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Wie der Leser gemerkt haben wird, hatte Eponine, als sie durch das Gitter in der Rue Plumet gesehen, wer in dem Hause wohnte, zunächst die Banditen ferngehalten, und dann Marius hingeführt. Dieser war, nachdem er mehrere Tage seine Auserwählte aus der Ferne betrachtet, in Cossettens Garten eingedrungen, wie Romeo in den Garten Julias. Es fiel ihm sogar leichter als Romeo, der über eine Mauer klettern mußte. Denn er brauchte blos eine wacklige Stange, die in ihrer Höhlung ebenso lose saß, wie die Zähne alter Leute, herausheben und sich dann hindurchzwängen, was ihm, schlank wie er war, keine Schwierigkeiten machte.
Da die Straße wenig begangen war und Marius auch nur des Nachts sich in den Garten schlich, setzte er sich nicht der Gefahr aus, gesehen zu werden.
Von jener seligen und heiligen Stunde an, wo sich die beiden mit einem Kuß verlobten, kam Marius jeden Abend. Wäre Cosette in diesem Stadium ihres Lebens einem gewissenlosen Wüstling in die Hände gefallen, so wäre sie verloren gewesen. Denn es giebt Frauen, die großmüthig genug denken, um sich dem Manne ihrer Wahl unbedenklich hinzugeben, und Cosette war ebenso geartet. Die Liebe, wenn sie ihren Gipfel erreicht hat, macht solche Frauen blind und bringt ihr Schamgefühl zum Schweigen. Aber welchen Gefahren setzt Ihr hochherzige Seelen Euch aus! Oft nehmen wir, wenn Ihr Euer Herz gebt, den Leib. Dann behaltet Ihr Euer Herz und stürzt Euch in grenzenloses Weh. Die Liebe kennt keine Mitte; Sie richtet zu Grunde oder rettet. Um dieses Dilemma dreht sich das ganze Schicksal des Menschen und Nichts drängt es uns so unerbittlich auf, wie die Liebe zu thun pflegt.
Gott wollte, daß Cosettens Liebe eine heilbringende war.
So lange der Maimonat des Jahres 1832 dauerte, saßen jede Nacht in dem verwilderten Garten, von täglich süßeren Düften umweht, trunken von Himmelswonnen, zwei keusche und unschuldsvolle Menschenkinder, die sich gegenseitig als höhere Wesen betrachteten. Sie sahen sich an, nahmen einander bei der Hand, drängten sich aneinander; hielten aber doch eine Entfernung inne, die sie nie überschritten. Nicht geflissentlich, sondern weil sie die Kluft nicht kannten. Für Marius war Cosettens lautre Gesinnung ein Hinderniß und Cosette fühlte, daß Marius Ehrenhaftigkeit ein Schirm und Schutz für sie war. Der erste Kuß war auch der letzte gewesen. Marius hatte sich seitdem keiner größern Kühnheit unterfangen, als daß er Cosettens Hand, ihr Umschlagetuch, ihre Locken, mit seinem Mund streifte. Sie war ihm ein Duft, den er einsog, kein Weib. Sie verweigerte nichts und er verlangte nichts.
In diesem Stadium der Liebe, jenem Stadium, wo die Sinnlichkeit vor der Allmacht der Schwärmerei zurückweicht, wäre Marius eher im Stande gewesen, mit einer öffentlichen Dirne mitzugehn, als Cosettens Kleid bis zu den Knöcheln emporzuheben. Einmal, in einer mondhellen Nacht, bog sich Cosette nieder, um etwas von der Erde aufzuheben. Dabei öffnete sich ihr Mieder etwas, so daß man ihren Busen sehen konnte; Marius aber wandte die Augen ab.
Sie begnügten sich einander anzubeten und zu plaudern.
Was redeten sie mit einander? Trauliche Reden, deren bestrickende Gewalt, deren süßen Zauber keine Beschreibung wiederzugeben vermag. Nehmt dem Geflüster zweier Liebenden die Melodie, die aus der Seele kommt und es wie eine Leier begleitet, so ist, was übrig bleibt, nur ein wesenloser Schatten, eine Blume ohne ihren Duft. »Weiter war es nichts?« sagt Ihr. Freilich, nur Kindereien, ewige Wiederholungen, fortwährendes Lachen um nichts und wieder nichts, überflüssiges, dummes Zeug und – doch das Schönste und Tiefsinnigste, was es auf der Welt giebt; das Einzige, was wert ist gesagt und gehört zu werden!
Der Mensch, der diese Art Dummheiten nie gehört, nie selber ausgesprochen hat, ist ein dummer und ein schlechter Mensch.
So sagte Cosette zu Marius:
»Denke Dir, ich heiße Euphrasia.«
»Euphrasia? Bewahre, Du heißt ja Cosette.«
»O, Cosette ist ein abscheulicher Name, den man mir so angehängt hat, als ich klein war. In Wirklichkeit heiße ich Euphrasia. Gefällt Dir der Name nicht?«
»Doch, aber Cosette ist keineswegs ein abscheulicher Name.«
»Ziehst Du ihn meinem wahren Namen vor?«
»Nun . . . ja!«
»Gut, dann gefällt er mir auch. Du hast Recht. Cosette klingt hübsch. Nenne mich immer Cosette.«
Und das Lächeln, womit sie das Gespräch beendete, war einer Idylle im Paradiese würdig.
Ein anderes Mal sah sie ihm in die Augen und rief:
»Herr Marius, Sie sind ein hübscher Mann, Sie sind klug und gelehrter als ich; aber wie ich zu Ihnen sage: Ich liebe Dich, das machen Sie mir nicht nach!«
Wenn sie das sagte, schwebte er in dem obersten Himmel und meinte, er höre Sphärenmusik.
Oder sie gab ihm einen Klapps, weil er hustete, und schalt ihn:
»Nicht husten! Das erlaube ich nicht. Das ist gar nicht lieb von Dir, daß Du hustest und mich ängstigst. Ich will, daß Du gesund bist, denn wenn Du krank wärest, würde ich mir großen Kummer machen.«
Und das fand er natürlich reizend.
Einmal sagte Marius zu Cosette:
»Denke Dir, ich habe eine Zeit lang geglaubt, Du hießest Ursula.«
Dies amüsirte sie einen ganzen Abend.
Im Laufe eines andern Gesprächs entschlüpfte ihm die Bemerkung:
»Eines Tages fehlte nicht viel, so hätte ich im Luxemburger Garten einem Invaliden das Bischen Leben, das er noch hatte, aus dem Leibe hinausgeprügelt.«
Aber flugs besann er sich eines andern und ließ sich auf weitere Erklärungen nicht ein. Hätte er doch das Strumpfband erwähnen müssen, und das konnte er nicht fertig bringen. Es wäre dann ein bisher unberührtes Thema gestreift worden, die Sinnlichkeit, vor der sein Zartsinn zurückschrak.
Es genügte ihm, wenn er jeden Abend nach der Rue Plumet kam, die nachgiebige Gitterstange bei Seite schob, sich dicht neben Cosette auf die Bank setzte, durch das Laub der Bäume zu den funkelnden Sternen emporsah, sein Beinkleid an Cosettens Robe hielt, ihre Hand streichelte, Du zu ihr sagte, mit ihr Blumen beroch. Andern Vorstellungen über den Umgang mit Cosette gab er nicht Raum. Währenddem zogen die Wolken über den Köpfen des Liebespaares dahin. Jedes Mal aber, wenn der Wind weht, nimmt er mehr Träume der Menschen, als Wolken des Himmels fort.
Nicht als ob die Galanterie bei dieser Liebe gar keine Rolle gespielt hätte. Der Geliebten »Complimente« machen ist die erste Freiheit, die man sich ihr gegenüber herausnimmt, ist ein Uebergang zu andern Kühnheiten. Ein Kompliment gleicht einem Kuß durch den Schleier. Die Sinnlichkeit macht sich geltend, aber in versteckter Weise. Vor der Sinnlichkeit flieht das Herz zurück, um inniger lieben zu können. Marius phantasievolle Schmeicheleien waren so zusagen aus himmlischen Regionen heruntergeholt. Indessen traten bei seinen lyrischen Ergüssen, die menschlichen Triebe und die derbe Wirklichkeit nicht ganz in den Hintergrund; es regten sich die positiven Elemente, die in Marius Charakter überhaupt lagen. Seine zarten, poetischen Schwärmereien waren eine Vorbereitung für die reelle Prosa des Alkowens.
