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Als Peter Gringoire die Bastille verlassen hatte, lief er mit der Schnelligkeit eines begossenen Hundes die Straße Saint-Antoine hinab. Als er am Thore Baudojer ankam, ging er gerade auf das steinerne Kreuz zu, das mitten auf diesem Platze stand, wie wenn er in der Dunkelheit der Nacht das Gesicht eines schwarzgekleideten verlarvten Mannes hätte unterscheiden können, der auf den Stufen des Kreuzes saß.
»Seid Ihr es, Meister?« fragte Peter Gringoire.
Der Schwarze stand auf. »Bei dem Leiden Jesu Christi! Du hast mir die Zeit lang gemacht. Der Wächter auf dem Thurme Saint-Gervais hat bereits die zweite Stunde nach Mitternacht angekündigt.«
»Oh!« erwiederte Meister Peter, »daran bin ich nicht Schuld, sondern die Nachtwache und der König Ludwig. Ich bin noch gut davon gekommen. Immer droht mir der Strick. Das ist einmal meine Prädestination.«
»Dir droht Alles und Nichts. Jetzt aber laß uns gehen. Hast Du das Losungswort?«
»Denkt einmal, Meister, ich habe den König gesehen. Ich komme eben von ihm. Er hat einen schwarzen Rock an. Da ist aber nicht zu spassen, das Wasser ging mir an den Kragen und der Strick war schon geschnürt.«
»O altes Weib! Was gehst mich Du sammt Deinem König an! Ich will von Dir wissen, ob Du das Losungswort der Landstreicher hast?«
»Das habe ich, seid ruhig deßhalb. Es heißt Blendlaterne.«
»Gut. Sonst könnten wir nicht bis zur Kirche gelangen. Die Gauner haben alle Straßen besetzt. Glücklicherweise haben sie, wie es scheint, Widerstand gefunden. Wir kommen vielleicht noch zu rechter Zeit.«
»Wohl, Meister, aber wie wollen wir in die Kirche kommen?«
»Ich habe den Schlüssel zum Thurme.«
»Wie kommen wir aber heraus?«
»Hinter dem Kloster ist eine kleine Thüre, die zum Flusse führt. Ich habe den Schlüssel dazu genommen und diesen Morgen dort einen Nachen angelegt.«
»Wenn Ihr wüßtet, Meister, wie wunderbar ich dem Stricke entgangen bin!« sang Peter Gringoire sein altes Lied.
»Schweig! Ich wollte, sie hätten Dich gehängt! Laß uns gehen!« erwiederte barsch der Andere.
Jetzt eilten Beide mit schnellen Schritten der Altstadt zu.
Der Leser erinnert sich der kritischen Lage, worin wir unsern Quasimodo gelassen haben. Der tapfere Zwerg, von allen Seiten angefallen, hatte, wenn auch nicht den Muth, doch die Hoffnung verloren, nicht sich (an sich dachte er nicht), sondern die Aegypterin zu retten. Er eilte in vollem Laufe der Galerie zu. Die Liebfrauenkirche war auf dem Punkte, in die Hände der Gauner zu fallen. Plötzlich hörte man in den anliegenden Straßen den raschen Galopp eines großen Reiterhaufens, und bald brachen von allen Seiten Colonnenspitzen mit eingelegter Lanze hervor, und stürzten sich wie ein Sturmwind auf die Gauner. Ein gewaltiges Geschrei ertönte: »Hier Frankreich! Haut sie nieder! Hier Bogenschützen von Chateaupers! Hier Prevotalwache!«
Die bestürzten Gauner machten rechtsumkehrt gegen diesen unerwarteten Angriff. Quasimodo, obwohl taub, sah doch die bloßen Schwerter und die gesenkten Lanzen; er erkannte Phöbus von Chateaupers an der Spitze der Reiter; er sah die Verwirrung in den Reihen der Gauner, die Mutlosigkeit der Einen, die Unschlüssigkeit der Tapfersten, und dieser unerwartete Beistand belebte seinen Muth so, daß er die wenigen Angreifer, welche eben die Galerie erstiegen, wieder hinabwarf.
Die Gauner leisteten inzwischen den Truppen des Königs tapfern Widerstand und wehrten sich wie Verzweifelte. Sie waren in der Seite und im Rücken zugleich angegriffen und wurden gegen die Liebfrauenkirche gedrängt. Das Handgemenge war furchtbar. Die Reiter des Königs, die Phöbus von Chateaupers tapfer anführte, gaben keinen Pardon. Die schlecht bewaffneten Gauner schäumten vor Wuth. Männer, Weiber und Kinder warfen sich wie Verzweifelte auf Menschen und Pferde, und wer keine anderen Waffen hatte, kratzte mit den Nägeln und biß mit den Zähnen um sich. Andere verbrannten die Gesichter der Bogenschützen mit ihren brennenden Fackeln. Einer der Gauner, der eine breite blitzende Sense in der Hand führte, mähte die Beine der Pferde wie Gras ab. Es war schauderhaft anzusehen. Er ging ruhig vorwärts, Schritt vor Schritt, wie auf einer Wiese, schwang langsam die Sense, und mit jedem Schwunge legte er einen Haufen abgehauener Glieder um sich her. So drang er, ein Todtenlied singend, tief in die Mitte der feindlichen Reiter ein. Ein Büchsenschuß streckte ihn endlich nieder. Es war Clopin Trouillefou, der tapfere König der Landstreicher.
Inzwischen waren in den umliegenden Häusern die Fenster wieder aufgegangen. Als die Bewohner den Schlachtruf der königlichen Truppen hörten, nahmen sie am Gefecht Antheil, und aus allen Gebäuden umher hagelte es mit Steinen, Pfeilen und Kugeln auf die armen Gauner herab. Endlich mußten sie, von allen Seiten angegriffen und selbst schlecht bewaffnet, erliegen. Sie stürzten sich verzweifelt auf die Linie der Angreifer, durchbrachen sie und flohen in allen Richtungen. Als Quasimodo diese allgemeine Flucht sah, fiel er auf die Kniee nieder und hob dankend die Hände zum Himmel empor; dann eilte er freudetrunken die Treppen des Thurmes hinauf und der einsamen Zelle zu, deren Bewohnerin er so unerschrocken vertheidigt hatte. Nur ein Gedanke erfüllte ihn, dem angebeteten Wesen zu Füßen zu fallen, das er nun zum zweiten Male gerettet hatte. Als er in die Zelle trat, fand er sie leer. Ihre Bewohnerin war verschwunden.
In dem Augenblicke, wo die Armee der Landstreicher den ersten Angriff auf die Kirche machte, schlief Esmeralda. Bald aber weckte sie der immer steigende Lärm um das Gebäude her und das unruhige Blöcken ihrer Ziege. Sie setzte sich aufrecht auf ihr Lager und horchte: jetzt hörte sie das furchtbare Geschrei der Angreifenden. Sie eilte aus der Zelle und blickte auf den Platz hinab. Der Anblick des Platzes, die Verwirrung dieses nächtlichen Sturmes, diese scheußliche Menschenmasse, die unten wie Frösche im blendenden Scheine der Fackeln herumhüpfte, das rauhe Geschrei, das dieser Menge entstieg, dieses ganze Nachtgemälde kam ihr wie eine mystische Schlacht zwischen den Phantomen des Sabbaths und den steinernen Ungeheuern der Kirche vor. Von Jugend auf hatte sie den Aberglauben ihres Stammes eingesogen, und jetzt war ihr erster Gedanke, daß sie die Gespenster der Nacht in ihrem heimlichen Treiben überrascht habe. Erschrocken eilte sie in ihre Zelle zurück und verbarg den Kopf in ihrem Kissen.
Allmählig aber verlor sich der erste Taumel abergläubischer Furcht. An dem immer zunehmenden Lärm und an anderen Zeichen der Wirklichkeit merkte sie, daß hier nicht Gespenster, sondern menschliche Wesen hausten. Ihr Schrecken nahm jetzt eine andere Gestalt an. Sie dachte an die Möglichkeit eines Volksaufstandes, um sie aus ihrem Asyl zu reißen. Der Gedanke, zum zweiten Male zur Richtstätte geführt zu werden, die Hoffnung der Zukunft, Phöbus, der ihr nie aus dem Sinne kam, das tiefe Gefühl ihrer Schwäche, jede Flucht unmöglich, kein Beistand von irgend Jemand, ein von aller Welt verlassenes Wesen; diese und andere Gedanken durchkreuzten ihr Gehirn und erfüllten ihre Seele mit Verzweiflung. Sie sank auf ihre Kniee, beugte den Kopf auf ihr Lager, faltete die Hände über demselben, und lag so da, angstvoll und schaudernd, und obgleich Zigeunerin, Götzendienerin und Heidin, betete sie doch schluchzend zu dem Gott der Christen und unserer lieben Frau, ihrer Beschützerin.
So blieb sie lange Zeit auf ihren Knieen liegen, mehr zitternd als betend, bestürzt von dem immer steigenden Toben dieser wüthenden Menge, nicht wissend, was diese Wuth bedeute, was man that, was man wollte, aber einen schrecklichen Ausgang für sich ahnend.
Jetzt, in diesem angstvollen Zustand, hörte sie Tritte hinter sich. Sie wandte sich um. Zwei Männer, deren einer eine Laterne trug, waren in ihre Zelle getreten. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.
»Fürchte nichts,« sagte eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war, »ich bin es.«
»Wer? Du?« fragte sie.
»Peter Gringoire.«
Dieser Name beruhigte sie. Sie hob den Kopf in die Höhe und sah, daß es wirklich der Poet war. Neben ihm stand aber ein vom Kopf bis zu den Füßen schwarz vermummter Mann, dessen tiefes Schweigen sie beängstigte.
»Ah!« sagte Peter Gringoire im Tone des Vorwurfs, »Djali hat mich eher erkannt als Du.«
In der That hatte die kleine Ziege gleich bei seinem Eintritte unseren Dichter zärtlich begrüßt, indem sie sich mit dem Kopfe zwischen seine Beine drängte. Peter Gringoire gab ihr ihre Liebkosungen reichlich zurück.
»Wer ist da bei Dir?« fragte die Aegypterin leise.
»Sei unbesorgt, es ist ein Freund.«
Jetzt setzte der Philosoph seine Laterne auf den Boden nieder, kauerte auf die Erde, nahm Djali zärtlich in seine Arme und rief enthusiastisch aus: »O das niedliche Thier! Zwar nicht groß, aber um so schöner, so verständig und gelehrt, wie ein Grammatiker! Laß sehen, Djali, hast du nichts von deinen Stückchen vergessen: Wie macht Meister Jakob Charmolue?«
Der Schwarze unterbrach unsern Poeten, indem er hart auf ihn zutrat und ihn unsanft am Aermel faßte. Peter Gringoire stand auf.
