ein Kriminalprozeß pünktlich ausgefegt und aktenmäßig zugestutzt sei. Wenn nur der Angeklagte gehängt wurde, so war die Gerechtigkeit befriedigt. Die Richter glaubten Beweise genug gegen Esmeralda zu haben und fragten nicht darnach, ob Phöbus lebe oder todt sei.
Phöbus seinerseits war nicht weit geflohen.
Er hatte sich bloß zu seiner Compagnie begeben, welche zu Queue-en-Brie, einige Posten von Paris, in Besatzung lag. Es gelüstete ihn im mindesten nicht, persönlich in diesem Prozesse aufzutreten. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß er eine lächerliche Rolle darin spielen würde. Im Grunde wußte er selbst nicht, was er eigentlich von der ganzen Sache denken sollte. Unglaubig und abergläubisch zugleich, wie jeder Soldat, der nur Soldat ist, war er mit sich selbst nicht im Reinen über diese Ziege, die Zauberkünste machte, über ihre Herrin, die Esmeralda, die eine Zigeunerin war, und über den räthselhaften Knecht Ruprecht, der eben so schnell verschwunden als erschienen war. Er erblickte in der ganzen Geschichte mehr Hexerei als Wirklichkeit, und hielt das schöne Zigeunermädchen für eine Hexe und den Schwarzmantel für den Teufel selbst. In kurzer Zeit dachte Freund Phöbus nicht mehr an die Zauberin Similar, wie er sie nannte, noch an den Dolchstich, den ihm die Zigeunerin oder (gleichviel) der Knecht Ruprecht beigebracht hatte, und wenig kümmerte ihn der Ausgang des Prozesses. Das Bild der schönen Fleur-de-Lys zog in sein leeres Herz wieder ein; er stieg daher eines Tages auf sein Roß und ritt Paris zu, in der Hoffnung, daß nach Verlauf von zwei Monaten die alte Geschichte mit der Zigeunerin vergessen sein würde.
Als er auf den Platz der Liebfrauenkirche kam, sah er wohl einen großen Volksauflauf, kümmerte sich aber nichts darum, knüpfte den Zaum seines Pferdes an den Ring in der Mauer und stieg munter die Treppen hinauf zu seiner schönen Braut.
Fleur-de-Lys war allein mit ihrer Mutter. Sie hatte die Scene mit der ägyptischen Hexe, ihrer Ziege und dem verfluchten Alphabet noch nicht vergessen, und die lange Abwesenheit ihres Bräutigams lag ihr schwer auf dem Herzen. Als aber ihr Phöbus eintrat, fand sie ihn so schön, so liebetrunken und so glänzend in seiner neuen Uniform, daß sie freudig erröthete. Das Edelfräulein selbst war reizender als je. Phöbus, der in dem Flecken Queue-en-Brie seit zwei Monaten bloß plumpe Bauerndirnen gesehen hatte, ward berauscht vom Anblicke ihrer Schönheit und näherte sich ihr mit einem so leidenschaftlichen Wesen, daß alsbald der Friede ohne vorgängige Präliminarien und nachfolgende Stipulationen abgeschlossen wurde.
Das Fräulein saß am Fenster und stickte immer noch an ihrer Grotte des Neptun. Phöbus stand hinter der Lehne ihres Sessels, und sie flüsterte ihm ihre verliebten Vorwürfe zu.
»Böser Mensch, warum habt Ihr Euch denn zwei ganze lange Monate nicht blicken lassen?«
»Ich schwöre Euch,« antwortete Phöbus ausweichend. »Ihr seid so schön, daß Ihr einen Erzbischof zum Narren machen könntet.«
Sie konnte sich nicht enthalten zu lächeln.
»Stille davon, mein Herr! Es ist jetzt nicht von meiner Schönheit die Rede, sondern eine Antwort will ich haben.«
»Je nun, Bäschen, ich bin in meine Garnison beordert worden.«
»Und wohin, wenn es Euch gefällig ist? Und warum habt Ihr nicht Abschied von mir genommen?«
»Nach Queue-en-Brie.«
Phöbus war sehr erfreut, daß er durch die Antwort auf die erste Frage die Beantwortung der zweiten umgehen konnte.