»O wie schön Du bist! Ich wage meine Augen nicht zu Dir zu erheben, und deshalb bewundere ich Dich. Du bist eine Grazie. Und wie entzücken mich Deine sinnigen Reden. Denn Du hast erstaunlich viel Verstand. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht, wenn ich Dich ansehe. Ich bilde mir bisweilen ein, Du wärest ein Traumgebilde. Sprich doch, ich höre, ich bewundere Dich. O Cosette, wie merkwürdig und lieblich das ist! Ich bin wirklich von Sinnen.«
Und Cosette antwortete:
»Ich liebe Dich seit heute Morgen um einen Grad mehr.«
Fragen und Antworten gingen und kamen in diesem Gespräch, aufs Gerathewohl, trafen aber immer das Richtige, nämlich die Liebe.
Cosettens Wesen bestand ganz in Naivität, Aufrichtigkeit, Lauterkeit, Frohsinn. Man hätte sagen können, sie sei durchsichtig. Ihr Anblick erinnerte an den Lenz und an die Morgenröthe. Sie erschien wie das zu einem weiblichen Wesen verdichtete Frühlingslicht.
Es war natürlich, daß Marius, da er sie leidenschaftlich liebte, sie auch bewunderte. Aber das erst kürzlich aus dem Kloster entlassene, junge Mädchen besaß wirklich einen durchdringenden Verstand, Urtheil und Feingefühl. In ihrem Geplauder lag Sinn, Geist, Inhalt. Frauen fühlen und sprechen mit dem zarten, sichern Instinkt des Herzens. Niemand versteht so gut wie sie, Dinge zu sagen, die zugleich liebenswürdig und tiefsinnig sind. Diese Vereinigung von Sanftmuth und tiefem Gehalt ist das Wesen des Weibes und der Bewohner des Himmels.
Mitten im Freudenrausch vergossen sie oft Thränen. Wurde ein Marienwürmchen zertreten, fiel ein Feder aus einem Nest, zerbrach ein Rosenzweig, so regte sich ihr Mitleid und etwas sanfte Wehmuth schien nöthig zu sein, um ihr Glück vollständig zu machen. Diese bisweilen unausstehliche Rührseligkeit ist das sicherste Kennzeichen der Liebe.
Daneben freilich – denn an Widersprüchen und jähen Uebergängen hat die Liebe ihre Freude – scherzten sie auch gern mit entzückender Vertraulichkeit und Ungenirtheit, als wären sie zwei junge Männer gewesen. Indessen, so rein die Gesinnung eines Liebespaares auch sein mag, die Natur vergißt ihre Rechte nicht. Sie läßt ihr thierisches und erhabenes Ziel nicht aus dem Auge, und mag die Unschuld der Denkweise auch noch so groß sein, man merkt immer eine liebliche Nuance, die ein Paar Freunde von einem Liebespaar unterscheidet.
Sie vergötterten sich.
Aber es giebt ein Allgemeines, Unveränderliches. Ein junger Mann und ein junges Mädchen liebkosen sich, lächeln und schmollen mit einander, aber das ewige Gesetz besteht darum doch.
Sie lebten, vom Glück betäubt, wie im Traum dahin. Sie beachteten die Cholera nicht, die gerade in jenem Monat in Paris umging. Kaum, daß sie sich über ihre eigenen Verhältnisse und Erlebnisse etwas mittheilten, jedenfalls nicht viel mehr, als ihre Namen. Marius hatte Cosette gesagt, er habe keine Eltern mehr, heiße Marius Pontmercy, sei Advokat, arbeite für Verleger, um seinen Unterhalt zu verdienen, sein Vater sei Oberst und ein großer Held gewesen, und er hätte sich mit seinem reichen Großvater überworfen. Ganz nebenbei erwähnte er auch, daß er Baron sei; aber das hatte auf Cosette keinen Eindruck gemacht. Marius Baron? Dafür besaß sie kein Verständniß. Für sie war Marius Marius. Ihrerseits hatte sie ihn wissen lassen, daß sie im Kloster Petit-Picpus erzogen worden, daß ihr die Mutter gestorben sei, wie ihm, daß ihr Vater Fauchelevent heiße und wie gut er sei; er gebe den Armen viel, sei aber nicht vermögend und lege sich allerhand Entbehrungen auf, damit es ihr an nichts mangle.
So vollständig lebte Marius in der süßen Gegenwart, daß er merkwürdiger Weise die Vergangenheit, sogar die allernächste, vergaß. Sie nahm eine verworrene Gestalt an und ward ihm so weit entrückt, daß das, was Cosette erzählte, ihm genügte. Es fiel ihm nicht einmal ein, ihr zu berichten, was alles an dem Abend geschehen war, wo ihr Vater von Thénardier in seine Wohnung gelockt wurde, wie er sich selber die Brandwunde beigebracht hatte, daß er merkwürdiger Weise durch das Fenster vor der Polizei geflohen war. Alles dies hatte Marius vergessen; er wußte am Abend nicht, was er am Morgen gethan, wo er gefrühstückt, wer mit ihm geredet hatte; in seinen Ohren klangen Lieder, die ihn gegen alles Andre taub machten; er lebte nur während der Stunden, wo er bei Cosette war. Da er sich also fortwährend im Himmel befand, so verstand es sich von selbst, daß er die Erde vergaß. War doch der Geist der Beiden matt von der Last der ätherischen Lüste. So leben ja jene Somnambulen, die man Liebende nennt.
Ach, wer hat nicht alles dies einst selber empfunden und erlebt? Warum kommt eine Stunde, wo man aus diesem Himmel hinaus muß, und warum lebt man danach noch?
Die Liebe ersetzt fast das Denken. Die Liebe ist eine leidenschaftliche Nichtbeachtung alles Uebrigen, was nicht sie selbst ist. Verlangt keine Logik von ihr. Im menschlichen Herzen existirt ebenso wenig eine konsequente, logische Verkettung, wie vollkommne geometrische Figuren im Himmelsgebäude. Für Cosette und Marius gab es nichts außer Marius und Cosette. Die Welt um sie herum war in ein Loch versunken. Die Zeit, die sie mit einander verlebten, war die einzige. Vor und hinter ihnen lag nur das Nichts. Kaum fiel es Marius ein, daß Cosette einen Vater hatte. Das Glück verwischte alles andre aus seinem Vorstellungskreis und seinem Gedächtniß. Wovon sprachen die Beiden mit einander? Nun, von den Blumen, den Schwalben, dem Sonnenuntergang, dem Monde, von allen möglichen, wichtigen Dingen. Sie hatten sich alles mitgetheilt, ausgenommen alles. Denn was ein Liebespaar alles nennt, ist nichts. Wozu an den Vater, die Wirklichkeit, die Jondrette'sche Räuberbande denken? Sie waren ihrer zwei und liebten sich; weiter war nichts nöthig. Wahrscheinlich verschwindet so hinter uns die Hölle immer und naturgemäß, sobald wir das Paradies betreten. Daß man Teufel gesehen hat, daß es solche Unholde giebt, daß man gezittert, Martern durchgemacht hat, weiß man nicht mehr. Das alles können wir durch das rosige Gewölk, das uns jetzt umgiebt, nicht mehr sehen.
So lebten die Beiden also in seligen Höhen, weder am Nadir, noch am Zenith, zwischen den Menschen und dem Seraphim, über dem Erdenkoth und unter dem Aether, in den Wolken; kaum noch Fleisch und Blut, von Kopf bis zu Fuß nur Seele und Extase; zu sehr vergöttlicht, um auf der Erde zu wandeln, mit Menschlichem zu sehr belastet, um sich in den blauen Himmel emporzuschwingen; schwebend wie Atome, ehe sie niedergeschlagen werden; unbekümmert um das Geleise des Alltäglichen.
Wo sie das hinführen würde, fragten sie nicht. Sie dachten, sie wären ans Ziel gelangt. Sonderbares Verlangen, daß die Liebe irgendwohin führen soll!
Jean Valjean ahnte nichts von dem, was vorging.