»Ihr habt Recht,« sagte er, »ich hätte fast vergessen, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Gleichwohl ist dies kein Grund, mein Meister, die Leute auf solche Weise anzumahnen. Mein liebes Kind,« wendete er sich zu der Aegypterin, »Dein und Deiner Ziege Leben schwebt in Gefahr. Man will Euch beide noch einmal zum Richtplatze schleppen. Wir sind Eure Freunde und wollen Euch retten. Folge uns geschwind.«
»Ist es auch wahr?« rief das Mädchen bestürzt aus.
»Mehr als zu wahr. Säume nicht!«
»Ich bin bereit,« stotterte sie. »Aber warum spricht Dein Freund kein Wort?«
»Ah!« antwortete der Poet, »sein Vater und seine Mutter waren schweigsame Leute, und so ist er auch geworden.«
Sie mußte sich mit dieser Antwort begnügen. Peter Gringoire nahm sie an der Hand, sein Begleiter hob die Laterne auf und ging voran. Das Mädchen war so bestürzt, daß sie sich fast willenlos wegführen ließ. Die Ziege hüpfte ihnen nach.
Sie stiegen schnell die Thurmtreppe hinab, eilten durch die Kirche, die einsam und dunkel war, während von außen der Lärm tobte und die Brandfackeln loderten, und gingen durch die rothe Thüre in den Hof des Klosters hinaus. Das Kloster war verlassen, die Mönche hatten sich in das Haus des Bischofs geflüchtet, um dort gemeinschaftlich zu beten. Sie gingen der kleinen Thüre zu, die zum Strand des Flusses führt. Der Schwarze öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich hatte. Hier hörten sie schon weniger von dem Lärm, den die Stürmenden machten. Inzwischen waren sie noch nicht außer Gefahr. Der schwarze Vermummte ging gerade dem Flusse zu. Hier war ein kleiner Nachen angelegt. Der Schwarze gab ihnen ein Zeichen, hineinzusteigen. Die Ziege folgte ihnen. Der Vermummte stieg zuletzt ein, schnitt das Seil ab, nahm zwei Ruder zur Hand, setzte sich auf das Vordertheil und schiffte aus allen Kräften, um schnell die Mitte des Stroms zu gewinnen. Die Seine ist an diesem Orte sehr reißend, und er hatte nicht wenig Mühe, die Spitze der Insel zu umschiffen.
Die erste Sorge Peter Gringoire's, als er in das Schiff trat, war, seine geliebte Ziege sanft auf seinen Knieen zu betten. Er setzte sich im Hintertheile des Nachens nieder, und Esmeralda, welcher der Unbekannte eine Angst einflößte, von der sie sich keine Rechenschaft ablegen konnte, drängte sich dicht an unsern Poeten.
Als unser Philosoph die Bewegung des Schiffes fühlte, klopfte er in die Hände und küßte Djali zwischen die Hörner: »Oh!« sprach er, »jetzt sind wir gerettet, alle vier;« dann fügte er mit einer tiefdenkenden Miene hinzu: »Man dankt den Ausgang großer Unternehmungen bisweilen dem Glücke, bisweilen der List.«
Inzwischen wogte das Schiff langsam dem rechten Ufer zu. Esmeralda heftete ihre Blicke mit innerlichem Schrecken auf den Unbekannten. Er hatte das Licht seiner Laterne sorgfältig ausgelöscht, und man sah ihn in der Dunkelheit wie ein Gespenst auf dem Vordertheil des Schiffes sitzen. Seine Kaputze, die über das Gesicht herab geschlagen war, diente ihm als eine Art Maske, und wenn er im Rudern seine Arme erhob, an denen zwei weite schwarze Aermel herabhingen, so hätte man ihn für eine große Fledermaus halten können, deren Flügel sich bewegen. Noch hatte er kein Wort gesprochen, keinen Hauch von sich gegeben. Man hörte in dem Schiffe keinen andern Laut, als das Plätschern der Ruder und das Anschlagen der Wasser, welche der Nachen durchschnitt.
»Bei meiner armen Seele!« unterbrach Peter Gringoire das Schweigen, »wir sind so stumm, als Pythagoräer oder Fische! Pasque-Dieu! Meine Freunde, so laßt doch ein Wort von euch hören! Die menschliche Stimme ist Musik im Ohre des Menschen. Dies sage nicht ich, sondern Didymus aus Alexandrien, und es ist ein erhabener Spruch. Gewiß war Didymus aus Alexandrien mehr als ein mittelmäßiger Philosoph. Ein Wort, nur ein einziges Wort, ich bitte Dich darum, mein schönes Kind! Weißt Du, meine Freundin, daß das Parlament selbst über ein Asyl seine hohe Gerichtsbarkeit übt, und daß Du in Deiner Zelle da oben, in der Liebfrauenkirche, in keiner geringen Gefahr schwebtest? Je nun, der kleine Vogel Trochylus macht sein Nest im Rachen des Krokodils. Meister, da kommt der Mond wieder aus den Wolken hervor. Wenn man uns nur nicht entdeckt! Wir verrichten eine löbliche That, daß wir dieses Mädchen retten, und gleichwohl würde man uns im Namen des Königs hängen, wenn man uns erwischte. Die menschlichen Handlungen sind zweiseitig. Man straft an mir, was man Dir zum Lobe anrechnet. Mancher bewundert Cäsar und tadelt Catilina. Ist es nicht so, mein Meister? Was sagt Ihr zu dieser Philosophie? Ich besitze die Philosophie des Instinkts, der Natur, ut apes geometriam. Will mir denn Niemand antworten? Was geht Euch denn im Kopfe herum, Euch Beiden? Soll ich denn allein reden? Das nennt man im Drama einen Monolog. Pasque-Dieu! Ich sage Euch, ich habe den König Ludwig XI. gesehen, und diesen Schwur habe ich von ihm aufgeschnappt. Also noch einmal Pasque-Dieu! Sie machen noch immer ihr ordentliches Geheul da drüben in der Altstadt. Ich sage Euch, dieser Ludwig ist ein alter, böser, garstiger König. Er ist mir immer noch das Geld für mein Hochzeitgedicht schuldig, und fast hätte er mich heute Nacht hängen lassen, was mir sehr ungelegen gekommen wäre. Das ist ein alter Geizhals, der für die Wissenschaften nichts thut. Er sollte die vier Bücher Salvian's von Köln adversus avaritiam lesen. In der That, das ist ein König, der mit Gelehrten nicht umzugehen weiß und sie barbarisch behandelt. Er ist ein Schwamm, der alles Geld des Volkes in sich saugt. Er ist ein frommer christlicher König, unter dessen Regierung die Kerker mit Gefangenen überfüllt sind und die Galgen von Gehängten brechen. Mit der einen Hand nimmt er und mit der andern hängt er. Groß und Klein, Hoch und Nieder, Niemand ist vor ihm sicher. Ich liebe diesen König nicht. Und Ihr, Meister?«
Der Schwarze ließ den schwatzhaften Poeten nach Herzenslust plaudern und steuerte emsig gegen die Gewalt des Stroms.
»Ei, Meister!« fuhr plötzlich Peter Gringoire fort: »als wir über den Platz der Liebfrauenkirche gingen, hat Euer tauber Quasimodo gerade einen armen Teufel auf das Pflaster herabfallen lassen. Wißt Ihr nicht, wer es war? Ich habe ein kurzes Gesicht und erkannte ihn nicht.«
Der Unbekannte erwiederte kein Wort, aber die Ruder entfielen seinen Händen, sein Haupt senkte sich auf die Brust, und Esmeralda hörte ihn einen tiefen Seufzer ausstoßen. Sie zitterte an allen Gliedern, dieser Ton war ihr nicht unbekannt.
Der Nachen, sich selbst überlassen, trieb einige Augenblicke auf dem Wasser, aber bald faßte der Schwarze die Ruder wieder und steuerte gegen den Strom. Er umschiffte die Spitze der Insel, auf der die Liebfrauenkirche steht.
»Ah!« begann der geschwätzige Poet, »da unten ist der Palast Barbeau. Seht einmal, Meister, seht doch hin: diese Gruppe schwarzer Dächer, welche sonderbare Winkel bilden, dort wo der Mond aus den Wolken bricht, wie das Gelbe eines Ei's, dessen Schale man zerschlagen hat. Das ist eine sehr schöne Wohnung, mit Kapelle und Glockenthurm, Gärten und Alleen, Fischteich und Vogelhaus, Labyrinth und Menagerie. Es steht noch ein Baum dort, den man den Liebesbaum nennt, weil in seinem Schatten eine berühmte Prinzessin und ein verliebter Connetable von Frankreich zu sitzen pflegten. Wir armselige Philosophen sind gegen einen Connetable, was ein Krautkopf und ein Rettig unter den Pflanzen im Garten des Louvre sind. Aber gleichviel! Das menschliche Leben ist ein Gemisch von Gutem und Bösem bei den Großen wie bei den Kleinen. Der Schmerz ist immer neben der Freude, wie der Spondäus neben dem Daktylus. Erlaubt mir, Meister, daß ich Euch die Geschichte des Palastes Barbeau erzähle. Das endet sehr tragisch, und zwar im Jahre 1319 unter der Regierung Philipps V., der unter allen Königen von Frankreich am längsten regiert hat. Die Moral der Geschichte ist, daß die Versuchungen des Fleisches so gottlos als verderblich sind. Laß Dich nicht gelüsten nach Deines Nächsten Weib, so lockend ihre Reize auch seien. Unzüchtige Gedanken erzeugen Fleischeslust, Ehebruch ist . . . Hört doch! Da unten geht das Geschrei aufs Neue wieder an!«
In der That war der Lärm um die Liebfrauenkirche gestiegen, die Schiffenden horchten. Man hörte deutlich Siegesgeschrei. Bald erblickte man hundert Fackeln, welche sich in der Kirche, auf den Thürmen und Galerien hin und her bewegten, als ob sie etwas suchten. Jetzt auf einmal drang der Ruf: »Die Zigeunerin! die Hexe! Wo ist sie?« deutlich in die Ohren der Flüchtigen.
Das unglückliche Geschöpf bedeckte angstvoll ihr Gesicht mit beiden Händen, und der Unbekannte ruderte aus allen Kräften dem Ufer zu. Inzwischen dachte unser Philosoph über die Lage der Dinge nach. Er nahm die Ziege in seine Arme und entfernte sich sachte von Esmeralda, welche sich dicht an ihn gedrängt hatte, als an den einzigen Zufluchtsort, der ihr übrig geblieben war.