»Das ist ja gar nicht weit von hier, mein Herr! Warum habt Ihr mich denn in dieser Zeit nicht ein einziges Mal besucht?«
Hier kam unser Phöbus in ernstliche Verlegenheit. »Weil . . . Der Dienst . . . Und dann, schönstes Bäschen, war ich krank.«
»Krank?« fragte sie bestürzt.
»Ja! . . . Verwundet.«
»Verwundet!«
Das arme Kind war ganz bestürzt.
»Oh! Seid ruhig deßhalb, es hat nichts zu bedeuten,« sagte Phöbus nachlässig. »Ein Streit, ein Säbelhieb, was kümmert Ihr Euch darum?«
»Was ich mich darum kümmere?« rief Fleur-de-Lys, und ihre schönen blauen Augen glänzten in Thränen. »Das könnt Ihr mich unmöglich im Ernste fragen. Was ist es mit diesem Säbelhieb? Ich will Alles wissen.«
»Je nun, Schönste, ich habe ein Hühnchen gepflückt, mit Mahe-Fedy, dem Lieutenant von Saint-Germain-en-Laye; Ihr wißt ja, und wir haben uns etwas Fleisch vom Leibe gehackt. Das ist der ganze Spaß.«
Der Lügner wußte wohl, daß eine ausgefochtene Ehrensache einen Mann in den Augen eines Weibes doppelt männlich erscheinen läßt. Fleur-de-Lys blickte ihn an, ganz ergriffen von Furcht, Vergnügen und Bewunderung. Sie war gleichwohl noch nicht vollkommen beruhigt.
»Wenn Ihr nur auch gut geheilt seid, mein Phöbus!« sagte sie. »Ich kenne Euern Mahe-Fedy nicht, aber es muß ein garstiger Mensch sein. Und was war denn die Ursache dieses Streites?«
Hier wußte unser Phöbus, dessen Einbildungskraft nicht besonders schöpferisch war, nicht mehr, wie er sich aus der Schlinge ziehen sollte.
»Oh! Was weiß ich? . . . Eine Kleinigkeit, ein Pferd, ein jähes Wort! Schönste Base,« rief er plötzlich, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »was ist denn für ein Lärm auf dem Platze da unten?«
Er trat an das Fenster: »Mein Gott, Bäschen! Seht doch die Menschenmenge da unten!«
»Ich weiß es nicht, was es gibt,« antwortete Fleur-de-Lys. »Es scheint, daß eine Hexe vor der Kirche Buße thun soll, ehe sie gehängt wird.«
Phöbus glaubte die Geschichte der Esmeralda längst beendigt und kümmerte sich mithin wenig um die Hexe auf dem Platze da unten. Gleichwohl that er noch einige Fragen.
»Wie heißt diese Hexe?«
»Ich weiß es nicht,« antwortete sie.
»Und was soll sie gethan haben?«
Fleur-de-Lys zuckte mit den Achseln: »Ich weiß es nicht.«
»Oh, du mein lieber Heiland!« fiel die alte Dame ein, »es gibt jetzt so viele Hexen, daß man sie verbrennt, ohne, glaube ich, ihren Namen zu wissen. Es sind ihrer so viele, als die Wolken, die am Himmel ziehen. Im Uebrigen kann man ruhig sein, denn der liebe Gott wird schon sein Register über sie führen.«
Die ehrwürdige Dame erhob sich und trat an das Fenster: »Jesus, mein Herr! Ihr habt Recht, Phöbus. Welche Menge von Menschen! Bis auf den Dächern, gelobt sei Gott! Das erinnert mich an meine Zeit, Vetter Phöbus. Beim Einzug Königs Karl VII. war auch eine solche Menschenmenge versammelt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre es war. Nicht wahr, wenn ich Euch das erzähle, kommt es Euch alt vor, und mir jung. Aber damals gab es ganz andere Leute als jetzt. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde, und so saßen alle Damen hinter ihren Rittern. Ich erinnere mich, daß man gewaltig lachte, weil die Dame Amanyon-de-Garlande, die sehr klein war, hinter Herrn Matefelon, einem Ritter von gigantischer Gestalt, saß, der die Engländer schockweise zusammen gehauen hatte. Oh, wie schön war das Alles, und wie die Oriflamme wehte! Es ist doch betrübt, wenn man daran denkt, daß das Alles gewesen ist und jetzt nicht mehr ist!«
Die beiden Liebenden hörten kein Wort von dem, was die alte Dame sagte. Phöbus war auf seinen Posten hinter der Lehne des Stuhls, auf dem Fleur-de-Lys saß, zurückgekehrt, und sie wechselten süße Reden und zärtliche Blicke.