Cosette, die nicht ganz so träumerisch angelegt war, wie Marius, zeigte ihm gegenüber viel Heiterkeit und das genügte zu seinem Glück. Die Gedanken, die sie mit sich herumtrug, Marius Bild, das ihre Seele erfüllte, thaten der unvergleichlichen Reinheit ihrer schönen, keuschen Stirn keinen Eintrag. Stand sie doch in dem Alter, wo die Jungfrau ihre Liebe, wie ein Engel seine Lilie trägt. Jean Valjean machte sich also keine Sorgen. Und außerdem, wenn zwei Liebende eins sind, so geht alles immer ganz glatt; derjenige Dritte, der sie stören, ihr Glück trüben könnte, wird mit einigen wenigen Vorsichtsmaßregeln, die bei allen Liebespaaren immer dieselben sind, in vollständigster Blindheit erhalten. So erhob Cosette nie Einwendungen gegen das, was Jean Valjean anordnete. Wollte er mit ihr ausgehen? Gewiß, Papachen. Wollte er zu Hause bleiben? Sehr schön! Wollte er den Abend bei ihr zubringen? Ihr machte es große Freude. An solchen Abenden kam Marius erst nach zehn Uhr in den Garten, wenn Jean Valjean sich wie gewöhnlich in seine Wohnung verfügte, sobald er von der Straße aus Cosette die Thür, die auf die Freitreppe führte, öffnen hörte. Selbstredend ließ sich Marius nie am Tage blicken. So kam es, daß Jean Valjean an die Existenz eines Marius überhaupt nicht mehr dachte. Nur einmal, eines Morgens, geschah es, daß er zu Cosette sagte: »Dein Kleid ist ja ganz weiß auf dem Rücken!« Am Abend zuvor hatte Marius, von der Leidenschaft hingerissen, sie kräftig gegen die Wand gedrückt.
Die alte Toussaint, die früh zu Bett ging, sofort nachdem sie ihre Arbeit gethan hatte, schlief fest und merkte ebenso wenig etwas wie Jean Valjean.
In das Haus setzte Marius nie seinen Fuß. Er versteckte sich mit Cosette in einer Vertiefung an der Freitreppe, so daß sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Hier ließen sie sich nieder und begnügten sich oft damit, statt zu plaudern, sich zwanzig Mal in der Minute die Hände zu drücken und in das Gezweig der Bäume hineinzusehen.
Wäre in solch einem Augenblick, ein Blitz dreißig Schritt vor ihnen eingeschlagen, sie hätten nichts gemerkt; so eifrig war der Eine in Gedanken mit dem Andern beschäftigt.
Zwischen ihnen und der Straße lag der Garten in seiner ganzen Länge Jedes Mal, wenn Marius hereinkam und hinausging, brachte er die herausgehobne Gitterstange wieder in Ordnung, so daß jede sichtbare Spur von Veränderung beseitigt war.
Er ging gewöhnlich um Mitternacht zu Courfeyrac nach Hause. Das erzählte dieser seinem Freund Bahorel:
»Sollte man's glauben? Marius kommt jetzt jede Nacht spät nach Hause.«
»Je nun,« meinte Bahorel, »die Mönche haben's Alle dick hinter den Ohren.«
Hin und wieder kreuzte auch Bahorel die Arme übereinander, sah Marius mit strenger Miene an und schalt Marius:
»Junger Mann, Sie werden lüderlich!«
Denn der praktische Courfeyrac, der für ätherische Liebe keinen Sinn hatte, konnte mit den Nachwirkungen, die Marius täglicher Ausflug ins Paradies auf seine Lebensführung ausübte, nicht einverstanden sein und forderte ihn wiederholentlich auf, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.
Eines Morgens, wo er ihn wieder ermahnte, sagte er:
»Mein Lieber, Du kommst mir vor, als weiltest Du gegenwärtig im Monde, im Königreich der Träume, in der Provinz der Illusionen, mit der Hauptstadt Seifenblase. Sag mal, wie heißt sie denn?«
Aber nichts konnte Marius bewegen, daß er über seine Liebe sprach.
Eher hätte er sich einen Nagel von seinem Finger abreißen lassen, als daß er auch nur eine der drei Silben ausgesprochen hätte, aus denen »ihr« Name bestand. Wahre Liebe ist lichtvoll, wie die Morgenröthe und schweigsam, wie das Grab. Was aber Courfeyrac an seinem Freunde auffiel, war das stille Glücksgefühl, das sich beständig auf seinem Gesicht wiederspiegelte.
Während dieses lieblichen Maimonats kosteten Marius und Cosette vielerlei Arten von Glück aufs gründlichste aus:
Sie zankten sich und nannten einander »Sie«, damit das »Du« nachher desto besser schmeckte;
Sie unterhielten sich aufs ausführlichste über Leute, aus denen sie sich gar nichts machten; auch ein Beweis, daß es bei der reizenden Oper, die man die Liebe nennt, auf den Text nicht ankommt;
Marius hörte zu, wenn Cosette über die Mode und die Toilette, und Cosette, wenn er über Politik sprach;
Sie hörten, Knie an Knie gelehnt, den Wagen zu, die durch die Rue de Babylone rasselten;
Sie betrachteten denselben Planeten im Raum, denselben Glühwurm im Grase;
Sie schwiegen zusammen, was ein noch größeres Glück ist, als zusammen plaudern;
U. s. w., u. s. w.
Mittlerweile aber waren gewichtige Ereignisse im Anzuge.
Eines Abends ging Marius, gesenkten Hauptes, wie immer, den Boulevard des Invalides entlang, um sich zum gewohnten Stelldichein zu begeben und wollte eben in die Rue Plumet einbiegen, als er plötzlich angeredet wurde.
»Guten Abend, Herr Marius!«
Er hob den Kopf empor und erkannte Eponine.
Die Begegnung machte einen außerordentlichen Eindruck auf ihn. Seit dem Tage, wo ihn das Mädchen nach der Rue Plumet geführt, hatte er nicht einziges Mal an sie gedacht. Er besaß nur Gründe ihr dankbar zu sein, sie hatte ihm zu seinem Liebesglück verholfen und doch war es ihm peinlich, daß er ihr begegnete.
Es ist ein Irrthum, daß wahre und glückliche Liebe eine Vervollkommnung des Menschen bewirke; sie läßt ihn nur, wie wir auseinandergesetzt haben, vergessen. Er vergißt schlecht, aber er vergißt auch gut zu sein. Dankbarkeit, Pflicht, nichtige und lästige Erinnerungen treten in den Hintergrund. Zu jeder andern Zeit hätte sich Marius ganz anders gegen Eponine benommen. Von Cosette in Anspruch genommen, hatte er sich nicht einmal deutliche Rechenschaft gegeben, daß diese Eponine, Eponine Thénardier hieß, daß der Name Thénardier im Testament seines Vaters verzeichnet war und daß er wenige Monate zuvor diesem Namen zu Liebe die größten Opfer gebracht hätte. Wir zeigen eben Marius, wie er war. Sogar der Gedanke an seinen Vater war hinter seine glückliche Liebe zurückgetreten.
»Ach, Sie sind's, Eponine!« antwortete er mit einiger Verlegenheit.
»Warum siezen Sie mich? Habe ich Ihnen denn was gethan?«
»Nein,« antwortete er.
Allerdings hatte er nichts gegen sie. Im Gegentheil. Nur war ihm, als könnte er, nun er zu Cosette »Du« sagte, nicht anders, als müßte er zu Eponine »Sie« sagen.
Da er schwieg, fuhr sie fort:
»Sagen Sie mal . . .«
Hier hielt sie inne. Ihr, die einst so unbekümmert und dreist gewesen war, fehlten jetzt die Worte. Sie versuchte zu lächeln und konnte nicht. Dann versuchte sie nach einmal das Gespräch fortzusetzen und sagte:
»Nun!« schwieg aber wieder und blieb mit gesenkten Augen vor ihm stehen.
»Gute Nacht, Herr Marius!« rief sie endlich, wandte sich hastig um und ging.
Der nächste Tag war der 3. Juni, der 3. Juni 1832, denn wir müssen wegen der gewichtigen Ereignisse, die sich damals vorbereiteten und so schwere Gefahren über Paris bringen sollten, die Daten jetzt genauer angeben. Am Abend dieses Tages ging also Marius denselben Weg wie immer. Dasselbe Entzücken im Herzen, als er auf dem Boulevard Eponine bemerkte, die auf ihn zukam. Zwei Tage hintereinander? Das war ihm zuviel. Er wandte sich rasch seitwärts, und ging auf einem andern Wege nach der Rue Plumet.