Unser armer Peter Gringoire befand sich in keiner geringen Verlegenheit. Er bedachte, daß man, laut bestehenden Gesetzen, auch die Ziege hängen würde, wenn man sie wieder ergriffe, und es wäre doch Jammerschade um die niedliche Djali! Welche der beiden Verurtheilten sollte er nun retten? Beide zugleich, das schien ihm zuviel für seine Kräfte. Nach einem harten Kampfe entschloß er sich, die Ziege zu retten, und Esmeralda's Rettung dem Schwarzen zu überlassen.
Der Nachen stieß ans Land. Von der Altstadt herüber tönte immer noch das furchtbare unheilverkündende Geschrei. Der Unbekannte wollte die Aegypterin aus dem Nachen heben, sie stieß ihn zurück und hängte sich an Peter Gringoire's Aermel. Dieser entzog ihr seinen Arm, um die Ziege fester zu halten. Nun sprang sie allein ans Land. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie that, noch wohin sie ging. So blieb sie einen Augenblick besinnungslos am Ufer stehen und blickte starr in die Wellen des Stroms. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich allein mit dem Unbekannten. Peter Gringoire war mit ihrer Ziege davon gelaufen.
Das arme Mädchen schauderte, sie wollte reden, schreien, Peter Gringoire rufen, aber ihre Zunge versagte ihr den Dienst und sie konnte keinen Laut über ihre Lippen bringen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten die ihrige berühren. Diese Hand war kalt wie Eis. Ihre Zähne klapperten, und sie wurde blasser als der Strahl des Mondes, der sie beleuchtete. Der Unbekannte sprach kein Wort. Er hielt sie an der Hand und ging mit eilenden Schritten dem Grèveplatz zu. In diesem Augenblicke hatte sie ein unbestimmtes Gefühl, daß der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Sie mußte dem Manne folgen, der ihr Schrecken des Todes einflößte, sie hatte keine andere Wahl.
Sie blickte nach allen Seiten um sich. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Sie hörte nur von ferne das Geschrei in der Altstadt, von der sie nur durch einen Arm des Flusses getrennt war, und von der ihr dem Tode geweihter Name herüber tönte.
Der Unbekannte schleppte sie immer mit gleicher Schnelligkeit und gleich tiefem Schweigen nach sich. Sie erkannte keine der Straßen, durch welche sie ging. Als sie vor einem beleuchteten Fenster vorüberkam, nahm sie alle ihre Kraft zusammen und rief: »Hülfe! Helft!«
Ein Bürgersmann im bloßen Hemde und die Lampe in der Hand, öffnete das Fenster, blickte auf die Straße, murmelte einige unverständliche Worte, und schloß es wieder. So war der letzte Funken der Hoffnung erloschen.
Der Schwarze blieb stumm wie das Grab, er hielt sie fest an der Hand und eilte mit starken Schritten vorwärts. Sie leistete keinen Widerstand mehr, sie folgte ihm, sie war willenlos. Von Zeit zu Zeit sammelte sie so viel Kraft, um ihn mit halb erstickter Stimme zu fragen: »Wer bist Du? Wer bist Du?« Er antwortete nicht.
So kamen sie auf einen ziemlich großen Platz. Sie erkannte bei dem schwachen Licht des Mondes den Grèveplatz. Mitten auf demselben war der Galgen aufgerichtet.
Der Schwarze stand still, wendete sich gegen sie und schlug seine Kaputze zurück. Sie war versteinert und rief mit stammelnder Zunge: »Oh! Ich wußte wohl, daß er es ist!«
Es war der Priester. Wie ein Gespenst stand er im bleichen Mondenschein vor ihr.
»Höre,« sagte er, und sie zitterte beim Ton dieser unheilvollen Stimme, welche sie seit langer Zeit nicht gehört hatte. »Höre,« fuhr er fort. »Hier stehen wir jetzt. Höre mich! Das ist der Grèveplatz. Du stehst am Rand des Grabes. Das Schicksal waltet über uns beiden. In meiner Hand liegt Dein Leben, in der Deinigen meine ewige Seligkeit. Höre mich also! Nach dieser Nacht wird es nimmer Tag, und der Fleck Erde, auf dem Du stehst, ist der letzte, den Dein Fuß betritt. Höre mich, und ich verbiete Dir, ein Wort von Deinem Phöbus zu sagen. Ich will diesen Namen nicht mehr hören. Wenn Du ihn aussprichst, so wird er Dir Tod und Verderben bringen. Ich bin furchtbar in meinem Zorn.
»Wende Dein Gesicht nicht von mir weg,« fuhr er mit dumpfer Stimme fort. »Höre mich, denn es handelt sich um Leben und Tod. Hier ist nicht zu spassen. Was wollte ich doch sagen? Weißt Du es nicht? Richtig, es fällt mir ein. Ein Parlamentsbeschluß überliefert Dich wieder der Hand des Henkers. Ich habe Dich den Händen Deiner Verfolger entrissen, aber sie sind auf Deinen Fersen. Blick auf!«
Der Priester streckte seinen Arm gegen die Altstadt aus. Das Geräusch von dort näherte sich: der Thurm in dem Hause des Lieutenants, der dem Grèveplatz gegenüber wohnte, füllte sich mit Lichtern; man sah am entgegengesetzten Ufer Soldaten mit Fackeln herumlaufen und hörte sie rufen: »Die Zigeunerin! Wo ist die Zigeunerin? Sie muß sterben!«
Der Priester fuhr fort: »Du siehst selbst, daß sie Dich verfolgen, ich lüge nicht. Sie wollen Deinen Tod, ich aber liebe Dich. Oeffne den Mund nicht; sage mir nicht, daß Du mich hassest; ich will es nicht hören. Ich habe Dich gerettet. Ich kann Dich ganz retten. Alles ist vorbereitet. Du darfst nur wollen. Sprich, und es ist geschehen.« Er unterbrach sich heftig: »Nein, das wollte ich nicht sagen.«
Mit diesen Worten riß er sie zum Galgen, deutete mit dem Finger darauf und sagte kalt: »Wähle zwischen uns beiden!«
Sie entschlüpfte seinen Händen, sank vor dem Galgen nieder und umfaßte ihn mit beiden Armen, drehte dann ihr schönes Haupt um und sah den Priester über die Achsel an. Man hätte sie für die Jungfrau Maria am Fuße des Kreuzes halten können. Der Priester stand unbeweglich, den Finger zum Galgen erhoben, wie eine Bildsäule da.
Endlich schrie die Aegypterin: »Ich fürchte den Galgen weniger als Dich.«
Jetzt ließ er langsam den Arm sinken und richtete tiefbetrübt den Blick zur Erde, »Wenn diese Steine reden könnten,« murmelte er, »so würden sie sagen, daß der unglücklichste Mensch von der Welt auf ihnen steht.«
Er fuhr fort. Esmeralda, die mit wildfliegenden Haaren vor dem Galgen kniete, unterbrach ihn nicht. Sein Ton war jetzt sanft, klagend und bildete einen seltsamen Contrast mit seinen harten, gebietenden Gesichtszügen.
»Ich,« sagte er, »ich liebe Dich. In meinem Herzen brennt ein Feuer, das mich verzehrt. Tag und Nacht brennt es, Tag und Nacht, habe Mitleid! Keinen Augenblick Ruhe, Tag und Nacht, sage ich Dir, Tag und Nacht liege ich auf der Folter. Weißt Du, was ich leide? Du weißt es nicht, Du kannst es nicht fassen. Du siehst, daß ich sanft mit Dir spreche. Fürchte mich nicht mehr, habe Mitleid mit mir, liebe mich. Willst Du mich denn immer hassen? Ist es denn aus auf ewig? Dann werde ich wieder bös, grausam, furchtbar, mir selbst ein Abscheu. Du siehst mich gar nicht an! Du denkst vielleicht an etwas Anderes, während ich hier vor Dir stehe, schaudernd auf der Grenzlinie der Ewigkeit von zwei Menschen, von uns beiden! Denke nicht an jenen Mann, dessen Namen ich nicht nennen mag! Er liebt Dich nicht, er weiß nicht, was Liebe ist. Ich liebe Dich, ich allein. Ich will zu Deinen Knieen sinken, ich will den Staub unter Deinen Füßen küssen, ich will weinen wie ein Kind, ich will mir das Herz aus dem Leibe reißen und Dir zum Opfer bringen. Ist das Alles nicht genug? Bist Du noch nicht zufrieden? Du bist ja so mild und gut gegen alle Menschen. Willst Du mich allein hassen? Unseliges Geschick!«
Der Priester bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Das Mädchen hörte ihn weinen. Er weinte zum erstenmale. So aufrecht stehend und schluchzend, erschien er noch unglücklicher und flehender, als wenn er auf den Knieen gelegen wäre. Er weinte so einige Zeit.
»Fließt, ihr Thränen,« fuhr er fort, »ich finde keine Worte mehr. Ich wußte doch, was ich Dir sagen wollte, jetzt überläuft mich ein Schauder, jetzt, wo ich Dein Herz rühren soll. Die Welt versinkt unter meinen Füßen, habe Mitleid mit mir und mit Dir! Dein Wort ist Tod und Verdammniß für uns beide. Wenn Du wüßtest, wie ich Dich liebe! Wenn Du wüßtest, welch ein Herz in meinem Busen schlägt! Ich habe mich selbst, ich habe die Tugend aufgegeben um Deinetwillen! Ich bin kein Gelehrter, kein Edelmann, kein Priester mehr! Ich lebe nur für Dich, Du hast mich bezaubert. Ich verläugne Gott und die ewige Seligkeit, und will mit Dir zur Hölle fahren! Verdammt will ich sein mit Dir! Ich habe Dir Alles zum Opfer gebracht, Alles! Oh! es ist schrecklich und geht über menschliche Kräfte!«
Diese letzten Worte sprach er im Tone eines Wahnwitzigen aus. Er schwieg einen Augenblick und schrie dann mit lauter verzweifelnder Stimme: »Kain, wo ist dein Bruder Abel?«
Er schwieg abermals und fuhr dann in herzzerreißenden Tönen fort: »Oh, Herr mein Gott, ich habe ihn auferzogen, ich habe ihn ernährt, ich habe ihn geliebt, ich habe ihn vergöttert und habe ihn getödtet! Ja, Herr mein Gott, vor meinen Augen hat man ihm das Haupt zerschmettert auf den Steinen deines Hauses. Er ist gestorben für mich, für dieses Weib da, für uns beide . . .«
Sein Auge schien erlöschen zu wollen, seine Stimme war gebrochen. Er wiederholte noch einige Male, mechanisch und in langen Zwischenräumen: »Für uns beide . . . Für uns beide . . .«
Seine Zunge brachte keinen verständlichen Ton mehr hervor, obgleich seine Lippen sich noch immer bewegten. Plötzlich stürzte er in sich selbst zusammen, wie ein Gebäude, das einfällt, und blieb bewegungslos auf der Erde liegen.