»Phöbus,« sagte Fleur-de-Lys leise, »wir heirathen uns in drei Monaten. Schwöre mir, daß Du nie eine andere geliebt hast, als mich.«
»Das schwöre ich Dir, mein Engel!« antwortete Phöbus mit einem leidenschaftlichen Blicke. Er überredete sich in diesem Augenblicke vielleicht selbst, daß dem so sei.
Als die gute Mutter sah, daß das Brautpaar so einig und zärtlich war, verließ sie das Zimmer, um einige häusliche Geschäfte zu besorgen. Phöbus nahm es wahr, das Alleinsein mit Fleur-de»Lys und seine aufgeregte Leidenschaft brachten ihm seltsame Gedanken in den Kopf. Fleur-de-Lys liebte ihn, er war ihr Bräutigam, er war allein mit ihr, seine alte Neigung für sie war wieder erwacht, und was ist es am Ende, wenn Jemand seine Frucht als Gras einheimst? Solche und andere Gedanken gingen durch den Kopf unseres Phöbus und sprachen sich so seltsam in seinen Blicken aus, daß Fleur-de-Lys ganz davor erschrack. Sie blickte um sich und sah ihre Mutter nicht mehr im Zimmer.
»Mein Gott!« sagte sie erröthend und unruhig, »es ist mir sehr heiß!«
»Es ist auch nicht weit von Mittag,« antwortete Phöbus, »und die Sonne brennt; ich will die Vorhänge schließen.«
»Nein, nein,« rief die geängstigte Jungfrau, »ich muß Luft haben.«
Sie erhob sich und eilte wie ein Reh, das den Wind der verfolgenden Meute spürt, dem Balkon zu. Phöbus, ziemlich verstimmt, folgte ihr dahin.
Der Platz vor der Liebfrauenkirche bot in diesem Augenblicke ein seltsamtrauriges Schauspiel dar. Er war von einer unermeßlichen Menschenmenge erfüllt, die aus allen anliegenden Straßen herbeiströmte. In der Mitte des Platzes bildeten Büchsenschützen und Lanzenträger einen Kreis, den die Zuschauer nicht betreten durften. Die weiten Pforten der Kirche waren geschlossen, während die zahllosen Fenster der Häuser mit vielen tausend Zuschauern besetzt waren.
Die Oberfläche dieser Menschenmasse war grau, schmutzig, erdfarbig. Das Schauspiel, welches sie erwartete, gehörte augenscheinlich zu denen, welche das traurige Vorrecht haben, die Hefe des Pöbels an sich zu ziehen. Ueber dieser Menschenmasse schwebte ein häßliches Geräusch, mehr Gelächter als Geschrei; man erblickte mehr Weiber als Männer.
Von Zeit zu Zeit durchdrang irgend eine heisere Stimme das allgemeine Geräusch.
»He! Mahiette Balliffre! Hängt man sie hier?«
»Einfaltspinsel! Hier wird Kirchenbuße gethan in bloßem Hemde! Der liebe Gott wird ihr lateinische Brocken in's Gesicht husten. Das geschieht immer hier Mittags um 12 Uhr. Willst Du sie hängen sehen, so gehe auf den Grèveplatz.«
»Das kann ich hernach auch noch.«
»Ist es wahr, daß sie keinen Beichtvater angenommen hat?«
»Ich glaube, ja!«
»Seht doch den Heidenkopf!«
Diese und andere Reden ähnlicher Art stiegen von Zeit zu Zeit aus dem verwirrten Lärm der Menschenmenge empor.