Das hatte zur Folge, daß Eponine ihm nachging, was sie bis dahin noch nicht gethan. Sie war zufrieden gewesen, wenn sie ihm auf dem Boulevard begegnete und hatte ihm nicht einmal aufgelauert. Am Abend zuvor war es das erste Mal gewesen, daß sie ihn anredete.
Sie ging also hinter ihm her, ohne daß er es ahnte. Sie sah, wie er die Gitterstange bei Seite schob und sich in den Garten schlich.
»I was! Er geht hinein!«
Sie ging auf das Gitter zu, untersuchte die Gitterstangen eine nach der andern, und fand bald diejenige, die Marius herauszunehmen pflegte.
»Das will ich lieber bleiben lassen!« murmelte sie schwermüthig.
Sie setzte sich auf den Sockel des Gitters, neben die lockre Stange, als wollte sie dieselbe bewachen. Es war grade die Stelle, wo das Gitter an der Mauer des Nachbarhauses endete, ein Winkel, in dem Eponine nicht leicht gesehen werden konnte.
Ueber eine Stunde saß sie da, regungslos und in trübe Gedanken versunken.
Gegen zehn Uhr Abends kam ein alter Mann, der sich verspätet hatte und sich beeilte, um über diesen einsamen und übel berüchtigten Ort schnell hinauszugelangen, an der Stelle vorüber und hörte eine dumpfe und drohende Stimme.
»Nun wundert's mich nicht mehr, daß er alle Abend den Boulevard entlang kommt.«
Der alte Herr ließ seine Augen umher schweifen, sah Niemand, wagte nicht, die dunkle Ecke zu untersuchen und fürchtete sich. Er eilte also schnell von dannen und das war sehr gescheidt. Denn wenige Augenblicke nachher kamen sechs Männer, in einiger Entfernung von einander, an der Mauer entlang, in die Rue Plumet herein.
Der Erste, der an dem Garten anlangte, blieb stehen und wartete, bis Alle sich vereinigt hatten.
Dann begannen sie leise mit einander zu sprechen.
»Hier ist's!« flüsterte der Eine.
»Ist ein Köter im Garten?« fragte ein Andrer.
»Ich weiß nicht. Für jeden Fall habe ich ein Klößchen mitgebracht, womit wir ihn zum Schweigen bringen können.«
»Hast Du Kitt, damit wir eine Scheibe aufbrechen können?«
»Ja.«
»Das Gitter ist alt,« bemerkte der Fünfte mit einer Bauchstimme.
»Desto besser!« meinte der Zweite. »Dann wird es weniger Lärm machen, wenn man es durchsägt.«
Der Sechste, der den Mund noch nicht aufgethan hatte, untersuchte das Gitter, wie Eponine vor ihm, und gelangte endlich an die Stange, die Marius los gemacht hatte. In dem Augenblick, wo er sie packen wollte, kam plötzlich eine Hand aus dem Schatten heraus, legte sich auf seinen Arm, stieß ihn gegen die Brust und eine heisre Stimme rief:
»Achtung! Hunde!«
Er sah ein blasses Mädchen vor sich.
Der Mann fuhr heftig zusammen. Sein Schreck glich dem eines wilden Thieres, so furchtbar und widerwärtig sah er aus. Er trat zurück und stammelte:
»Wer mag denn die sein?«
Als Eponine hervorgetreten war, kamen die fünf Andern, nämlich Claquesous, Gueulemer, Babet, Montparnasse und Brujon zu Thénardier heran, ohne Geräusch, ohne einen Laut von sich zu geben, mit der unheimlichen Langsamkeit, die den Söhnen der Nacht eigen ist.
»Was soll das heißen? Was hast Du hier zu thun? Was willst Du von uns? Bist Du verrückt?« schrie Thénardier, so laut man schreien kann, wenn man leise spricht. »Warum kommst Du her und hinderst uns beim Arbeiten?«
Eponine lachte und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Ich bin da, Väterchen, weil ich da bin. Ist es nicht mehr erlaubt, sich auf einen Stein zu setzen? Ihr solltet nicht hier sein. Was habt Ihr hier zu suchen, da ich Euch doch gesagt hatte, daß hier kein Geschäft zu machen ist? So gieb mir doch einen Kuß, Väterchen. Es ist ja so lange her, daß ich Dich nicht gesehen habe! Also Du bist wieder frei?«
Thénardier suchte sich aus ihrer Umarmung loszureißen und brummte:
»Nun ist's aber gut. Du hast mich umarmt. Ja, ich bin nicht mehr im Gefängniß. Jetzt mach aber, daß Du fortkommst.«
Aber Eponine ließ ihn nicht los und wurde immer zudringlicher mit ihren Liebkosungen.
»Aber Tausend, wie hast Du das denn angefangen, Väterchen? Mußt Du schlau sein, daß Du da rausgekommen bist! Erzähle mir doch das. Wo ist denn Mutter? Was macht sie?«
»Es geht ihr gut. Ich weiß nicht. Laß mich zufrieden. Mach, daß Du fortkommst, sage ich Dir.«
»Ich will aber jetzt nicht fortgehen,« sagte Eponine mit dem Eigensinn eines verzogenen Kindes, das sich ziert.
»Du schickst mich fort und ich habe Dich doch seit vier langen Monaten nicht gesehen und geküßt.«
Und sie umklammerte wieder ihren Vater.
»Nun wird mir aber die Geschichte zu bunt!« rief Babet.
»Macht der Sache ein Ende,« sagte Gueulemer. »Die Greifer können jeden Augenblick hier vorbeikommen.«
»Ach, Sie sind's, Herr Brujon!« rief Eponine. »Guten Abend Herr Babet. – Guten Abend, Herr Claquesous. – Erkennen Sie mich denn nicht, Herr Gueulemer? – Wie geht's, Montparnasse?«
»Ja, ja! Sie erkennen Dich. Aber nun Adieu. Drücke Dich!«
»Jetzt ist die Zeit, wo die Füchse, nicht die Hühner draußen sind,« sagte Montparnasse.
»Du siehst doch, daß wir hier zu arbeiten haben.« fiel Babet ein.
Eponine ergriff Montparnasse's Hand.
»Nimm Dich in Acht. Du wirst Dich schneiden. Ich habe ein offenes Messer in der Hand.«
»Lieber Montparnasse, man muß Vertrauen zu den Leuten haben, denen man einen Auftrag giebt. Ich bin ja wohl die Tochter meines Vaters. Herr Babet, Herr Gueulemer, Sie haben mich hierhergeschickt, um auszukundschaften, ob hier ein Geschäft zu machen wäre.«
Sie sagte nicht »ausbaldowern«, bediente sich nicht mehr der Gaunersprache. Das abscheulige Idiom war ihr zuwider geworden, seitdem sie Marius kannte.
Sie drückte mit ihren schwachen, dürren Fingern Gueulemers Faust und fuhr fort:
»Ihr wißt doch, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Auch habt Ihr mir bisher immer Glauben geschenkt. Ich habe Euch so manchen Dienst erwiesen. Nun also, ich habe alles genau ausgekundschaftet und kann Euch sagen, daß Ihr Euch unnützer Weise Gefahren aussetzt. Ich schwöre Euch, daß in dem Hause nichts zu holen ist.«
»Es sind nur Frauenzimmer drin,« behauptete Gueulemer.
»Nein, die Leute sind ausgezogen!«
»Die Lichter aber nicht!« meinte Babet und zeigte Eponine ein Licht, oben auf dem Boden des Pavillons. Die Toussaint war später als gewöhnlich aufgeblieben, um Wäsche aufzuhängen.
Eponine machte noch einen Versuch.
»Nun ja; es sind arme Leute. Das hat keinen Heller Geld.«
»Geh zum Teufel!« rief Thénardier. »Wenn wir die Bude um und um gekehrt haben, werden wir Dir sagen, ob Heller oder Goldfüchse drin sind.«
Und er gab ihr einen Stoß, um sie los zu werden.