Eine Berührung der Aegypterin, die ihren Fuß unter seinem Körper wegzog, brachte ihn wieder zu sich. Er fuhr langsam mit der Hand über seine hohlen Wangen und schaute einige Augenblicke mit dumpfem Hinbrüten seine benetzten Finger an. »Wie,« murmelte er, »ich habe geweint, ich!«
Jetzt wendete er sich wieder der Aegypterin zu und sagte mit unaussprechlicher Angst: »Du hast mich weinen sehen, und es rührt Dich nicht! Weißt Du, daß diese Thränen glühende Lavaströme sind? Und Du bleibst kalt? Du hassest mich, nichts bewegt Dein Herz! Du würdest mich sterben sehen und lachen. Ich aber kann Dich nicht sterben sehen. Ich will Dich retten. Es kostet Dich nur ein Wort, ein einziges Wort aus Deinem Munde. Sage mir, nicht daß Du mich liebst, sondern nur, daß Du durch mich gerettet sein willst. Das genügt mir schon. Säume nicht, die Zeit eilt. Ich beschwöre Dich bei Allem, was heilig ist. Sprich und zaudere nicht, ich könnte wieder hart werden wie Stein. Bedenke, daß ich Dein und mein Schicksal in meiner Hand habe. Mache mich nicht wahnsinnig, es könnte schrecklich enden. Du bringst eine Seele zur Verzweiflung, und mein Schatten wird Dich durch alle Ewigkeit verfolgen. Sprich nur ein einziges Wort!«
Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Er stürzte vor ihr auf die Kniee nieder und hoffte ein Wort der Rührung aus ihrem Munde zu vernehmen. Sie sagte kalt: »Du bist ein Meuchelmörder!«
Der Priester nahm sie wüthend in seine Arme, laut und furchtbar auflachend: »Ja, ich bin ein Meuchelmörder, und Du mußt die Meinige werden! Du willst mich nicht zum Sklaven, Du sollst mich zum Herrn haben. Ich weiß einen heimlichen Ort, wohin ich Dich schleppen will. Du mußt mir folgen oder sterben. Dein Leben ist in meiner Hand, ich überliefere Dich dem Galgen. Du mußt sterben oder mein sein! Die Metze des Priesters, des Apostaten, des Meuchelmörders! Und das in dieser Nacht noch, hörst Du! Lustig, Metze, küsse mich! Das Grab oder mein Bett!«
Sein Auge glühte von Wuth und Wollust. Die Aegypterin sträubte sich in seinen Armen, Er bedeckte sie mit Küssen.
»Beiße mich nicht, Ungeheuer!« rief sie. »Laß mich, stinkender Mönch, oder ich reiße Dir die Haare aus Deinem grauen Kopf!"
Der Priester wurde roth und blaß, ließ sie los und betrachtete sie mit düsteren Blicken. Sie glaubte sich siegreich und fuhr triumphirend fort: »Ich gehöre meinem Phöbus; Phöbus liebe ich, Phöbus ist schön! Du bist ein alter häßlicher Priester! Packe Dich!«
Der Priester stieß einen heftigen Schrei aus, wie ein Mensch, den man auf die Folter spannt. Dann sagte er zähneknirschend: »So stirb denn!«
Sie sah seinen furchtbaren Blick und wollte fliehen. Er faßte sie, warf sie zu Boden und zog sie auf dem Pflaster fort zum Rolandsthurm.
Als er unter der Oeffnung der Zelle war, welche die Klausnerin bewohnte, wandte er sich zu ihr: »Zum letztenmale, willst Du mein sein?«
Sie erwiederte entschieden: »Nein!«
Jetzt schrie der Priester mit lauter Stimme: »Gudula! Gudula! Hier ist die Zigeunerin, räche Dich!«
Esmeralda fühlte sich plötzlich am Arm gehalten. Sie blickte auf, ein langer entfleischter Arm hatte sich aus der Oeffnung in der Mauer gestreckt und hielt sie mit eiserner Faust fest.
»Halte fest!« sagte der Priester. »Es ist die entlaufene Zigeunerin. Laß sie nicht los! Ich will die Wache holen, dann kannst Du sie hängen sehen.«
Ein heiseres Lachen antwortete ihm aus dem Innern der Mauer. »Ha, ha, ha!« tönte es in die Ohren der erschrockenen Aegypterin. Sie sah den Priester der Liebfrauenbrücke zulaufen. Man hörte von dieser Seite einen Trupp Reiter.
Esmeralda befand sich in den Händen der bösen, gehässigen Klausnerin. Zitternd vor Angst, suchte sie sich loszuwinden. Vergebens, eine eiserne Hand hielt sie fest. Die magern, knochigen Finger der Klausnerin umfaßten ihren Arm wie eine Zange und drückten sich tief in das Fleisch ein. Erschöpft fiel sie gegen die Mauer, und Todesfurcht erfaßte sie. Sie dachte an die Schönheit des Lebens, an ihre Jugend, an den Anblick des Himmels und der Natur, an die Liebe, an Phöbus, an Alles, was vor ihren Blicken dahinschwand, und an Alles, was ihr jetzt drohte, an den Priester, der die Wache holte, an den Henker, der sich nahte, an den Galgen, der vor ihren Augen stand. Alle diese Schrecken durchzitterten ihre Glieder und sträubten das Haar aus ihrem Haupte empor. Sie hörte in ihren Ohren das heisere, unheilverkündende Lachen der Klausnerin: »Ha, ha, ha! Du wirst gehängt.«
Halbtodt wendete sie sich gegen die Oeffnung und erblickte hinter dem Gitter das abgemagerte Gesicht der Klausnerin. »Was habe ich Dir gethan?« sagte sie mit sterbender Stimme.
Die Klausnerin antwortete nicht und murmelte im singenden Tone einer Wahnwitzigen: »Tochter aus Aegyptenland! Tochter aus Aegyptenland! Tochter aus Aegyptenland!«
Das unglückliche Mädchen ließ den Kopf auf die Brust sinken und ergab sich in ihr Schicksal, denn sie fühlte, daß sie es mit keinem menschlichen Wesen zu thun hatte.
Plötzlich schrie die Klausnerin, als ob jetzt erst die Frage des Mädchens bis zu ihrem Gehirn gedrungen wäre: »Was Du mir gethan hast, fragst Du? Was Du mir gethan hast, Aegypterin? Höre! Ich hatte ein Kind, ich! siehst Du! Ein Kind hatte ich! ein Kind, sage ich Dir! Ein schönes kleines Kind! Oh, meine Agnes!« fuhr sie fort und küßte Etwas in der Dunkelheit, »Siehst Du, ägyptisches Mädchen! Hörst Du! Man hat mir mein Kind genommen, man hat mir mein Kind gestohlen, man hat mir mein Kind gefressen! Das hast Du mir gethan.«
Die Aegypterin, wie ein Lamm in den Krallen des Wolfs, erwiederte: »Ach! ich war damals vielleicht noch nicht geboren!«
»Doch! doch! Du warst geboren; Du warst bei dieser Bande. Sie wäre von Deinem Alter. Also! Es sind jetzt fünfzehn Jahre, daß ich hier bin; hörst Du! Fünfzehn Jahre bete ich zu Gott; fünfzehn Jahre kreuzige ich mein Fleisch; fünfzehn Jahre leide ich Pein. Hörst Du, Zigeunerin, fünfzehn Jahre! Es sind Zigeunerinnen, sage ich Dir, die mir mein Kind gestohlen haben. Hörst Du? Und haben es mit ihren Zähnen gefressen. Hast Du ein Herz im Leibe? Weißt Du, wie ein kleines Kind ist, wie es spielt, wie es an der Mutter Brust trinkt, wie es schläft? Es ist so unschuldig! Hörst Du! das, das hat man mir genommen, gestohlen, umgebracht, gefressen! Der liebe Gott im Himmel weiß es! Heute kommt die Reihe an Dich, ich will die Aegypterin fressen. Wäre dieses Eisengitter nicht, ich würde Dich mit meinen Zähnen zerfleischen. Das arme kleine Kind! Während es schlief, haben sie es genommen. Es ist aufgewacht und hat geschrieen, aber seine Mutter war nicht da. Ah! ihr Zigeunerinnen, ihr habt mein Kind gefressen! Heute frißt man das eurige.«
Sie stieß ein heiseres Gelächter aus und grinzte mit den Zähnen. Der Tag fing an zu grauen. Der Galgen erschien immer deutlicher in der Mitte des Platzes. Von der andern Seite des Flusses hörte man Pferdegetrappel, das sich näherte.
»Habe Mitleid,« flehte das Mädchen mit gefalteten Händen; »habe Mitleid! Sie kommen. Ich habe Dir ja nichts gethan. Soll ich so furchtbar unter Deinen Augen sterben? Das ist doch zu schrecklich. Habe Mitleid! Laß mich los! Gnade! Ich will nicht so sterben!«
»Gib mir mein Kind wieder!« sagte die Klausnerin,
»Gnade! Gnade!«
»Gib mir mein Kind wieder!«
»Laß mich los, um Gottes Barmherzigkeit willen!«
»Gib mir mein Kind wieder!«
Die Aegypterin sank erschöpft in die Kniee, ihr Blick war gebrochen, als ob sie schon im Grabe läge. »Ach!« stammelte sie, »Du suchst Dein Kind, und ich suche meine Eltern.«
»Gib mir meine kleine Agnes wieder! Du weißt nicht, wo sie ist? Dann mußt Du sterben! Ich will Dir sagen, ich war eine Hure; ich hatte ein Kind, man hat mir mein Kind genommen. Die Zigeunerinnen haben es genommen. Du siehst also wohl, daß Du sterben mußt. Wenn Deine Mutter, die Zigeunerin, kommt und Dich von mir fordert, so werde ich zu ihr sagen: Sieh hin, dort hängt sie am Galgen! Oder willst Du mir lieber mein Kind wieder geben? Weißt Du, wo mein kleines Kind ist? Es war sehr klein. Ich will Dir zeigen, wie klein es war. Hier ist ein Schuh, ein kleiner niedlicher Schuh, das ist Alles, was mir von ihm übrig blieb. Weißt Du, wo der gleiche Schuh ist? Wenn Du es weißt, so sage mir's, und ich will auf meinen Knieen dahin rutschen, wäre es auch am Ende der Welt.«
Mit diesen Worten zeigte sie durch das Gitter der Aegypterin den kleinen gestickten Schuh. Es war schon hell genug, daß man dessen Form und Farbe unterscheiden konnte.
»Zeige mir diesen Schuh!« sagte Esmeralda mit zitternder Stimme. »Gott! Gott!«
Zugleich öffnete sie mit der Hand, die noch frei war, das kleine Säckchen, das sie am Halse trug.
