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Die Stimme, die ihn in der Dämmerung nach der Barrikade der Rue de la Chanvrerie gerufen hatte, kam Marius wie eine Botin des Schicksals vor. Er wollte sterben und die Gelegenheit dazu war gefunden; er klopfte an das Thor des Todes und eine unbekannte Hand warf ihm den Schlüssel dazu hin. Seine Verzweiflung konnte der Einladung dazu nicht widerstehn; er eilte aus dem Garten hinaus und sagte: »Vorwärts!«
Traf es sich doch auch zugleich, daß er Waffen, die Pistolen, die ihm Javert geliehen hatte, bei sich trug!
Von der Rue Plumet aus ging er schnellen Schrittes den Boulevard entlang, über den Pont des Invalides nach den Champs-Elysées und in die Rue de Rivoli hinein. Hier standen die Läden offen und in den Colonaden brannte das Gas; man sah Frauen, die ihre Einkäufe besorgten und im Café Laiter, sowie in der englischen Pastetenbäckerei sah man Gäste. Also das gewohnte Treiben, nur daß von dem Hotel des Princes und Meurice einige Postkutscher im Galopp davonfuhren.
Marius ging durch die Passage Delorme nach der Rue Saint-Honoré. Hier waren die Läden geschlossen, die Kaufleute standen vor den halbgeöffneten Thüren und plauderten; auf der Straße gingen Leute; die Laternen waren angezündet und die Fenster in den Häusern wie gewöhnlich erleuchtet. Auf dem Platz des Palais-Royal lag Kavallerie. Marius schritt die Rue Saint Honoré entlang. Je weiter er sich vom Palais-Royal entfernte, desto weniger Licht sah er hinter den Fenstern. Die Läden waren vollständig geschlossen, die Straße wurde dunkler und in demselben Maße nahm die Menschenmenge zu. Man sah hier Niemanden sprechen und dennoch vernahm man starkes Stimmengesumm.
Bei der Fontaine des Arbre-Sec waren »Aufläufe«, unbewegliche Gruppen von unheimlichen Leuten, die sich unter den Gehenden und Kommenden wie Felsblöcke in einem strömenden Wasser ausnahmen.
Am Eingange in die Rue des Prouvaires staute sich die Menge zu einer kompakten, fast undurchdringlichen Masse.
Schwarze Röcke und runde Hüte bekam man hier fast garnicht mehr zu sehen, nur Kittel, Jacken, Mützen. Man hörte ein dumpfes drohendes Gemurmel und, obgleich keiner sich von der Stelle bewegte, ein Gestampf im Koth. Jenseit dieser Menschenmasse sah man in den Straßen keine erleuchtete Fensterscheibe mehr, nur noch einsame und allmählich abnehmende Reihen von Laternen. Die damaligen Laternen sahen aus wie große, rothe, an Stricken aufgehängte Sterne und der Schatten, den sie auf dem Pflaster bildeten, hatte die Gestalt einer gewaltigen Spinne. Diese Straßen waren nicht menschenleer. Man unterschied Gewehrpyramiden, Bajonette, die sich hin- und herbewegten, bivouakirende Soldaten. Neugierige drangen in diese Region nicht vor.
Aber Marius verzweifelter Wille ließ sich durch solche Hindernisse nicht abschrecken. Er fand Mittel und Wege, durch die dichtgedrängte Volksmenge, durch den Bivouak hindurchzukommen, sich der Aufmerksamkeit der Patrouillen zu entziehen, die Schildwachen zu umgehen. Er machte einen Umweg durch die Rue de Béthisy und die Rue des Bourdonnais, um nach der Markthalle zu gelangen. In der Zone, wo er sich jetzt befand, sah es grausig und unheimlich aus. Keine Menschenseele, kein Licht in den Häusern, keine Laternen in den Straßen. Nur ein Mal hörte er Schritte. Aber ob derjenige, der an ihm vorüberrannte, ein Mann oder eine Frau war, hätte er nicht sagen können.