Fleur-de-Lys blickte mitleidig auf den Platz hinab und sagte: »O mein Gott, das arme Geschöpf!«
Phöbus, der in diesem Augenblicke nur Augen für sie hatte und sich wenig um das Gewimmel auf dem Platze kümmerte, spielte verliebt mit seiner Hand an ihrem Leibgürtel. Sie wendete sich lächelnd und bittend um: »Laß mich doch, Phöbus! Wenn meine Mutter käme, würde sie Deine Hand sehen.«
In diesem Augenblicke schlug die Uhr auf dem Glockenthurme der Liebfrauenkirche langsam die zwölfte Stunde. Ein Gemurmel der Zufriedenheit stieg aus der Menge empor. Kaum war der letzte Schlag der Glocke verhallt, als alle Köpfe in Bewegung kamen und sich vom Pflaster, von den Fenstern, von den Dächern der weithinschallende Ruf hören ließ: »Da ist sie!«
Fleur-de-Lys bedeckte ihre Augen mit beiden Händen, um nichts zu sehen.
»Komm in's Zimmer zurück, meine Liebe!« sagte Phöbus.
»Nein,« antwortete sie und öffnete aus Neugierde die Augen, welche sie aus Furcht geschlossen hatte.
Ein Karren, von einem einzigen Pferde gezogen, erschien auf dem Platze. Er war von Bewaffneten zu Pferd umgeben, und auf der einen Seite desselben ritten die Beamten der Justiz und Polizei, Meister Jakob Charmolue an ihrer Spitze, in schwarzer Kleidung. In dem Karren saß ein junges Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Armen. Kein Priester war an ihrer Seite. Sie war im bloßen Hemd, und ihre langen schwarzen Haare fielen zerstreut über ihren Hals und die halbentblößten Schultern herab. Um den Hals hatte sie einen dicken grauen Strick, der ihre zarte Haut wund rieb. Unter diesem Strick erblickte man ein kleines glänzendes Amulet, das man ihr ohne Zweifel gelassen hatte, weil man denen, die dem Tode geweiht sind, keinen Wunsch mehr zu versagen pflegt. Die Zuschauer, die an den Fenstern standen, konnten auf dem Boden des Karrens ihre nackten Füße erblicken, welche sie aus einem letzten Instinkt weiblicher Schamhaftigkeit unter sich zu verbergen suchte. Zu ihren Füßen lag eine kleine weiße Ziege, die gleichfalls gebunden war. Die Verurtheilte hielt mit ihren Zähnen ihr schlecht befestigtes Hemd fest. Sie schien in der Fülle ihres Elends noch unter dem Gedanken zu leiden, daß man sie so, halbnackt, den Augen der Menge bloßstelle.
»Jesus, mein Gott,« sagte lebhaft Fleur-de-Lys. »Seht doch einmal hin, Vetter, das ist ja die garstige Zigeunerin mit der Ziege.«
Mit diesen Worten drehte sie sich gegen Phöbus um. Er starrte mit verwirrten Blicken den Karren an und wurde sehr bleich.
»Welche Zigeunerin mit der Ziege?« stotterte er verlegen.
»Wie!« fuhr Fleur-de-Lys fort, »erinnert Ihr Euch denn nicht?«
»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt.«
Phöbus that einen Schritt, um in's Zimmer zurückzukehren. Fleur-de-Lys, deren alte Eifersucht wieder erwacht war, warf ihm einen durchdringenden, von Mißtrauen erfüllten Blick zu. Sie erinnerte sich in diesem Augenblicke unbestimmt, von einem Hauptmann gehört zu haben, der in den Prozeß dieser Zigeunerin verwickelt sei.
»Was ist Euch?« fragte sie Phöbus. »Man könnte glauben, daß Ihr an diesem Weibe sehr warmen Antheil nehmt.«
»Ich? Im Geringsten nicht! Das wäre mir so!«
»So bleibt also und wartet das Ende ab,« erwiederte sie gebietend.
Der arme Phöbus mußte nothgedrungen ausharren. Was ihn etwas beruhigte, war, daß die Verurtheilte ihren Blick nicht vom Boden des Karrens erhob. Er erkannte in ihr nur allzu gewiß Esmeralda. Selbst in dieser letzten Todesnoth war sie noch schön. Im Uebrigen war sie mehr todt als lebendig, ihr Körper schwankte bei jeder Bewegung des Karrens wie eine leblose Sache; ihr Blick war stier und geistesabwesend. In ihrem Augenlid glänzte noch eine Thräne, aber unbeweglich und gleichsam gefroren.