»Oeffne Dein Zaubersäckchen, Du Hexentochter!« murmelte die Klausnerin,
Plötzlich zitterte sie an allen Gliedern und schrie mit einer Stimme, die tief aus ihrem Innern kam: »Meine Tochter!«
Die Aegypterin hatte aus ihrem Säckchen einen kleinen Schuh gezogen, der dem anderen ganz gleich war. Auf diesem kleinen Schuh war ein Zettel befestigt, auf dem die Worte standen:
Find'st den Schuh, den du gesucht,
Liegst an deiner Mutter Brust!
Mit Blitzesschnelle hatte die Klausnerin die beiden Schuhe mit einander verglichen und die Schrift gelesen; dann drückte sie ihr Gesicht, das von himmlischer Freude strahlte, dicht an das Gitter und rief: »Meine Tochter! Meine Tochter!«
»Meine Mutter!« erwiederte Esmeralda.
Beider Entzücken vermag keine Feder zu schildern. Die Mauer und das Gitter war zwischen ihnen.
»Oh! die Mauer!« schrie die Klausnerin: »Oh! mein Kind sehen und nicht umarmen können! Deine Hand! Deine Hand!«
Esmeralda reichte ihr die Hand durch das Gitter, die Klausnerin warf sich auf ihre Hand, preßte ihre Lippen fest darauf, hauchte ihre ganze Seele in diesen einzigen Kuß und gab kein anderes Lebenszeichen von sich, als einen Seufzer, der von Zeit zu Zeit ihre Weichen in die Höhe hob. Ein Strom von Thränen entfloß ihren Augen, sie weinte in der Stille, im nächtlichen Schatten ihrer Klause; sie goß ihre Thränen, die seit fünfzehn Jahren in ihrer finsteren Zelle so oft einsam und verlassen geflossen waren, über diese angebetete Hand aus.
Plötzlich stand sie auf, strich ihre langen grauen Haare über die Stirne zurück und faßte mit beiden Fäusten an das Gitter, grimmiger als eine Löwin, der man ihre Jungen geraubt hat. Die Gitterstangen hielten fest. Jetzt holte sie in einem Winkel ihrer Zelle einen großen Stein, der ihr zum Kopfkissen diente, und warf ihn mit solcher Gewalt gegen eine der Gitterstangen, daß sie brach. Ein zweiter Wurf zerschmetterte vollends das Gitter. Nun riß sie es vollends mit ihren beiden Händen ein. Es gibt Augenblicke, wo die Arme eines Weibes übermenschliche Kraft haben.
Nachdem der Zugang geöffnet war, und das geschah in weniger als einer Minute, faßte sie ihre Tochter um den Leib und zog sie in die Zelle. »Komm! Ich will Dich aus dem Abgrund ziehen,« murmelte sie. Nachdem das Mädchen in der Zelle war, legte sie sie sanft auf den Boden nieder, nahm sie wieder auf und trug sie auf ihren Armen, als ob es noch immer ein kleines Kind wäre, ging in ihrem engen Behälter auf und ab, freudetrunken, strahlend, schreiend, singend, ihre Tochter küssend, mit ihr plaudernd, laut lachend, in Thränen zerfließend; Alles zumal und mit Uebermaß.
»Meine Tochter! Meine Tochter!« rief sie. »Ich habe meine Tochter, da ist sie. Der liebe Gott hat sie mir wieder geschenkt. Kommt, kommt Alle herbei! Will Niemand meine Tochter sehen? Ich habe sie wieder, Heiliger Christ, wie schön sie ist! Du hast mich fünfzehn Jahre warten lassen, lieber Herrgott, um sie mir so schön wieder zu geben. Die Zigeunerinnen haben sie nicht gefressen, es war gelogen. Mein Kind, mein kleines Kind! Küsse mich doch! Ach, die guten Zigeunerinnen, wie ich sie liebe! Bist Du es denn auch? Darum also wendete sich mir das Herz im Leibe um, so oft ich Dich vorübergehen sah! Ich habe es für Haß gehalten. Verzeihe mir, mein Kind Agnes! verzeihe mir. Du mußt mich für recht bös halten, und ich liebe Dich doch so sehr. Dein kleines Muttermal am Halse, hast Du es immer noch? Laß sehen! Sie hat es immer noch. Wie bist Du doch so schön! Diese großen schwarzen Augen hast Du von mir, Jüngferchen. Bedanke Dich und küsse mich. Was liegt mir daran, daß andere Mütter Kinder haben! Jetzt lache ich sie aus. Sie sollen kommen und mein Kind sehen. Da ist sein Hals, seine Augen, seine Haare, seine Hand. – Zeigt mir auch einmal etwas so Schönes an Euern Kindern! Oh! Ich stehe euch dafür, sie wird Liebhaber bekommen, wie Sand am Meere! Ich habe fünfzehn Jahre geweint. Ich bin alt und häßlich geworden; aber sie ist desto schöner. Küsse mich, mein Kind!«
Die arme, freudetrunkene Mutter sagte ihr noch hundert ähnliche Dinge, küßte ihr die Hand, den Fuß, die Stirne, die Augen. Das Mädchen ließ sie machen und wiederholte nur von Zeit zu Zeit mit leiser, unendlich sanfter Stimme: »Meine Mutter!«
»Siehst Du, mein kleines Kind,« fuhr die Klausnerin fort, während sie ihre Tochter mit Küssen bedeckte, »siehst Du, ich will Dich recht lieb haben. Wir gehen fort von hier. Wir werden sehr glücklich sein. Ich habe etwas geerbt zu Rheims, in unserer Heimath. Du weißt ja Rheims? Nein, Du weißt es nicht, Du warst noch zu klein. Wenn Du wüßtest, wie niedlich Du mit vier Monaten warst! Es kamen Leute aus Epernay, sieben Stunden weit, bloß um Deine kleinen Füße zu sehen. Wir werden zu Rheims ein Haus haben und ein Stück Feld. Ich werde Dich in mein eigenes Bett legen. Mein Gott! Mein Gott! Wer hätte das gedacht! Ich habe mein Kind wieder!«
»Oh, meine Mutter!« sagte das Mädchen, das endlich die Kraft fand, seinen Gefühlen Worte zu geben, »die Aegypterin hat es mir vorhergesagt. Es war eine alte Aegypterin bei uns, die im vergangenen Jahre gestorben ist, und die immer Sorge für mich trug, wie eine Amme. Die hat mir dieses Säckchen um den Hals geknüpft. Sie sagte immer zu mir: Kind, nimm dieses Kleinod wohl in Acht. Es ist ein Schatz, durch den Du eines Tages Deine Mutter wieder finden wirst. Du trägst deine Mutter am Halse. Das hat mir die Aegypterin vorausgesagt.«
Die Klausnerin nahm ihre Tochter auf's Neue in die Arme: »Komm, laß dich küssen! Du erzählst so artig. Wenn wir wieder daheim sind, zu Rheims, wollen wir ein Jesuskind in der Kirche mit Deinen Schuhen bekleiden. Wir sind das unserer lieben Frau schuldig. Mein Gott, was hast Du für eine schöne Stimme! Sie klang eben wie Musik in meinen Ohren. Ach, du lieber Herr und Heiland! Ich habe mein Kind wieder gefunden! Ist es denn möglich? Ist es denn zu glauben? Man stirbt an nichts, sonst wäre ich vor Freude gestorben.«
Die Klausnerin lachte, klopfte in die Hände und rief: »Wie werden wir so glücklich sein!«
In diesem Augenblicke hörte man in der Zelle Waffengeräusch und das Galoppiren einer Abtheilung Reiter, die von der Brücke der Liebfrauenkirche zu kommen schien. Das ägyptische Mädchen warf sich angstvoll in die Arme der Klausnerin.
»Rette mich, Mutter! Rette mich! Sie kommen!«
Die Klausnerin wurde blaß wie der Tod.
»O Himmel! Was sagst Du da? Ich hatte es ganz vergessen! Man verfolgt Dich! Was hast Du denn gethan.«
»Ich weiß es nicht,« antwortete das unglückliche Kind; »aber ich bin zum Tode verurtheilt.«
»Sterben!« sagte die Klausnerin wie vom Blitze getroffen. »Sterben!« wiederholte sie langsam und heftete das starre Auge auf ihre Tochter.
»Ja, liebe Mutter,« fuhr das Mädchen trostlos fort, »sie wollen mich tödten. Sie kommen, mich zu holen. Dieser Galgen steht für mich da. Rette mich! Rette mich! Sie kommen!«
Die Klausnerin blieb einige Augenblicke unbeweglich, wie versteinert; dann schüttelte sie ungläubig den Kopf, stieß ein furchtbares, wahnwitziges Gelächter aus und rief: »Ho! Ho! Das kann nicht sein! Das träumt Dir nur. Ho! Ho! ich sollte sie verloren haben, das sollte fünfzehn Jahre dauern, und sollte sie wieder finden, und nur für eine Minute! Und man wollte sie mir wieder nehmen! Und jetzt, wo sie groß und schön ist, und mit mir spricht und mich lieb hat, jetzt wollten sie kommen und sie fressen, unter meinen Augen, die ich ihre Mutter bin! Ho! Ho! Diese Dinge da sind nicht möglich. Das erlaubt der liebe Gott nicht.«
Jetzt schienen die Reiter Halt zu machen, und man hörte eine Stimme in der Ferne sagen: »Hieher, Herr Tristan! Der Priester sagte, daß wir sie am Rattenloche finden würden.«
Die Reiter setzen sich wieder in Marsch, und das Geräusch, das ihre Waffen und Pferde machten, drang in die enge Klause. Die Klausnerin sprang mit einem Schrei der Verzweiflung in die Höhe: »Rette Dich! Rette Dich, mein Kind! Jetzt fällt mir Alles wieder ein; Du hast Recht. Du sollst sterben! Verflucht seien die Mörder! Rette Dich!«
Mit diesen Worten blickte sie durch die Oeffnung und zog schnell den Kopf wieder zurück. »Bleibe,« sagte sie mit leiser Grabesstimme und faßte krampfhaft die Hand der Aegypterin, die mehr todt als lebendig war. »Bleibe! Gib keinen Hauch von Dir! Es sind überall Soldaten. Sie würden Dich sehen, wenn Du fortgehst, es ist schon zu hell.«
Die Augen der Klausnerin waren trocken und brennend. Sie sprach nicht; sie ging mit großen Schritten in der Zelle auf und ab, blieb von Zeit zu Zeit stehen und riß sich mit beiden Händen ihre grauen Haare aus.