In einer Straße, die er für die Rue de la Poterie hielt, stieß er auf ein Hinderniß. Er betastete den Gegenstand mit den Händen und fand, daß es ein umgestürzter Karren war; mit den Füßen trat er in Vertiefungen und auf Haufen von Pflastersteinen. Es war eine angefangne, von ihren Erbauern wieder aufgegebne Barrikade. Marius kletterte über dieselbe hinüber und ging weiter, immer zwischen den Prellsteinen und der einen Häuserreihe, bis er nicht weit von der Barrikade etwas Weißes sah. Als er näher kam, erkannte er, daß es zwei Schimmel waren, dieselben, die Laigle am Morgen von dem Omnibus abgespannt hatte. Die armen Pferde waren den ganzen Tag über von Straße zu Straße herumgeirrt und standen jetzt mit jener müden Geduld der Thiere, denen die Handlungen der Menschen so unverständlich sind, wie den Menschen die Beschlüsse der Vorsehung.
Weiterhin pfiff dicht bei Marius eine Kugel vorbei, ohne daß er errathen konnte, woher sie kam, und durchbohrte ein Barbierbecken über seinem Kopf.
Der Flintenschuß bewies wenigstens, daß es in dieser Gegend noch Menschen gab; aber weiterhin war alles still und öde.
Nichtsdestoweniger setzte Marius seinen Weg fort.
Wer in jener Nacht mit Fledermaus- oder Uhuflügeln über Paris hätte hinschweben können, würde ein unheimlich düstres Bild vor Augen gehabt haben.
Das ganze, alte Markthallenviertel, das gleichsam eine Stadt in der Stadt ist, wo unzählige, schmale Straßen sich kreuzen und wo die Insurgenten sich eine Festung und einen Waffenplatz geschaffen hatten, hob sich, von oben betrachtet, aus dem Lichtmeer rings umher wie eine dunkle Höhle, wie ein schwarzer Abgrund ab. Die unsichtbare Polizei der Aufständischen sorgte dafür, daß hier überall Ordnung, d. h. Dunkelheit herrschte. Bestand doch ihre Taktik nothgedrungen darin, daß sie ihre numerische Schwäche verhehlten und sich durch ihre Unsichtbarkeit gefährlicher machten. Nach Einbruch der Dunkelheit war auf jedes von innen erleuchtete Fenster geschossen worden. Auf diese Weise erreichte man, daß alle Lichter gelöscht wurden, wobei freilich auch Menschen ums Leben kamen. Deshalb herrschte in den Häusern auch nur Schrecken und Trauer und auf den Straßen andachtsvolle Stille. Man konnte nicht einmal die langen Fenster- und Häuserreihen, die Dächer und Schornsteine, das nasse Pflaster und die Wassertümpel auf den Straßen sehen. Allerdings hätte das Auge des Beschauers von oben in diesen Schattenmassen hier und dort undeutlich erleuchtete Stellen, unregelmäßige Linien, sonderbare Umrisse erkannt, an Orten nämlich, wo Barrikaden angelegt waren. Alles Uebrige war in ein nebliges, dunstiges Dunkel gehüllt, aus dem schauerlich der Turm Saint-Jacques, die Kirche Saint-Merry und einige andre Riesengebäude hervorragten.
Rings um dieses öde Labyrinth, in einer helleren Zone, glänzten Bajonette und Säbel, rollten Geschütze und legte sich langsam ein immer engrer Gürtel um das Hauptquartier der Aufständischen.
In dieser dunklen Höhle mußten die Regierung und die Insurrektion, die Bürgerwehr und die politischen Gesellschaften, die Bourgeoisie und das Volk zum Entscheidungskampfe auf einander stoßen. Für beide Theile gab es keinen andern Ausweg, als den Feind vernichten oder selber zu Grunde gehn.
Um die Markthallen herum fand Marius alles noch stiller und öder, als in den angrenzenden Straßen. Es war, als sei die eisige Ruhe des Grabes aus der Erde emporgestiegen und habe sich unter dem Himmel ausgebreitet.
Indessen hob ein rother Lichtschein die hohen Dächer der Häuser, die in der Rue de la Chanvrerie den Blick nach der Kirche Saint Eustache hin hemmten, von dem dunklen Hintergrunde ab. Er kam von der Fackel, die auf der Barrikade des Wirtshauses Corinthe brannte. Nach diesem Licht lenkte Marius seine Schritte und gelangte so in die Rue des Prêcheurs. Die Schildwache der Insurgenten, die am andern Ende der Straße stand, bemerkte ihn nicht. In dem Gefühl, daß das, was er suchte, nahe war, schlich er auf den Fußspitzen weiter und sah vorsichtig um die Ecke in den von Enjolras offen gelassenen Theil der Rue Mondétour hinein.