»Lieber Herr Montparnasse, Sie sind ein guter Mensch. Ich bitte Sie, unternehmen Sie nichts gegen dieses Haus.«
»Nimm Dich in Acht,« wiederholte Montparnasse, »Du wirst Dich schneiden.«
Jetzt rief Thénardier mit seiner gewohnten Entschiedenheit:
»Socke ab und laß uns unseren Geschäften nachgehn.«
Eponine ließ Montparnasses Hand, die sie zum zweiten Mal ergriffen hatte, los und sagte:
»Ihr wollt also durchaus hier hinein!«
»Ein Bischen!« höhnte der Bauchredner.
Da lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Gitter, sah die furchtbaren, bis an die Zähne bewaffneten sechs Banditen an, die in dem Dunkel der Nacht wie leibhaftige Teufel aussahen, und sagte mit fester und leiser Stimme:
»Ich will aber, daß Ihr das Haus in Ruhe laßt.«
Sie waren starr vor Staunen. Nur der Bauchredner grinste noch. Sie fuhr fort:
»Hört Freunde, und merkt Euch, was ich Euch sage. Brecht Ihr in den Garten ein, rührt Ihr das Gitter an, so schreie ich, klopfe an alle Thüren, wecke die Leute, lasse Euch alle Sechs arretiren.«
»Sie ist dazu im Stande,« flüsterte Thénardier Brujon und dem Bauchredner zu.
Sie schüttelte energisch den Kopf und fügte hinzu:
»Meinen Vater zu allererst.«
Thénardier ging auf sie zu.
»Nicht so nahe heran, guter Freund!«
Er wich zurück und brummte zwischen den Zähnen:
»Was zum Teufel ist ihr denn in die Krone gefahren? – Nichtswürdige Töle!«
»Meinetwegen Töle, Ihr kommt aber nicht hier hinein. Ich bin indeß keine Hundetöle, ich bin die Tochter eines Wolfes. Ihr seid Eurer sechs, aber das ist mir egal. Ihr seid Männer. Nun, ich will Euch zeigen, was ein Frauenzimmer kann. Ich fürchte mich vor Euch nicht, das merkt Euch. Ihr sollt hier nicht herein, weil es mir nicht paßt. Kommt Ihr näher, so belle ich. Denn ich bin nämlich der Hund, der das Haus hier bewacht. Jetzt geht Eurer Wege und macht mir nicht den Kopf heiß. Geht, wohin Ihr wollt; aber nicht hierher. Ich will's nicht haben. So, wenn Ihr nun wollt, kommt ran. Mir soll's recht sein.«
Sie schritt mit wilder, schrecklicher Energie auf die Banditen zu und lachte grimmig auf:
»Ja ja! Ich frag' grad' danach! Diesen Sommer werde ich so wie so nichts zu essen haben und im Winter frieren. Was die Schafsköpfe von Männer komisch sind, wenn sie sich einbilden, sie könnten einer Dirne Angst einjagen! Weshalb sollte sich denn Unsereins fürchten? Fehlte auch noch! Etwa weil die dummen Gänse, Eure Liebsten, unters Bett kriechen, wenn Ihr das Maul aufreißt? Ich fürchte mich vor Niemand.«
Hier sah sie Thénardier scharf an und sagte:
»Auch vor Dir nicht, Vater.«
Darauf musterte sie mit ihren blutrünstigen, düstern Augen die übrigen Banditen und fuhr fort:
»Was mache ich mir draus, wenn ich morgen, mit einem Messerstich von meinem Vater, in der Rue Plumet gefunden werde oder später mal in der Seine unter ersäuften Hunden und verfaulten Pfropfen!«
Sie mußte inne halten, ein trockner Husten peinigte sie und ihr Athem entrang sich röchelnd ihrer schmalen und schwachen Brust.
Dann hub sie wieder an:
»Ich brauche blos zu schreien, dann kommen Leute. Ihr seid Eurer sechs, aber ich habe noch weit mehr hinter mir.«
Thénardier ging jetzt wieder auf sie zu.
»Bleib mir vom Leibe!« rief sie.
Er blieb stehen und redete ihr in gütlichem Tone zu:
»Na ja! Ich will nicht näher kommen, aber sprich nicht so laut. Liebe Tochter, willst Du uns denn hindern, daß wir unsrer Arbeit nachgehn? Hast Du denn gar keine Liebe mehr zu Deinem Vater.«
»Rede doch nicht solch dummes Zeug.«
»Wir müssen aber doch leben, müssen uns doch ein Stück Brod verschaffen.«
»Meinetwegen könnt Ihr krepiren.«
Hierauf setzte sie sich auf den Sockel des Gitters und trällerte ein Liedchen, das eine Bein über das andere geschlagen, einen Ellbogen auf dem Knie und das Kinn auf die Hand gestützt, während sie ihren Fuß mit gleichgültiger Miene schlenkerte. Ihr durchlöchertes Kleid ließ ihre magern Schulterknochen sehen. Die nahe Straßenlaterne beleuchtete ihr Gesicht. Man konnte sich nichts Entschlosseneres denken, als dies Profil.
Die verdutzten Strolche traten seitwärts in den Schatten und beratschlagten achselzuckend und mit wüthenden Gebärden, während Eponine sie ruhig beobachtete.
»Sie hat etwas,« sagte Babet. »Einen Grund. Ob sie in den Kaffer da drin verliebt ist? Es wäre doch schade, wenn man ein so gutes Geschäft verfehlte. Zwei Frauenzimmer, ein Alter, der im Hinterhof wohnt. Eine Masse Gardinen an den Fenstern. Der Kerl muß ein Jude sein.«
»Ich glaube, es ist hier was zu machen.«
»Nun, dann vorwärts, Ihr Andern,« rief Montparnasse. »Ich bleibe hier und wenn die Dirne sich nicht ruhig verhält, so . . .«
Eine drohende Schwenkung des blanken Messers, das er im Aermel trug, vervollständigte seine Rede.
Thénardier sagte kein Wort und schien einverstanden mit allem, was die Andern beschließen würden.
Brujon, der sich eines orakelhaften Ansehens bei seinen Kumpanen erfreute und der das Geschäft in Vorschlag gebracht hatte, war die ganze Zeit über stumm geblieben. Er sah nachdenklich aus. Von jeher stand er im Rufe einer großartigen Unerschrockenheit und es war bekannt, daß er einmal, bloß aus Prahlsucht, eine Polizeiwache ausgeraubt hatte. Außerdem dichtete er, was seine Autorität bei Seinesgleichen noch erhöhte.
Babet fragte ihn endlich:
»Und Du, Brujon, Du sagst nichts?«
Brujon schwieg noch eine Weile, wiegte und schüttelte den Kopf auf mehrerlei Weise und entschloß sich endlich zu reden.
»Gut, so will ich Euch sagen, wie ich über die Sache denke. Heute Morgen habe ich auf meinem Wege zwei Sperlinge gesehen, die sich bissen, und heute Abend habe ich mit einem Frauenzimmer zu thun, die auch keift. Das sind alles Dinge, die mir nicht gefallen wollen. Ich schlage vor, wir drücken uns.«
Sie gingen also davon. Nur Montparnasse murrte noch und sagte:
»Schade! Wenn Ihr gewollt hättet, würde ich sie kalt gemacht haben.«
»Ist nicht mein Fall,« meinte Babet. »An den Damen vergreife ich mich nicht.«
Bei der Ecke der Straße angelangt, blieben sie stehen und tauschten folgende, räthselhafte Worte aus:
»Wo schlafen wir heute Nacht?«
»Unter Varis.«
»Hast Du den Schlüssel zum Gitter bei Dir, Thénardier?«
»Na gewiß.«
Eponine, die kein Auge von ihnen verwandte, sah, wie sie auf dem Wege, den sie gekommen waren, davongingen. Sie stand auf und schlich an den Gartenmauern und Häusern entlang ihnen nach, bis sie auf den Boulevard gelangte. Da gingen die sechs Männer auseinander und entschwanden allmählich ihren Augen in dem Dunkel der Nacht.
Nachdem die Banditen fortgegangen waren, nahm die Rue Plumet ihr stilles, nächtliches Aussehen wieder an.