Plötzlich sagte sie! »Sie kommen! Ich will mit ihnen reden. Verstecke Dich in diesem Winkel, sie werden Dich nicht sehen. Ich will ihnen sagen, daß Du entkommen seist, daß ich Dich nicht habe halten können. Das will ich ihnen sagen!«
Sie ließ ihre Tochter in einem Winkel der Zelle niederliegen, worin man sie von außen nicht sah. Sie legte sie so, daß weder Hand noch Fuß aus dem Schatten traten, wickelte ihre schwarzen Haare los, um damit ihr weißes Kleid zu bedecken, stellte ihren Wasserkrug und den Stein, der ihr zum Kopfkissen diente, vor sie hin, in der Meinung, daß sie dadurch verborgen sein würde. Nachdem Alles dies geschehen war, schien sie ruhig, kniete nieder und betete. Der Tag, kaum angebrochen, warf noch wenig Licht in die dunkle Zelle.
In diesem Augenblicke ließ sich ganz nahe an der Klause die teuflische Stimme des Priesters hören: »Hieher, Hauptmann Phöbus de Chateaupers!«
Als Esmeralda in ihrem Winkel diese Stimme und diesen Namen hörte, machte sie eine Bewegung. »Rühre Dich nicht!« sagte die Klausnerin.
Kaum hatte sie dies gesprochen, so erhob sich großer Tumult vor der Zelle, und viele Reiter mit bloßem Schwert hielten vor der Oeffnung. Die Klausnerin stand geschwind auf und trat an das Gitter, damit man nicht herein sehen könnte. Sie sah auf dem Grèveplatz eine starke Abtheilung Reiterei aufmarschirt. Der Anführer derselben stieg ab und trat an die Oeffnung der Zelle. »Alte,« sagte er, »wir suchen eine Hexe, um sie zu hängen. Man hat uns gesagt, daß Du sie festhaltest.«
Die arme Mutter gab sich ein so gleichgültiges Ansehen, als ihr möglich war, und erwiederte: »Ich verstehe nicht recht, was Ihr sagen wollt.«
»Zum Teufel! Was hat uns denn da dieser verdammte Pfaffe für ein Lied gesungen! Wo ist er?«
»Gnädiger Herr,« antwortete ein Soldat, »er ist verschwunden.«
»Nun, Alte,« fuhr der Anführer fort, »belüge mich nicht. Man hat Dir eine Hexe zu halten gegeben. Wo ist sie hingekommen?«
Die Klausnerin wollte nicht Alles läugnen, um keinen Verdacht zu erwecken, und versetzte in verdrießlichem Tone, aber mit der Miene der Aufrichtigkeit: »Wenn ihr von einem jungen großen Mädchen redet, das man mir eben in die Hände geliefert hat, so will ich Euch sagen, daß ich sie loslassen mußte, weil sie mit den Zähnen um sich gebissen hat, wie eine wilde Katze. Jetzt laßt mich zufrieden!«
Der Anführer der Reiter machte ein verlegenes Gesicht: »Belüge mich nicht, Du altes Gespenst! Ich heiße Tristan und bin der Gevatter des Königs. Tristan, hörst Du?«
Mit diesen Worten blickte er auf dem Grèveplatze umher und fügte hinzu: »Tristan, das ist ein Name, der hier sein Echo hat.«
»Ihr seid Tristan,« erwiederte die Klausnerin, die neue Hoffnung schöpfte, »und wenn Ihr Satan selbst wäret, so hätte ich Euch nichts Anderes zu sagen, und glaubet nicht, daß ich Euch fürchte.«
»Das ist eine alte Vettel, die Haar auf den Zähnen hat!« sagte Tristan lachend, »Und nach welcher Seite hat sich denn die Hexe geflüchtet?« Die Klausnerin erwiederte in einem gleichgültigen Tone: »Gegen die Straße Mouton, glaube ich.«
Tristan wendete den Kopf und gab seiner Abtheilung ein Zeichen, sich zum Abmarsch bereit zu machen. Die Klausnerin athmete leichter.
»Gnädiger Herr,« sagte plötzlich ein Bogenschütze, »fragt doch die alte Betschwester, warum das Gitter ihrer Zelle so auseinandergerissen ist?«
Diese Frage erfüllte das Herz der unglücklichen Mutter mit neuer Angst. Sie verlor jedoch nicht alle Geistesgegenwart und stotterte: »Es ist immer so gewesen.«
»Bah!« versetzte der Bogenschütze, »noch gestern hat das Gitter ein schönes schwarzes Kreuz gebildet, das zur Frömmigkeit aufforderte.«
Tristan warf einen Seitenblick auf die Klausnerin und sagte: »Ich glaube, die alte Gevatterin hat kein gutes Gewissen.«
Die Unglückliche fühlte, daß Alles von ihrer festen Haltung abhing, und, den Tod im Herzen, fing sie an zu zanken. Mütter haben solche Kraft! – »Bah!« sagte sie, »dieser Mensch ist betrunken. Es ist schon mehr als ein Jahr, daß das Hintertheil eines Steinwagens mein Gitter eingerissen hat. Und ich habe damals den Fuhrmann tüchtig gezankt.«
»Das ist wahr,« bezeugte ein anderer Bogenschütze, »ich war dabei.«
Es gibt überall Leute, die Alles mit eigenen Augen gesehen haben wollen. Dieses unerwartete Zeugniß des Bogenschützen gab der Klausnerin frische Hoffnung; aber sie war einmal zu einem fortwährenden Wechsel zwischen Furcht und Hoffnung verdammt.
»Wenn das durch einen Wagen geschehen ist,« entgegnete der erste Bogenschütze, »so müßten die Gitter nach innen gebogen sein, statt daß sie es nach außen sind.«
»He! He!« sagte Tristan, »Du hast die Nase eines Großinquisitors. Antworte darauf, Alte.«
»Mein Gott!« rief sie, von Angst erfüllt und unwillkürlich schluchzend, »ich schwöre Euch, gnädiger Herr, daß ein Wagen dieses Gitter eingestoßen hat. Ihr hört ja selbst, daß dieser Soldat dabei war. Und dann, was hat das mit Eurer Zigeunerin zu schaffen?«
»Hm!« brummte Tristan.
»Der Bruch des Eisens ist ja ganz frisch, das sieht ein Blinder!« sagte der Soldat, der sich durch das Lob des Prevot geschmeichelt fühlte.
Tristan schüttelte den Kopf. Die Klausnerin erbleichte.
»Wie lange her ist es, sagtet Ihr, daß dieser Wagen das Gitter eingestoßen hat?« fragte der Prevot.
»Ein Monat, vierzehn Tage vielleicht, gnädiger Herr! Ich weiß nicht mehr.«
»Sie hat ja eben erst gesagt, daß es über ein Jahr sei,« bemerkte der Bogenschütze.
»Das hinkt!« sagte Tristan.
»Gnädiger Herr,« rief die Klausnerin aus der Oeffnung ihrer Zelle, vor der sie stehen blieb, damit man nicht hineinsehen könne, »gnädiger Herr, ich schwöre Euch, daß ein Wagen dieses Gitter eingestoßen hat. Ich schwöre es Euch bei den heiligen Engeln des Paradieses. Wenn es nicht so ist, so will ich Gott nicht angehören und ewig verdammt sein!«
»Du zeigst viele Heftigkeit bei diesem Schwur!« sagte Tristan mit seiner Inquisitorsmiene.
Das arme Weib verlor je mehr und mehr ihre feste Haltung. Sie sah mit Schrecken ein, daß sie sich hier auf eine Art ereifert hatte, die ihrer Sache nicht zu Statten kam.
Jetzt kam ein anderer Soldat und schrie: »Gnädiger Herr, die Alte hat gelogen. Die Hexe ist nicht durch die Straße Mouton entkommen. Die Straße ist die ganze Nacht durch die Kette gesperrt geblieben, und der Wächter hat Niemand vorübergehen sehen.«
Tristan, dessen Gesicht immer finsterer wurde, sagte mit strenger Miene zu der Klausnerin: »Was hast Du hierauf zu antworten?«
Sie versuchte diesem neuen Sturme die Spitze zu bieten: »Was soll ich antworten, gnädiger Herr? der Mensch kann sich irren. Ich glaube, daß sie sich über den Fluß gerettet hat.«
»Das ist ja gerade die entgegengesetzte Seite,« wendete der Prevot ein, »und sie wird schwerlich sich in die Altstadt geflüchtet haben, wo man sie suchte und verfolgte. Du lügst, Alte!«
»Und dann,« fügte der erste Bogenschütze hinzu, »ist ja weder auf dieser, noch auf der andern Seite des Flusses ein Nachen.«
»Sie kann ja über das Wasser geschwommen sein,« entgegnete die Klausnerin, die nur Schritt um Schritt wich.
»Können denn die Weiber schwimmen?« fragte der Soldat.
»Beim Satan, Alte! Du lügst! Du lügst!« fiel Tristan zornig ein. »Ich habe gute Lust, die Hexe laufen zu lassen und Dich zu packen. Eine Viertelstunde auf der Folter wird Dir vielleicht die Wahrheit aus dem Rachen ziehen. Mach Dich fertig!«
Die Klausnerin griff gierig diese Worte auf: »Wie Ihr wollt, gnädiger Herr! Spannt mich auf die Folter. Ich bin es wohl zufrieden. Führt mich fort! Gleich, auf der Stelle!«
Während ich auf der Folter liege, dachte die Mutter, kann sich meine Tochter retten.
»Beim Himmel!« sagte der Prevot, »die sehnt sich ja ordentlich nach der Folter! Sie muß eine Närrin sein.«
Ein alter Sergent der Nachtwache trat vor und sagte zum Prevot: »So ist es, gnädiger Herr! Das Weib ist närrisch, und wenn sie die Zigeunerin losgelassen hat, so ist es nicht ihre Schuld, denn sie liebt die Aegypter nicht. Ich bin schon fünfzehn Jahre bei der Runde, und hörte sie jeden Abend die Zigeunerinnen mit tausend Flüchen verwünschen. Wenn diejenige, welche wir verfolgen, die kleine Tänzerin mit der Ziege ist, wie ich glaube, so weiß ich, daß sie diese am meisten haßt,«
Die Klausnerin nahm alle ihre Kraft zusammen und wiederholte: »Diese am meisten.«
Das einstimmige Zeugniß der Leute von der Nachtwache bestätigte dem Prevot die Wahrheit dessen, was der alte Sergent gesagt hatte. Tristan, der nichts weiter aus ihr herauszubringen hoffte, kehrte ihr den Rücken, und mit unaussprechlicher Angst sah sie ihn seinem Pferde zugehen.