Jenseit des Schattens, in dem er stand, erblickte er ein Stück des Wirtshauses und, beim Schein eines Lampions, Männer mit Gewehren auf den Knien auf der Erde sitzen.
Er war am Ziel.
Da setzte sich der unglückliche, junge Mann auf einen Stein, kreuzte die Arme und dachte an seinen Vater, an den heldenmüthigen Oberst Pontmercy.
Er sagte sich, daß jetzt seine Zeit gekommen sei, daß er jetzt feindlichen Kugeln und Bajonetten entgegenstürmen, daß auch er sich jetzt in den Krieg stürzen werde.
Aber dieser Krieg war ein Bürgerkrieg und Marius schauderte.
Da erinnerte er sich an den Degen seines Vaters, der an einen Trödler verschachert worden war, und dessen Verlust er so sehr bedauert hatte. Jetzt war er andern Sinnes. Welch ein Glück, daß die edle Waffe nicht mehr da war, nicht gegen Franzosen gezückt, nicht durch den Kampf gegen das Vaterland entweiht werden konnte.
Bei diesem Gedanken weinte er bitterlich.
Aber was sollte er thun? Ohne Cosette konnte er nicht leben. Nun sie fortgegangen war, mußte er doch sterben. Hatte er ihr doch sein Ehrenwort gegeben, daß ihre Abreise seinen Tod nach sich ziehen werde. Sie war trotzdem gegangen; mithin mußte es ihr recht sein, wenn er in den Tod ging. Außerdem war es ja auch klar, daß sie ihn nicht mehr liebte; sonst wäre sie nicht so davongegangen, ohne ihn zu benachrichtigen, ohne ihm zu schreiben. Seine Adresse wußte sie ja. Wert hatte das Leben also nicht mehr für ihn. Und konnte er jetzt noch zurückweichen, wo er der Gefahr schon gegenüberstand? Wie? Er sollte, nun er vor der Barrikade stand, sagen: »Ach, das geht ja nicht; es ist ja ein Bürgerkrieg!« und zitternd davonlaufen? Sollte in jeder Hinsicht wider die Gebote der Ehre handeln, seine Freunde, die ihn gerufen, im Stich lassen und das Wort brechen, das er Cosette gegeben? Nein! sogar sein Vater, der nie gegen Frankreich gekämpft hatte, würde, wenn er ihn jetzt sehen könnte, ihm zurufen: »Vorwärts, Memme!«
Plötzlich richtete er wieder das Haupt empor. Die Nähe des Todes hatte seinen innern Blick geschärft, sein Urtheil berichtigt, Der Straßenkrieg erschien ihm jetzt in einem andern, herrlichen Lichte. Alle die Fragen, die ihn eben noch so beunruhigt hatten, drängten sich ihm von Neuem auf, aber dies Mal konnte er sie beantworten.
Warum hätte sein Vater ihm zürnen sollen? Giebt es keine Fälle, wo der Aufstand zum Range einer Pflicht emporsteigt? Was vergab sich der Sohn des Obersten Pontmercy, wenn er, zwar nicht den heiligen Boden Frankreichs vertheidigte, aber für eine große Idee sich in den Kampf stürzte? Mochte das Vaterland klagen, das Wohl der Menschheit wurde gefördert. Aber war es denn überhaupt so sicher, daß sich das Vaterland beklagen würde? Blutete Frankreich, so gedieh die Freiheit, und vor dem Lächeln der Freiheit pflegt ja Frankreich seine Wunden zu vergessen. Und betrachtete man vollends die Dinge von einem höhern Standpunkte aus, wie konnte man denn von einem »Bürgerkriege« sprechen?