Die traurige Cavalcade durchzog die Menschenmasse unter dem allgemeinen Geschrei der Freude und Neugierde. Gleichwohl muß man gestehen, daß diejenigen der Zuschauer, welche sie näher zu Gesicht bekamen und sie so schön und tiefgebeugt sahen, von innigem Mitleid ergriffen wurden.
Der Karren hielt vor dem großen Eingang der Liebfrauenkirche. Die Bedeckung reihte sich zu beiden Seiten. Eine feierliche Stille banger Erwartung herrschte, da öffneten sich langsam, wie aus eigener Kraft, die beiden Flügelthüren, und drehten sich pfeifend in ihren schweren Angeln. Man erblickte die tiefe Kirche in ihrer ganzen Länge, düster, schwarz behängt, kaum von einigen Wachskerzen erleuchtet, die in weiter Ferne auf dem großen Altar brannten. Das ganze Schiff der Kirche war einsam und leer. In den entfernten Chorstühlen sah man bloß die Köpfe einiger Priester sich undeutlich hin und her bewegen.
In demselben Augenblicke, da die Flügelthüren sich öffneten, drang aus der Kirche ein ernster, eintöniger, ergreifender Gesang, der das Haupt der Verurtheilten mit Bruchstücken klagender Psalmen gleichsam übergoß:
». . . Non timebo millia populi circumdantis me: exsurge, Domine; salvum me fac, Deus!«
». . . Salvum me fac, Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam.«
». . . Infixus sum in limo profundi; et non est substantia.«
Zu gleicher Zeit begann eine andere Stimme außer dem Chor auf den Stufen des Hauptaltars den melancholischen Opfergesang:
»Qui verbum audit, et credit ei qui misit me, habet vitam aeternam et in judicium non vedit; sed transit a morte in vitam.«
Dieser Gesang, den einige alte Priester aus der Finsterniß ihrer Kirche heraus auf dieses reizende Geschöpf, das voll Jugend und Lebenskraft im Strahl der Frühlingssonne sich badete, ausgoßen, dieser Gesang war die Todtenmesse. Das Volk hörte ihr mit Andacht zu.
Die Unglückliche, für welche dieser ganze kirchliche Apparat veranstaltet war, sah und hörte nichts davon. Ihre blauen Lippen bewegten sich, als ob sie betete, und als der Henkersknecht sich näherte, um sie vom Karren zu heben, hörte er das leise geflüsterte Wort: »Phöbus.«
Man band ihr die Hände los und führte sie nebst ihrer Ziege, die freudig blöckte, als sie sich frei fühlte, mit ihren nackten Füßen auf dem harten Pflaster bis an den Eingang der Kirche. Der Strick, den sie um den Hals hatte, schleifte hinter ihr nach, gleich einer Schlange, die ihrem Opfer auf dem Fuße folgt.
Jetzt hörte der Gesang auf. Eine lange Prozession von Priestern im Ornat trat, Psalmen singend, aus der Kirche. Man trug ihr viele Wachskerzen und ein goldenes Kreuz voran. Als die geistliche Prozession sich der Verurtheilten näherte, blickte sie auf, sah den Priester, der unmittelbar hinter dem Kreuze ging, und lispelte schaudernd: »Das ist er! Das ist wieder der Priester!«
Es war wirklich der Archidiakonus. Er trat vor mit zurückgebogenem Haupte, die Augen weit offen und mit starker Stimme singend:
»De ventre inferi clamavi, et exaudisti vocem meam.«
»Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.«
Als der Priester aus der Kirche trat und im hellen Licht der Sonne erschien, war er so ausnehmend bleich, daß man ihn für einen der auf den Grabsteinen der Kirche ausgehauenen Bischöfe halten konnte, der eben von den Todten auferstanden sei, um diejenige, die sterben sollte, an der Schwelle des Grabes zu empfangen.
Nicht minder bleich und fast leblos war die Verurtheilte. Sie öffnete mechanisch ihre Hand, um die gelbe Wachskerze zu empfangen, die man ihr darbot; sie hörte nicht die Stimme des Gerichtschreibers, der ihr die Verurtheilung zur Kirchenbuße vorlas. Als man ihr sagte, daß sie mit »Amen« zu antworten habe, sprach sie: »Amen.«
Erst als der Priester ihren Wächtern ein Zeichen gab, sich zu entfernen, und allein vor sie hintrat, kehrte einiges Leben und einige Kraft in ihren erschöpften Körper zurück. Sie fühlte ihr Blut in den Kopf steigen, und ein Ueberrest von Unwillen entzündete sich in dieser schon halb-leblosen Seele.