»Aufgesessen!« murmelte er zwischen den Zähnen, »ich will nicht ruhen, bis diese Zigeunerin gehängt ist.«
Er zauderte inzwischen noch einige Zeit, ehe er zu Pferd stieg. Die Klausnerin schwebte zwischen Leben und Tod, als sie ihn auf dem Platze umher wie einen Jagdhund herumschnuppern sah, der die Nähe des Wildes riecht und sich nicht entfernen will. Endlich schüttelte er den Kopf und sprang in den Sattel. Das gepreßte Herz der Klausnerin erweiterte sich, sie warf einen Blick auf ihre Tochter, welche sie bisher nicht anzusehen gewagt hatte, und sagte leise: »Gerettet!«
Das arme Mädchen war diese ganze Zeit über in seinem Winkel geblieben, ohne sich zu rühren, ohne einen Hauch von sich zu geben. Der Tod stand vor ihrer Thüre. Sie hatte den ganzen Auftritt zwischen der Klausnerin und Tristan mit angehört, und jede Angst ihrer Mutter war ihr wie ein Pfeil in das eigene Herz gedrungen. Sie hatte mitempfunden, wie nach und nach das Seil brach, das sie über dem Abgrund schwebend erhielt; sie hatte jede Minute geglaubt, daß es jetzt brechen und sie in dem Schlund begraben werde. Endlich athmete sie freier und fühlte wieder festen Fuß auf der Erde.
In diesem Augenblicke hörte sie eine Stimme sagen: »Donnerwetter, Herr Prevot! Ich bin ein Soldat, und es ist nicht meine Sache, Hexen zu hängen. Das Lumpenpack ist zusammengehauen, das Andere könnt Ihr allein ausrichten. Ich gehe zu meiner Compagnie, die ihren Anführer braucht.«
Diese Stimme gehörte Phöbus de Chateaupers an. Die Aegypterin hörte sie mit unaussprechlicher Wonne, er war also da, ihr Freund, ihr Beschützer, ihr Asyl, ihr Phöbus! Sie sprang auf, und ehe ihre Mutter es hindern konnte, stand sie am Gitter und schrie! »Phöbus! Hieher, mein Phöbus!«
Phöbus war nicht mehr da. Er war eben im Galopp um die Straßenecke verschwunden. Tristan aber war noch nicht fortgeritten.
Die Klausnerin stürzte sich heulend auf ihre Tochter und zog sie so gewaltsam zurück, daß ihre Nägel in ihr Fleisch drangen. Sie war wie eine wüthende Tigerin. Allein zu spät, Tristan hatte sie schon gesehen.
»He! He!« rief er mit höllischem Lachen, »zwei Mäuse in einer Falle!«
»Ich merkte es doch,« sagte der Soldat.
Tristan klopfte ihm auf die Schulter: »Du bist eine gute Katze! Wo ist Henriet Cousin?«
Ein Mann, der weder das Gesicht noch die Kleidung eines Soldaten hatte, trat aus den Reihen, Er trug einen Bündel Stricke in seiner plumpen Faust. Dieser Mensch war immer bei Tristan, und Tristan immer bei dem König Ludwig.
»Freund,« sagte Tristan, »das ist ohne Zweifel die Hexe, die wir suchen. Hänge sie fein ordentlich! Hast Du Deine Leiter bei Dir?«
»Es ist eine da unten, gleich unter dem Schoppen,« antwortete der Mensch. »Soll die Sache an diesem Galgen verrichtet werden?«
»Ja!«
»Ho!« fuhr er mit einem bestialischen Gelächter fort, »dann haben wir keinen weiten Weg zu machen.«
»Spute Dich, Du kannst nachher lachen!« sagte Tristan.
Seit Tristan ihre Tochter gesehen hatte und alle Hoffnung verschwunden war, hatte die Klausnerin noch kein Wort gesprochen. Sie hatte das arme Mädchen halbtodt in den Winkel der Zelle gelegt und war an das Gitter getreten. Ihre beiden Hände waren links und rechts um die Stäbe geklammert, wie Klauen. In dieser Stellung betrachtete sie furchtlos die Soldaten rund umher. Ihr Blick hatte einen furchtbaren Ausdruck ingrimmigen Wahnsinns. Als Henriet Cousin sich der Zelle näherte, warf sie einen so entsetzlichen Blick auf ihn, daß er zurückbebte,
»Gnädiger Herr,« sagte er zum Prevot, »welche von beiden soll gehängt werden?«
»Die Junge.«
»Desto besser, denn die Alte scheint mir nicht sehr zugänglich.«
»Arme kleine Tänzerin mit der weißen Ziege!« sagte der alte Sergent der Nachtwache.
Henriet Cousin näherte sich der Oeffnung. Sein Auge konnte den furchtbar glühenden Blick der Mutter nicht ertragen. Er schlug es zu Boden und sagte mit ungewohnter Schüchternheit: »Madame . . .«
Sie unterbrach ihn mit tiefer, vor innerer Wuth zitternder Stimme: »Was willst Du?«
»Nicht Euch, sondern die Andere.«
»Welche Andere?«
»Die Junge,«
Sie schüttelte den Kopf und schrie: »Es ist Niemand hier! Es ist Niemand hier! Es ist Niemand hier!«
»Doch,« erwiederte der Henker, »Ihr wißt es wohl. Laßt mich die Junge nehmen. Ich will ja Euch kein Leids anthun.«
»Ah! Du willst mir kein Leid anthun, mir!« wiederholte sie mit bitterem Lachen.
»Laßt mir die Andere, liebe Frau! Der Herr Prevot will es so haben.«
Sie wiederholte im Tone des Wahnwitzes: »Es ist Niemand da! Es ist Niemand da! Es ist Niemand da!«
»Doch!« versetzte der Henker. »Wir haben Alle gesehen, daß Ihr zu zwei waret.«
»So, sieh selbst nach! Stecke Deinen Kopf durch die Oeffnung!« sagte die Wahnsinnige mit herausforderndem Trotz.
Der Henker warf einen Blick auf sie und wagte nicht näher zu treten.
»Spute Dich!« schrie ihm Tristan zu, der seine Reiter im Halbzirkel um das Rattenloch aufgestellt hatte und zu Pferd in der Nähe des Galgens hielt.
Der Henker trat zu ihm; er war ganz verstört und hatte seinen Strick auf den Boden gelegt. »Gnädiger Herr,« fragte er, »wie soll ich hineinkommen?«
»Durch die Thüre.«
»Es ist keine da.«
»Durch das Fenster.«
»Es ist zu enge.«
»Mach es weiter,« erwiederte Tristan zornig. »Gibt es keine Hämmer mehr in der Welt?«
Die arme Mutter stand fortwährend auf der Wache unter ihrer Höhle und hütete den Eingang. Sie hoffte nichts mehr, sie wußte nicht, was sie wollte; aber sie wollte sich ihre Tochter nicht nehmen lassen, das allein wußte sie.
Der Henker ließ die Leiter an den Galgen setzen. Tristan trat mit fünf oder sechs Mann von der Prevotalwache, die Steinhauer-Werkzeuge in der Hand führten, an die Oeffnung der Zelle.
»Alte,« sagte er mit strengem Tone, »liefere uns dieses Mädchen gutwillig aus.«
Sie betrachtete ihn wie Jemand, der nicht versteht.
»Alle Teufel!« fuhr Tristan fort, »warum willst Du denn hindern, daß diese Hexe gehängt werde, wie es des Königs Wille ist?«
Die Unglückliche schlug ein wildes Gelächter aus: »Warum? Weil sie meine Tochter ist.«
Der Ton, mit dem sie dieses Wort aussprach, war so entsetzlich, daß er selbst den Prevot und den Henker schaudern machte.
»Es thut mir leid,« erwiederte Tristan, »aber so lautet des Königs Wille.«
Sie lachte abermals wild auf: »Was geht mich Dein König an? Ich sage Dir ja, daß es meine Tochter ist!«
»Brecht die Mauer durch,« sagte Tristan.
Um dies zu bewerkstelligen, durfte man nur die Steine unterhalb der Oeffnung abheben. Als die Klausnerin den Schlag der Hämmer hörte, die ihre Festung untergraben sollten, stieß sie einen furchtbaren Schrei aus. Dann wendete sie sich mit erstaunlicher Schnelligkeit in ihrer Zelle hin und her, wie ein wildes Thier in seinem Käfig. Sie sprach nichts, aber ihre Augen schossen Blitze aus. Die Soldaten betrachteten sie mit einem Schauder, der durch Mark und Bein drang.
Plötzlich nahm sie ihren großen Stein, lachte laut, hob ihn mit beiden Fäusten in die Höhe, und warf ihn auf die Arbeiter. Der mit zitternder Hand geworfene Stein traf Niemand und blieb unter den Füßen von Tristans Pferd liegen. Sie grinste mit den Zähnen.
Inzwischen war es vollkommen Tag geworden, obwohl man die Sonne noch nicht am Himmel erblickte. Einige Fenster der umliegenden Häuser öffneten sich, Marktleute mit ihren Eseln zogen über den Platz, blieben einen Augenblick vor diesem Soldatenhaufen, der sich um das Rattenloch versammelt hatte, erstaunt stehen und gingen dann weiter.
Die Klausnerin hatte sich neben ihre Tochter gesetzt, deckte sie mit ihrem Körper, sah sie starr an und hörte, wie das arme Kind von Zeit zu Zeit aus tiefer Brust seufzte: »Phöbus! Phöbus!«
Je mehr die Zerstörung der Arbeiter vorzurücken schien, um so näher drängte sich die Mutter an ihre Tochter. Plötzlich sah sie einen Stein stürzen und vernahm die Stimme Tristans, der die Arbeiter ermunterte. Jetzt erwachte sie aus ihrer Betäubung und schrie mit einer Stimme, die bald wie ein schneidendes Werkzeug das Ohr zerriß, bald stotterte, als ob alle Verwünschungen sich auf ihren Lippen drängten, um zumal loszubrechen: »Ho! Ho! Ho! Das ist doch entsetzlich! Ihr Räuber, die Ihr seid! Wollt Ihr mir denn wirklich meine Tochter nehmen? Ich sage Euch ja, daß es meine Tochter ist! Oh, die feigen Henker! Oh, die elenden Meuchelmörder! Zu Hülfe! Zu Hülfe! Es brennt! So lasse ich mir mein Kind nicht nehmen! Wer ist denn der, den man unsern Herrgott nennt?«
Jetzt wendete sie sich an Tristan, schäumend, mit stierem Blick, auf allen Vieren liegend wie ein Panther: »Komm einmal und nimm mir mein Kind! Verstehst Du denn nicht, daß dieses Weib hier Dir sagt, daß dieses Mädchen ihre Tochter sei? Weißt Du, was das ist, ein Kind zu haben? Sprich, Wehrwolf! Hast Du nie einen kleinen Wolf gehabt? und wenn Deine Jungen heulen, kehrt Dir das nicht das Herz im Leibe um?«
»Laßt den Stein nieder, er hält nimmer!« sagte Tristan.