Was sich in dieser Straße eben zugetragen hatte, würde einen Wald nicht in Erstaunen versetzt haben. Die Dickichte, die Gestrüppe, die Haidekräuter, die verworrenen Gezweige besitzen ein schwaches, dunkles Bewußtsein; das wilde Gewirr nimmt die plötzlichen Erscheinungen des Unsichtbaren wahr; was unter dem Menschen ist, unterscheidet im Dämmer was jenseits des Menschen liegt, und die Dinge, von denen wir Lebenden nichts wissen, treten dort des Nachts einander gegenüber. Die Pflanzen- und Thierwelt erschrickt, wenn sie etwas vor sich sieht, worin sie Übernatürliches zu erkennen glaubt. Die blutdürstige Bestialität, die hungrigen, nach Beute spähenden Begierden, die mit Klauen und Zähnen ausgerüsteten Instinkte, deren Quelle und Ziel der Magen ist, ängstigt der Anblick eines stillen Gespenstes, das ihnen in seinem weiten, wallenden Gewande entgegentritt und das ihnen ein totes und schreckliches Leben zu leben scheint. Diese rohen Gebilde des bloßen Stoffes fürchten sich in Berührung zu treten mit den ungeheuren, in einem unbekannten Wesen zusammengefaßten Kräften. Das Grimmige flieht vor dem Unheimlichen; Wölfe weichen zurück vor einem gespenstischen Weibe.
Während die Hündin in Menschengestalt vor dem Gitter Wache hielt und die sechs Strolche vor einem Mädchen zurückwichen, war Marius bei Cosette.
Nie war der Sternenhimmel schöner, die Bäume bewegter, die Blumendüfte stärker gewesen; nie hatten sich die Vögel melodischer in Schlaf gesungen, nie die Harmonieen der stillen Nacht lieblicher zusammengeklungen mit der Musik der Liebe; nie war Marius zärtlicher, glücklicher, entzückter gewesen. Aber Cosette war schwer bekümmert. Sie hatte roth geweinte Augen.
Es war die erste Wolke, die ihr Glück verdüsterte.
»Was fehlt Dir?« fragte Marius, als sie ihm entgegenkam.
Sie setzte sich auf die Bank neben der Freitreppe, und während er zitternd neben ihr Platz nahm, erzählte sie:
»Mein Vater hat mir heute Morgen gesagt, ich soll mich reisefertig machen. Er hätte Geschäfte zu besorgen und wir müßten vielleicht Paris verlassen.«
Marius erbebte von Kopf bis zu Fuß.
Wenn man am Ende des Lebens steht, heißt sterben fortgehen, und tritt man ins Leben hinein, heißt fortgehen sterben.
Seit sechs Wochen nahm Marius Cosette allmählich, langsam, täglich mehr und mehr in Besitz. Auf ideale Weise, aber tiefinnerlich. Wie wir schon erklärt haben, bemächtigt man sich bei der ersten Liebe der Seele lange vor dem Körper; später nimmt man den Körper und erst lange nachher die Seele; bisweilen bekommt man die Seele überhaupt nicht, – weil keine da ist, behaupten die Cyniker und die Philister; aber dieser Spott ist zum Glück eine Lästerung. Marius also besaß Cosette, wie Geister besitzen; aber er umfaßte sie mit seiner ganzen Seele und hielt sie mit leidenschaftlicher Eifersucht als sein selbstverständliches Eigenthum fest. Er besaß ihr Lächeln, ihren Athem, ihren Duft, den tiefen Blick ihrer blauen Augen, ihre weiche Haut, wenn er ihre Hand berührte, das reizende Mal, das sie am Halse hatte, alle ihre Gedanken. Sie hatten versprochen, daß sie nie schlafen wollten, ohne von einander zu träumen, und sie hatten Wort gehalten. Er herrschte also auch über alle Träume Cosettes. Er betrachtete unaufhörlich die Härchen, die sie im Nacken hatte, und erklärte, daß jedes dieser Härchen ihm gehörte. Ihm waren die Dinge, die sie an ihrem Körper trug, Heiligthümer, über die er Eigentumsrechte hatte. Er war der Herr der hübschen Schildpattkämme, mit denen sie ihr Haar fest steckte; ja, er stellte sich auch vor – vermöge einer noch unbestimmten Regung seines sinnlichen Menschen –, daß keine Schnur an ihrem Kleide, keine Masche ihrer Strümpfe, keine Falte ihres Corsetts nicht sein Eigenthum sei. Sie war sein Gut, sein Ding, seine Herrin und seine Sklavin. Sie hatten ihre Seelen so innig in einander verwoben, daß Keines mehr erkennen konnte, was ihm und was dem Andern ursprünglich gehörte. Marius war ein Bestandtheil Cosettes und Cosette ein Stück von Marius. Ihr Besitz war eine seiner Lebensbedingungen. Während er nun also in dem sichern Glauben an seine Herrscherrechte lebte, sagt man ihm plötzlich: »Wir gehen fort,« rief unvermittelt die rauhe Wirklichkeit: »Cosette gehört Dir nicht!«
Da erwachte Marius. Er hatte die letzten sechs Wochen außerhalb des Lebens gelebt; jetzt brachte ihn das Wort »verreisen« zur Besinnung.
Er fand keine Worte. Cosette fühlte nur, daß seine Hand kalt wurde und besorgt fragte sie:
»Was fehlt Dir?«
Er antwortete so leise, daß Cosette es kaum hörte.
»Ich verstehe nicht, was Du sagst –! Heute Morgen also benachrichtigte mich mein Vater, ich sollte meine Sachen hervorholen und mich bereit halten; er würde mir seine Wäsche geben, damit ich sie einpacke. Er sehe sich genöthigt eine Reise zu machen. Wir müßten einen großen Koffer für mich und einen kleinen für ihn besorgen. In einer Woche sollte alles fertig sein. Vielleicht würden wir nach England gehen.«
»Das ist ja aber schändlich!« rief Marius.
Denn nach seinem Dafürhalten kam keine Rechtsverletzung, kein Willkürakt, keine Ruchlosigkeit der ärgsten Tyrannen, keine Gewaltthat eines Busiris, Tiberius oder Heinrich VIII. an Niedertracht Herrn Fauchelevents Beschlusse gleich, seine Tochter nach England mitzunehmen, weil er dort zu thun hatte.
Er fragte mit schwacher Stimme:
»Wann wirst Du abreisen?«
»Er hat's mir nicht gesagt.«
»Und wann kommst Du zurück?«
»Das hat er auch nicht gesagt.«
Marius stand auf und sagte kalt:
»Cosette, werden Sie mitreisen?«
Sie richtete ihre schönen, angsterfüllten Augen auf ihn und antwortete mit sinnloser Bestürzung:
»Wohin?«
»Nach England? Werden Sie mitreisen?«
»Warum sagst Du Sie zu mir?«
»Ich frage Sie, ob Sie mit Ihrem Vater reisen werden?«
»Was soll ich denn sonst machen?« sagte sie und rang die Hände.
»Also gehen Sie fort von hier?«
»Wenn mein Vater hinreist!«
»Also gehen Sie fort?«
Cosette ergriff Marius Hand und drückte sie ohne zu antworten.
»Gut,« sagte er; »so werde ich anderswo hingehen.«
Was diese Worte bedeuteten, fühlte sie mehr, als sie es verstand. Sie erbleichte dermaßen, daß ihr Gesicht selbst in der Dunkelheit ganz weiß erschien.
»Was meinst Du damit?« stammelte sie.
Marius sah sie an, schlug langsam die Augen zum Himmel empor und antwortete:
»Nichts.«
Als seine Augenwimpern niedersanken, sah er, wie Cosette ihn anlächelte. Das Lächeln eines geliebten Mädchens verbreitet einen Glanz, der auch die Nacht erhellt.
»Sind wir dumm! Marius, mir fällt was ein!«
»Was denn?«
»Reise auch nach England. Ich lasse Dir meine Adresse zukommen und Du suchst mich drüben auf.«
Um diese Zeit war Marius ganz wach geworden, in die Wirklichkeit zurückgekommen. Er rief:
»Mit Euch reisen? Wo denkst Du hin? Dazu gehört Geld, und ich habe keins. Nach England! Ich schulde jetzt Courfeyrac, einem Freunde von mir, den Du nicht kennst, an die zweihundert Franken, glaube ich. Ich trage einen alten Hut, der keine drei Franken wert ist; an meinem Rock fehlen vorn die Knöpfe, mein Hemde ist zerrissen, meine Stiefel ziehen Wasser; seit sechs Wochen achte ich auf alles das nicht und habe es Dir nicht gesagt. Cosette! Ich bin ein Lump. Du siehst mich nur des Nachts und schenkst mir Deine Liebe: Sähest Du mich bei Tage, Du würdest mich für einen Bettler halten und mir ein Almosen geben. Nach England reisen! Mein Geld reicht nicht einmal für die Paßgebühren aus!«
Er sank an einen Baum und stand, beide Hände über den Kopf geschlagen, die Stirn an die Rinde gelehnt, wie eine Statue der Verzweiflung da, ohne das harte Holz, das sich in seine Haut einpreßte, noch das Fieber, das ihm die Schläfen zerhämmerte, zu fühlen.