Der Archidiakonus näherte sich ihr langsam und fragte sie mit lauter Stimme: »Weib, hast Du Gott um Verzeihung angefleht für Deine Fehler und Sünden?«
Hierauf beugte er sich zu ihrem Ohr herab, als ob er ihre letzte Beichte empfangen wollte, und sagte leise: »Willst Du mich? Es steht noch immer in meiner Macht, Dich zu retten!«
Sie sah ihm starr in's Gesicht: »Fort, Teufel der Hölle! Oder ich gebe Dich an.«
Der Priester verzerrte sein Gesicht zu einem furchtbaren Lachen: »Man wird Dir nicht glauben! Geschwind, willst Du mich oder nicht?«
»Was hast Du mit meinem Phöbus gemacht?«
»Er ist todt!« erwiederte der Priester.
In diesem Augenblicke erhob er mechanisch das Haupt und sah den Todtgeglaubten in voller Lebenskraft neben Fleur-de-Lys auf dem Balkon stehen. Er schwankte, fuhr mit der Hand über die Augen, blickte wieder hin und murmelte eine Verwünschung.
»So sei es denn! Stirb! Niemand soll Dich haben!«
So sprach der Priester leise, dann erhob er seine Stimme, reckte die Hand gegen das Schlachtopfer aus und sprach laut und feierlich: »I nunc anima anceps, et sit tibi Deus misericors!«
Dies war die furchtbare Formel, mit welcher man diese düstern Ceremonien der Kirche zu schließen pflegte: Das Volk kniete nieder.
»Kyrie eleison!« sprachen die Priester.
»Kyrie eleison!« betete die Menge nach.
»Amen!« sagte der Archidiakonus.
Mit diesen Worten kehrte er der Verurtheilten den Rücken; er faltete die Hände, ließ das Haupt fromm auf die Brust herabsinken und kehrte zur Prozession der Priester zurück. Bald verschwand er mit seinem Zuge in den düstern Hallen der Kirche, und allmählig erlosch seine volltönende Stimme, welche die Worte der Verzweiflung sang:
»Omnes gurgites tui et fluctus tui super me transierunt!«
Die Thüren der Liebfrauenkirche waren offen geblieben, und man konnte in ihren düsteren Schlund blicken, der von keiner Kerze beleuchtet, von keiner menschlichen Stimme belebt war.
Die Verurtheilte blieb unbeweglich an ihrem Platze stehen, stumpfsinnig erwartend, was jetzt mit ihr geschehen würde. Zwei Henkersknechte, gelb gekleidet, näherten sich ihr, um ihr die Hände wieder auf den Rücken zu binden.
Bevor sie den Karren bestieg, um nun zum Richtplatze geführt zu werden, ergriff sie ein Schauder des Todes. Sie hob die thränenlosen Augen zum Himmel, zur Sonne, zu den Wolken empor, dann blickte sie um sich, auf die Menschen, auf die Häuser umher. Da stieß sie plötzlich einen Freudenschrei aus, sie hatte das Licht ihres Lebens, ihren Phöbus, auf dem Balkon erblickt. Der Richter hatte gelogen, der Priester hatte gelogen. Da stand er in voller Lebensfülle, in seiner stattlichen Kleidung, mit wehender Feder, das Schwert an der Seite.
»Phöbus!« schrie sie laut auf, »mein Phöbus!«
Sie wollte die Hände zu ihm erheben, aber sie waren gebunden. Jetzt sah sie ihn die Stirne runzeln, sah, wie ihn das schöne Mädchen, das neben ihm stand, mit zornigen Blicken betrachtete, sah dann, wie beide schnell vom Balkon verschwanden und die Thüre hinter sich schloßen.