Die Hebebäume hoben die schwere Masse. Der letzte Wall der Mutter war gebrochen. Sie warf sich darauf, wollte den Stein zurückhalten, zerkratzte ihn mit ihren Nägeln, allein die gewichtige Masse, von sechs Männern in Bewegung gesetzt, entwischte ihr und rutschte sachte an den eisernen Hebebäumen hinab auf den Boden.
Jetzt, da die Zelle zugänglich war, warf sich die Mutter quer vor den Eingang, verrammelte die Bresche mit ihrem Körper, rang die Hände, stieß den Kopf auf den harten Stein, und schrie mit einer vor Anstrengung erschöpften, kaum hörbaren Stimme: »Zu Hülfe! Zu Hülfe! Es brennt! Es brennt!«
»Jetzt nehmt das Mädchen,« sagte immer ungerührt Tristan.
Die Mutter warf so furchtbare Blicke auf die Soldaten, daß sie eher Lust hatten zurückzuweichen, als vorwärts zu gehen.
»Vorwärts doch!« sagte der Prevot. »Henriet Cousin, was zauderst Du?«
Niemand that einen Schritt.
Der Prevot fluchte: »Beim heiligen Christ! Ihr wollt Soldaten sein, und fürchtet Euch vor einem Weib?«
»Gnädiger Herr,« erwiederte Henriet, »Ihr nennt das ein Weib?«
»Sie hat eine Löwenmähne,« sagte ein Anderer.
»Vorwärts!« fuhr der Prevot fort, »der Eingang ist breit genug. Dringt zu drei in einer Reihe ein, wie in der Bresche von Pontoise. Macht der Sache ein Ende, und den ersten, der zurückweicht, haue ich in zwei Stücke,«
Zwischen die Drohungen des Prevot und die Furcht vor der Klausnerin gestellt, zauderten die Soldaten einen Augenblick und rückten dann gegen das Rattenloch an.
Als die Klausnerin dieses sah, erhob sie sich plötzlich auf ihre Kniee, strich ihre grauen Haare aus dem Gesichte und ließ ihre abgemagerten Arme auf die Hüften herabfallen.
Jetzt drangen große Thränen, eine nach der andern, aus ihren Augen, und flohen wie ein Strom, der sich Bahn gemacht hat, über ihre eingefallenen Wangen herab. Zu gleicher Zeit begann sie mit einer so sanften, bittenden, unterwürfigen, rührenden Stimme zu sprechen, daß mehr als einer der rohen Soldaten der Prevotalwache, die um ihren Anführer standen und sonst das Leben eines Menschen für nichts achteten, sich die Augen wischte.
»Gnädige Herren! Ihr Herren Sergenten von der Nachtwache!« sagte sie, »nur ein Wort! Es ist etwas, was ich Euch sagen muß. Das ist mein Kind, seht Ihr! Mein liebes kleines Kind, das ich verloren hatte! Versteht Ihr das? Oh, das ist eine Geschichte! Stellt Euch vor, daß ich die Herren Sergenten recht gut kenne. Sie waren immer so gütig gegen mich, zur Zeit als mich die kleinen Buben mit Steinen warfen, weil ich eine Hure war. Seht, Ihr laßt mir gewiß mein Kind, wenn Ihr erst Alles wissen werdet. Ich war ein armes Freudenmädchen. Die Zigeunerinnen hatten sie mir gestohlen. Ich hatte sie nicht mehr, aber ihren kleinen Schuh habe ich fünfzehn Jahre lang aufbewahrt. Seht, da ist er. Nicht wahr, sie hatte einen kleinen Fuß? Zu Rheims! Paquette Chantefleurie! Straße Folle-Peine. Ihr werdet wohl davon wissen. Ich war die Chantefleurie. Ihr habt Mitleid mit mir, nicht wahr, meine gnädigen Herren! Die Zigeunerinnen hatten sie mir gestohlen und fünfzehn Jahre lang versteckt. Ich hielt sie für todt. Stellt Euch vor, meine lieben Freunde, daß ich sie für todt hielt. Darum ging ich in diese Zelle und bin jetzt fünfzehn Jahre hier, ohne Feuer im Winter. Das ist hart, sehr hart. Der arme liebe kleine Schuh! Ich habe so lange gebetet, bis mich der liebe Gott endlich erhört hat. In dieser Nacht hat er mich erhört und mir mein Kind zurückgegeben. Ja dieses Wunder hat der liebe Gott verrichtet. Sie war nicht todt. Ihr werdet sie mir nicht nehmen, das weiß ich gewiß. Wenn Ihr mich haben wolltet, würde ich nichts sagen, aber sie, ein Kind von sechzehn Jahren! Laßt ihr doch Zeit, die Sonne zu sehen; was hat sie Euch gethan? Nichts, gar nichts. Ich auch nicht. Wenn Ihr wüßtet, daß ich sonst nichts habe auf der Welt, als dieses Kind, daß ich alt bin, und daß es ein Segen der heiligen Jungfrau ist, welchen sie mir zurückgegeben hat! Ihr seid ja lauter gute Leute. Ihr wußtet nicht, daß es mein Kind ist, jetzt wißt Ihr es. Ich liebe dieses Kind, Herr Generalprofos, und ich wollte lieber ein Loch in meinem Leibe, als daß ihm der kleine Finger geritzt würde. Ihr seht aus, wie ein guter gnädiger Herr! Ihr wißt jetzt, wie die Sache ist, nicht wahr? Oh! Wenn Ihr auch eine Mutter habt, gnädiger Herr, laßt mir mein Kind, Ihr habt ja hier zu befehlen! Wollet erwägen, daß ich auf den Knieen vor Euch liege, wie vor einem Jesusbilde! Ich verlange von Niemand etwas, ich bin aus Rheims, meine gnädigen Herren! Ich besitze dort ein Stück Feld von meinem Oheim, Mahiet Pradon. Ich bin keine Bettlerin. Ich verlange nichts, ich will nur mein Kind haben. Ich will es behalten, der liebe Gott, der unser Aller Herr ist, hat es mir nicht umsonst zurückgegeben. Der König! Ihr sagt, der König! Was wird es ihm für Vergnügen machen, wenn man mein kleines Kind tödtet? Und der König ist ja gut! Es ist mein Kind, mein eigen! Sie gehört nicht dem König, und auch nicht Euch! Ich will fort, wir wollen fort! Zwei Weibspersonen, wovon die eine die Mutter, und die andere die Tochter ist, man läßt sie passiren! Laßt uns passiren! wir sind aus Rheims! Wir sind lauter brave Leute, und ich weiß, daß mir die Herren Sergenten mein liebes kleines Kind nicht nehmen werden, das ist unmöglich! Nicht wahr, das ist ganz unmöglich? Mein Kind will ich behalten.«
Man kann sich keinen Begriff machen von den Geberden und dem Ton der unglücklichen Mutter, von den Thränen, welche sie hinabschluckte, während sie sprach, von ihrem Händeringen, von ihrem schmerzlichen Lächeln und herzzerreißenden Stöhnen. Als sie schwieg, runzelte Tristan die Stirne, aber es geschah, um eine Thräne zu verbergen, die in seinem Tigerauge perlte. Er besiegte jedoch diese Schwäche und sagte kurz abbrechend: »Der König will es haben!«
Hierauf neigte er sich zum Ohre des Henkers und sagte leise zu ihm: »Mach der Sache ein Ende!«
Der furchtbare Generalprofos fühlte vielleicht, daß selbst ihm das Herz zu brechen begann.
Der Henker und die Soldaten drangen in die Zelle ein. Die Mutter leistete keinen Widerstand, sondern schleppte sich bloß zu ihrer Tochter hin und deckte sie mit ihrem Leibe. Als die Aegypterin die Soldaten nahen sah, erweckte sie der Todesschrecken aus ihrer Betäubung.
»Meine Mutter!« schrie sie mit unaussprechlicher Angst. »Zu Hülfe, meine Mutter! Sie kommen!«
»Ja, mein Herzenskind, ich helfe Dir!« antwortete die Mutter mit gebrochener Stimme und schloß sie fest in ihre Arme.
So lagen beide, Mutter und Tochter fast leblos am Boden – ein jammervoller Anblick,
Henriet Cousin faßte das Mädchen um die Mitte des Leibes. Als sie seine Hand fühlte, stieß sie einen Schrei aus und sank in Ohnmacht. Der Henker, aus dessen Augen große Thränentropfen fielen, wollte sie forttragen. Er versuchte die Mutter von ihr loszumachen, aber sie hatte sich so fest an ihr Kind geklammert, daß es unmöglich war, sie von ihm zu trennen. Nun schleifte der Henker beide zumal aus der Zelle. Mutter und Tochter lagen da mit geschlossenen Augen. Die Sonne ging eben auf, und es waren schon ziemlich viele Leute auf dem Platze, die von Ferne zusahen, was man da gegen den Galgen schleife. Sie blieben in gemessener Entfernung, denn der Generalprofos pflegte die Neugierigen nicht zuzulassen. An den Fenstern erblickte man Niemand. Nur auf dem Thurme der Liebfrauenkirche sah man zwei Menschen, die auf den Grèveplatz herabzuschauen schienen.
Der Henker hielt am Fuße der Leiter und legte, tief athmend, so sehr hatte ihn die Sache ergriffen, die Schlinge um den schönen Hals des Mädchens. Die Unglückliche fühlte die furchtbare Berührung des Stricks. Sie öffnete die Augenlider und sah den Galgen über ihrem Haupte. Jetzt schüttelte sie sich und schrie mit lauter herzzerreißender Stimme. »Nein! Nein! Ich will nicht!«
Die Mutter, deren Kopf in den Kleidern der Tochter ganz versteckt war, sprach nichts; aber ihr ganzer Körper zitterte und sie bedeckte ihr Kind mit Küssen. Der Henker benützte diesen Augenblick, die Arme loszumachen, welche die Verurtheilte umschlungen hielten. Sei es Erschöpfung, sei es Verzweiflung, sie ließ es geschehen. Jetzt nahm er das Mädchen auf die Schulter und trat auf die erste Stufe der Leiter.
In diesem Augenblick öffnete die Mutter die Augen. Lautlos, aber mit entsetzlicher Miene, fuhr sie in die Höhe, stürzte wie ein wildes Thier auf den Henker los und biß ihn in die Hand. Dies war wie ein Blitz geschehen. Der Henker heulte vor Schmerz. Man lief hinzu. Mit Mühe befreite man seine blutende Hand von ihren Zähnen. Sie sprach nichts. Man stieß sie zurück, ihr Kopf sank auf die Brust, der Körper auf das Pflaster, sie war todt.
Der Henker, der das Mädchen nicht losgelassen hatte, stieg jetzt die Leiter hinauf.