Alle Menschen sind Bürger des Weltalls, alle Kriege zwischen Menschen sind Bruderkriege. Das Wesen des Krieges besteht in seinem Endzweck; nur darauf kommt es an, ob er gerecht oder ungerecht ist. Bis zu dem Tage, wo die Menschheit einen großen Bund schließen wird, kann der Krieg, wenigstens wenn er im Namen der Zukunft gegen die träge Vergangenheit streitet, nothwendig sein. Nur wenn er das Recht, den Fortschritt, die Vernunft, die Civilisation, die Wahrheit mordet, wird er frevelhaft und schändlich. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob er gegen innre oder auswärtige Feinde geführt wird, ein Verbrechen ist er dann immer. Wenn man aber die Gerechtigkeit außer Betracht läßt, mit welchem Recht darf man eine Art Krieg im Vergleich mit einer andern verachten? Wie darf Washington's Degen Camille Desmoulins's Pike verleugnen? Wer ist größer: Leonidas, der gegen auswärtige, oder Timoleon, der gegen einen innern Feind, den Tyrannen seiner Vaterstadt kämpfte? Wollt ihr, ohne nach dem Zweck zu fragen, jede Erhebung innerhalb des Staates tadeln? Dann müßt ihr Brutus, Marcel, Arnold von Blankenheim, Coligny brandmarken. Von dem Guerilla-, dem Straßenkrieg wollt ihr nichts wissen? So kämpfte aber Ambiorix gegen Rom, Artevelde gegen Frankreich, Philipp von Marnix gegen Spanien, d. h. Alle gegen auswärtige Feinde. Nun, ein auswärtiger Feind ist auch die Monarchie, die Unterdrückung, das Gottesgnadenthum. Denn der Despotismus mißachtet die moralische Grenze, wie auswärtige Feinde die politische. Es ist also dasselbe, ob man einen Tyrannen oder eine ausländische Armee aus Frankreich verjagt: Immer nimmt man das Seinige zurück. – Aber darf man Louis Philippe einen Tyrannen nennen? Nein, ebenso wenig wie Ludwig XVI. Beide sind, was die Geschichte gute Könige nennt. Aber Principien lassen sich nichts abhandeln, die Logik und Wahrheit lassen sich nicht auf Kompromisse ein und jedes Attentat gegen die Menschenrechte muß beseitigt werden. Ludwig XVI. war ein König von Gottes Gnaden. Alle Beide also vertreten die Konfiskation des Rechtes und müssen, will man die Usurpation von dem Erdboden überhaupt vertilgen, bekämpft werden; wohlbemerkt: müssen, weil Frankreich stets den andern Völkern mit gutem Beispiel vorangeht. Wenn der Despotismus in Frankreich gestürzt wird, muß er überall weichen. Es gilt also jetzt die Freiheit auf den Thron zu setzen, der Vernunft und Billigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen, die Keime aller Feindseligkeiten, die uns Menschen unter einander entzweien, dadurch zu ersticken, daß Jedem die freie Selbstbestimmung wiedergegeben wird, das Hinderniß aus dem Wege zu räumen, das das Königthum der Herstellung der allgemeinen Eintracht entgegenstellt. Giebt es eine gerechtere Sache als diese, einen heiligeren, schöneren Krieg? Nur wenn wir solche Kämpfe aufnehmen, können wir dem Frieden eine dauerhafte Wohnung schaffen. Noch haben in der Welt die Vorurtheile, Vorrechte, der Aberglaube, die Lüge, die Mißbräuche, die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die Unwissenheit eine gewaltige Zwingburg, die zertrümmert werden muß. Wohl ist es etwas Schönes um einen Sieg über auswärtige Feinde; aber herrlicher noch ist die Bezwingung eines einheimischen Tyrannen.
Während er so trotz all seinem Jammer das Für und Wider richtig abwog, irrten seine Blicke über die Barrikade hin, wo die Aufständischen unbeweglich saßen und sich halblaut unterhielten. Ueber ihnen, an einer Luke, sah Marius noch einen Zuschauer oder Zeugen, dessen Aufmerksamkeit ihm höchst verwunderlich vorkam. Es war der von Le Cabuc erschossene Portier. Von unten konnte man bei dem schwachen Licht der Fackel den Kopf undeutlich erkennen. Nichts Sonderbareres, als dieses bleiche, unbewegliche, erstaunte Gesicht mit den starren Augen und dem offnen Munde, das in der Haltung der Neugierde nach unten geneigt war. Von der Luke zogen sich bis zum ersten Stockwerke rothe Streifen, – das Blut, das aus dem Kopfe herausgeströmt war.