»Phöbus!« rief sie verzweifelnd, »glaubst Du es denn?« In diesem Augenblicke schwebte ihr ein furchtbarer Gedanke vor; sie erinnerte sich, daß sie wegen begangenen Meuchelmords an der Person des Hauptmanns Phöbus de Chateaupers verurtheilt worden sei. Bis jetzt hatte sie Alles erduldet, aber dieser letzte Schlag war zu hart; sie fiel besinnungslos auf das Pflaster nieder.
»Tragt sie auf den Karren, damit das Ding zu Ende geht!« sprach Meister Jakob Charmolue zu den Henkersknechten.
Auf der Galerie oberhalb des großen Eingangs saß ein seltsamer Zuschauer dieses ganzen Auftritts, den bis jetzt noch Niemand beachtet hatte. Gleich beim ersten Anfang befestigte er einen langen Strick an einer der Säulen, so daß dessen Ende bis auf das Pflaster hinabging. Hierauf setzte er sich ruhig nieder, pfiff von Zeit zu Zeit und sah zu. Es war Quasimodo, der Glöckner. Jetzt, als eben die Henkersknechte die Verurtheilte auf den Karren tragen wollten, ergriff er den Strick mit beiden Händen, fuhr wie ein Blitz daran hinunter, stürzte wie ein Tiger auf die Henkersknechte los, schlug sie mit seinen beiden gewaltigen Fäusten zu Boden, ergriff die Verurtheilte, schwang sie hoch über sein Haupt empor, lief der Kirche zu und rief mit einer Donnerstimme: »Asyl! Asyl!«
»Asyl! Asyl!« wiederholte jubelnd die Menge, und viel tausend Hände klatschten ihm Beifall. Quasimodo's einziges Auge strahlte vor Stolz und Freude.
Diese Erschütterung brachte das unglückliche Wesen wieder zu sich. Sie öffnete die Augen, betrachtete Quasimodo, und schloß sie dann wieder, gleichsam erschreckt von dem Anblick ihres Retters.
Richter und Henker waren erstarrt. Die Liebfrauenkirche war ein Asyl, und die Verurtheilte, einmal in ihrem Schooße, war unverletzlich. Keine menschliche Justiz durfte die heilige Stätte überschreiten.
Quasimodo, der häßliche Zwerg, stand auf der Schwelle der Kirche, das reizende Geschöpf, das er dem Tod entrissen hatte, in seinen Armen haltend. Der Gnom blickte zu ihr hinab, und sein einziges Auge übergoß sie mit einem Strome von Zärtlichkeit, Schmerz und Mitleid. Dann erhob er es wieder, strahlend und triumphirend, zu der jubelnden Menge umher. Der Enthusiasmus des Volkes war auf das Höchste gestiegen. Quasimodo, der Bucklige, war sein Held geworden. Er stand wirklich als ein Held da, auf der Schwelle der Kirche. Dieser Waise, dieses Findelkind, dieser Auswurf der menschlichen Gesellschaft, er stand kräftig und erhaben da, der Staatsgesellschaft, die ihn ausgestoßen, der menschlichen Gerechtigkeit, der er ihr Opfer geraubt, der königlichen Gewalt selbst, der er die höhere Gewalt Gottes entgegenstellte, in's Angesicht trotzend.
Einige Minuten lang genoß der Zwerg seines Triumphs, dann stürzte er mit seiner geliebten Last in die Kirche. Der Beifall der Menge donnerte ihm nach. Alle suchten ihn mit den Augen. Bald erschien er wieder auf der Galerie oberhalb des Eingangs, während er die Gerettete schwebend über seinem Haupte trug und mit lauter Stimme rief: »Asyl! Asyl!«
»Asyl! Asyl! wiederholte jubelnd das Volk.
Zum zweitenmal zeigte sich der Zwerg auf der obern Plattform, das Mädchen im Arme, laufend mit der Eile eines Raubthiers, das seine Beute in Sicherheit bringt, und unter dem jubelnden Ruf: »Asyl! Asyl!«
»Asyl! Asyl!« wiederholte die Menge.
Zum drittenmal erschien der Zwerg auf der Spitze des Glockenthurmes, hob die Gerettete hoch in die Luft, als wollte er sie triumphirend der ganzen Stadt zeigen, und schrie mit donnernder Stimme: »Asyl! Asyl! Asyl!«
»Asyl! Asyl! Asyl!« wiederholte das Volk.