In diesem Zustande verharrte er lange. In einem solchen Abgrund von Jammer ist man im Stande eine Ewigkeit zu verweilen. Endlich, da er Cosette schluchzen hörte, wandte er sich um.
Sie hatte schon zwei Stunden lang so geweint, während er in trübe Gedanken versunken neben ihr stand.
Er kam zu ihr, fiel auf die Kniee, ergriff, während er sich langsam niederbeugte, die Spitze ihres Fußes, die über den Saum ihres Kleides hervorragte, und küßte ihn.
Sie ließ ihn schweigend gewähren. Es giebt Augenblicke, wo die Frauen die Huldigungen ihrer Anbeter wie trauervolle, in ihr Schicksal ergebene Göttinnen entgegennehmen.
»Weine nicht«, sagte er.
»Wenn ich aber fort muß und Du mir nicht nachkommen kannst!« murmelte sie.
»Liebst Du mich?« hob er wieder an.
»Ich bete Dich an!« gab sie zurück und nie hatte ihm diese holde Betheurung so süß geklungen, wie jetzt, wo ihre Thränen sie begleiteten.
»Weine nicht«, fuhr er mit einem Tone fort, der an sich eine unbeschreiblich zarte Liebkosung war. »Sag', willst Du das für mich thun, daß Du nicht weinst?«
»Liebst Du mich?« fragte sie.
Er ergriff ihre Hand.
»Cosette, ich habe nie irgend Jemand mein Ehrenwort gegeben, weil mir das eine zu furchtbare Verpflichtung auferlegt. Ich fühle, daß mein Vater neben mir ist. Nun höre also: Ich gebe Dir mein heiligstes Ehrenwort, daß, wenn Du fortgehst, ich sterben werde.«
In der Betonung, mit der er diese Worte aussprach, lag eine so feierliche und ruhevolle Melancholie, daß Cosette erbebte. Sie fühlte, daß er die Wahrheit sprach, und ein eisiger Schauer durchrieselte sie. Vor Schrecken hörte sie auf zu weinen.
»Jetzt höre mich«, fuhr er fort. »Warte morgen nicht auf mich.«
»Warum nicht?«
»Erst übermorgen.«
»Warum denn aber?«
»Du wirst sehen.«
»Einen ganzen Tag ohne Dich! Das ist ja unmöglich!«
»Wir müssen einen Tag opfern, um vielleicht das ganze übrige Leben zu gewinnen.«
Und er fuhr halblaut und für sich fort:
»Er weicht nie von seinen Gewohnheiten ab und hat immer nur des Abends Besuche angenommen.«
»Von wem sprichst Du?« fragte Cosette.
»Ich? Ich habe nichts gesagt.«
»Worauf hoffst Du denn?«
»Warte bis übermorgen.«
»Du bestehst darauf?«
»Ja, Cosette.«
Sie nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände, indem sie sich auf den Fußspitzen emporhob, um an ihn heranzureichen, und in seinen Augen zu lesen versuchte.
Marius fuhr dann wieder fort:
»Mir fällt ein, Du mußt meine Adresse wissen; es kann was passieren, wer weiß? Ich wohne bei dem bewußten Freunde Courfeyrac Rue de la Verrerie Nr. 16.«
Er suchte in seiner Tasche, zog ein Federmesser heraus und schrieb mit der Klinge seine Wohnungsadresse auf die Tünche des Hauses.
Mittlerweile aber suchte Cosette wieder ihm in die Augen zu schauen.
»Sage mir, was Du vorhast, Marius. Ja? Sag's mir, damit ich die Nacht gut schlafe.«
»Mein Gedanke ist der: Es ist unmöglich, daß Gott uns trennen will. Also erwarte mich übermorgen.«
»Was soll ich aber bis dahin anfangen? Du bist draußen. Du darfst Dich bewegen, Dich tummeln. Wie glücklich die Männer sind! Ich muß immer allein bleiben. Was werde ich mich grämen! Was willst Du denn morgen Abend thun?«
»Ich werde einen Versuch machen . . .«
»Dann will ich zu Gott beten und bis dahin an Dich denken, damit Dir Dein Unternehmen gelingt. Ich frage Dich nicht mehr, weil Du's nicht wünschest. Du bist mein Herr. Ich werde morgen Abend den Chor der Euryanthe singen, den Du so gern hast und den Du eines Abends im Garten belauschtest. Aber übermorgen komm recht früh. Ich erwarte Dich, wenn es dunkel wird, Punkt neun Uhr; merke Dir's. Ach mein Gott! wie schrecklich, daß die Tage jetzt so lang sind! Du hörst also, Schlag neun Uhr bin ich im Garten.«
»Ich auch!«
Und schweigend sanken sie, von demselben Gedanken getrieben, von dem elektrischen Strom angezogen, der Liebende in beständige Verbindung mit einander setzt, noch im Schmerze von Sinnenrausch erfaßt, einander in die Arme, ohne zu merken, daß ihre Lippen sich aufeinander drückten, während ihre thränenfeuchten Augen zum Himmel emporschauten.
Als Marius aus dem Garten trat, lag die Straße menschenleer da. Es war gerade der Zeitpunkt, wo Eponine den Räubern bis auf den Boulevard nachging.
Während er, den Kopf an den Baum gelehnt, schwermüthig grübelte, war ihm ein Gedanke gekommen, den, ach! er selber für verkehrt und hoffnungslos hielt. Es war eine Gewaltmaßregel.
Vater Gillenormand war damals seine einundneunzig Jahr alt. Er wohnte noch immer mit seiner Tochter in der Rue des Filles du Calvaire Nr. 6, in einem alten Hause, das ihm gehörte. Er war, wie der Leser sich erinnern wird, einer von den Greisen aus altem Schrot und Korn, die den Tod aufrecht erwarten, die das Alter belasten, aber nicht beugen und die auch der Kummer nicht niederdrücken kann.
Indessen behauptete seit einiger Zeit Fräulein Gillenormand, es ginge abwärts mit ihrem Vater, Er ohrfeigte die Magd nicht mehr, stieß seinen Stock nicht mehr so kräftig gegen den Fußboden, wenn Baske ihn warten ließ und ihm die Thür nicht gleich aufmachte. Die Julirevolution hatte ihn kaum ein halbes Jahr lang zu ärgern vermocht. Er war allerdings recht schwermüthig gestimmt und nicht mehr der Alte. Zwar ergab er sich nicht, denn das lag ebenso wenig in seiner physischen, wie in seiner moralischen Natur, aber er fühlte, daß die gewohnte innerliche Spannkraft nachließ. Seit vier Jahren wartete er auf Marius – man kann sagen – festen Fußes, in der Ueberzeugung, daß der infame Schlingel heute oder morgen an seine Thür klopfen werde; jetzt widerfuhr es ihm in trübseligen Stunden, daß ein andrer böser Gedanke ihm zusetzte: Wenn Marius noch eine kleine Weile auf sich warten ließ so . . . Nicht der Tod schien ihm furchtbar, wohl aber die Möglichkeit, daß er Marius nicht wiedersehen würde. Wie es zu geschehen pflegt, wenn man tief und wahr empfindet, hatte die Trennung seine großväterliche Liebe zu dem undankbaren Jungen, der ihn ohne Weiteres allein gelassen, nur gesteigert. Denkt man doch in Dezembernächten, bei zehn Grad Kälte, am meisten an die Sonne! Gillenormand war oder er hielt sich für unfähig, er der Großvater, seinem Enkel auch nur um einen Schritt entgegenzukommen, »Eher lasse ich mich totschlagen!« behauptete er. Er konnte nicht finden, daß er Unrecht gehabt, aber er dachte an Marius nur mit tiefer Zärtlichkeit und stummer Verzweiflung.
Seine Zähne fingen auch an auszufallen, und dies verstimmte ihn noch mehr.
Gillenormand hatte, ohne es sich einzugestehen, denn darüber hätte er sich geärgert und geschämt, nie eine Frau so geliebt, wie seinen Marius.
In seinem Schlafzimmer war dicht vor seinem Bett, damit es ihm gleich beim Erwachen in die Augen fiele, ein Porträt seiner andern, verstorbnen Tochter, der Frau Pontmercy, aus ihrem neunzehnten Lebensjahre, aufgehängt. Dieses Bild sah er sehr oft an und einmal bemerkte er sogar:
»Ich finde, daß er ihr sehr ähnlich ist.«
»Meiner Schwester?« fiel Fräulein Gillenormand ein. »Ja freilich.«
»Ihm auch,« fuhr der alte Herr fort.
Eines Tages, als er mit zusammengedrückten Knieen und geschlossenen Augen, in trübseliger Haltung da saß, erkühnte sich seine Tochter eine gefährliche Frage an ihn zu richten:
»Vater, sind Sie noch immer so böse auf . . .?«
Sie wagte nicht den Satz zu beenden und hielt inne.
»Auf wen?«
»Auf den armen Marius.«
Er hob seinen alten Kopf in die Höhe, legte seine magre und runzlige Faust auf den Tisch und schrie sie mit aller Energie an:
»Den ›armen‹ Marius nennst Du ihn? Dein Marius ist ein herz- und gemüthloser Lump, ein eitler, hochmüthiger, schlechter Mensch.«
Und er wandte sich ab, damit seine Tochter eine Thräne, die in seinem Auge stand, nicht sehen sollte.
Drei Tage nachher brach er ein vierstündiges Stillschweigen, mit den ganz unvermittelten Worten:
»Ich hatte Dich ersucht mir nie von ihm zu sprechen.«
Tante Gillenormand entsagte fortan jedem neuen Versuch und stellte eine Diagnose über die Seelenkrankheit ihres Vaters auf, die ihres gewohnten Scharfsinns würdig war: »Seitdem sie den dummen Streich begangen hat, will mein Vater von ihr nichts mehr wissen. Deshalb kann er auch ihren Sohn nicht leiden.«
Mit dem »dummen Streich« war die Verheirathung mit dem Oberst gemeint.
Selbstredend hatte Fräulein Gillenormand kein Glück mit dem Versuch gehabt, Marius durch ihren Günstling Théodule zu ersetzen. Ihr Vater war auf den Tausch nicht eingegangen. Mit Lückenbüßern begnügt sich das Herz nicht. Dem Lieutenant seinerseits ging es auch wider den Strich, daß er den Alten hofieren sollte, trotz der Erbschaft, die ihm winkte. Er fand ihn langweilig und Dieser war auch nicht über den Ersatzmann entzückt. Der Lieutenant war von heiterem Temperament, aber zu geschwätzig und banal; lebenslustig, aber kein amüsanter Gesellschafter; er machte zwar den Frauen den Hof und ließ sich gern über dieses Thema aus, aber die Art und Weise, wie er dies that, gefiel dem alten Herrn nicht. Alle seine Vorzüge waren mit einem Fehler verquickt. Gillenormand wurde es bald überdrüssig, ihn mit seinen Erfolgen prahlen zu hören und außerdem kam Théodule bisweilen mit der verhaßten dreifachen Kokarde. Das machte ihn vollends unmöglich, und eines Tages sagte Gillenormand zu seiner Tochter: »Nun habe ich genug von ihm. Empfange Du ihn, wenn Du magst. Die Kriegsleute im Frieden sind nicht nach meinem Geschmack. Wenn ich wählen müßte, würde ich die Schlagododros vorziehen. Säbelgeklirr in der Schlacht klingt immer noch besser, als wenn so ein windiger Stutzer seine Plempe über einen Parkettboden schleift. Und wenn dann Einer sich noch wie ein Eisenfresser in die Brust wirft und sich die Taille wie ein Frauenzimmer zusammenschnürt, ein Corsett unter einem Küraß trägt, so ist das doppelt lächerlich. Wenn man ein rechter Mann ist, hält man sich von der Prahlerei und der Ziererei gleich fern. Behalte Deinen Théodule für Dich.«
Mochte seine Tochter auch noch so oft wiederholen, Théodule sei doch sein Großneffe, Gillenormand hegte wohl großväterliche, aber keine großonkligen Gefühle.
Im Grunde genommen kam, da Gillenormand ein gescheidter Mann war, und Gelegenheit bekommen hatte, Vergleiche anzustellen, weiter nichts bei der Sache heraus, als daß er sich nur noch mehr nach Marius sehnte.
Eines Abends, – es war am 4. Juni, was Gillenormand nicht verhinderte tüchtig einheizen zu lassen – hatte er seine Tochter weggeschickt, in das nächste Zimmer, wo sie sich mit Näharbeit beschäftigte. Er war allein in seinem Schlafzimmer und saß in einem Lehnsessel am Kamin, fast vollständig versteckt von seinem neunblättrigen Bettschirm, die Arme auf dem Tisch, auf dem zwei Lichter unter einem grünen Schirm brannten und ein Buch in der Hand, in dem er aber nicht las. Er war nach der alten Mode der Incroyables gekleidet und erinnerte an ein Porträt von Garat. Die Leute wären hinter ihm hergelaufen, wenn er sich so auf der Straße hätte blicken lassen; seine Tochter bewog ihn aber, einen weiten Ueberrock anzuziehen, so daß man seine altmodische Tracht nicht zu sehen bekam. Zu Hause trug er, ausgenommen, wenn er zu Bett ging oder aufstand, nie einen Schlafrock. »Man sieht zu alt darin aus,« meinte er.
Vater Gillenormand dachte wieder einmal mit Zärtlichkeit und Bitterkeit an Marius, aber letzteres Gefühl überwog wie gewöhnlich. Denn jedes Mal, wenn er sich sanfteren Regungen hingab, bewirkte alsbald die Erinnerung an Marius Undankbarkeit, daß sie in das Gegentheil umschlugen. Er war jetzt bei einer Gemüthsverfassung angelangt, wo man bereit ist, sich in das Unvermeidliche zu schicken. »Es liegt kein Grund vor,« sagte er sich jetzt, »warum Marius wiederkommen sollte. Wenn er sich überhaupt dazu verstehen wollte, hätte er's schon gethan.« Er versuchte also sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er sterben würde, ohne seinem »Herrn« Enkel wiederzusehn. Aber gegen diesen Ausgang ihres Zwistes sträubte sich seine innerste Natur; seine Liebe zu Marius war zu tief eingewurzelt, als daß er auf alle Hoffnung hätte verzichten können. – »Ob er wirklich nicht mehr wiederkommt?« fragte er sich schwermüthig immer und immer wieder. So saß er, den kahlen Kopf auf die Brust gesenkt und starrte halb traurig, halb ärgerlich in die Asche des Kaminfeuers.
Während er so tief sinnierte, trat sein alter Diener Baske herein und fragte:
»Herr Marius wünscht sie zu sprechen.«
Blaß und mit einem heftigen Ruck wie ein Leichnam, der durch einen galvanischen Strom elektrisirt worden ist, richtete der Greis sich auf. All sein Blut war ihm nach dem Herzen geströmt. Er stammelte:
»Was für ein Herr Marius?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Baske, durch das Benehmen seines Herrn eingeschüchtert und außer Fassung gebracht. »Ich habe ihn nicht gesehen. Nicolette hat mir eben gesagt: »Ein junger Mann wünscht den Herrn zu sprechen. Sagen Sie ihm, es wäre Herr Marius.«
Vater Gillenormand stammelte leise:
»Bitten Sie ihn, näher zu treten.«
Er blieb in derselben Haltung sitzen, mit wackelndem Kopfe und die Augen auf die Thür geheftet. Sie that sich wieder auf und ein junger Mann trat herein. Es war Marius.
Er blieb an der Thür stehen, als wartete er auf eine Einladung näher zu treten.
Seine – fast erbärmliche – Kleidung konnte man in dem Schatten des Lampenschirms nicht gut sehen. Man unterschied nur sein ruhiges und ernstes, aber ausnehmend trauriges Gesicht.
Fassungslos vor Staunen und Freude war Vater Gillenormand einige Augenblicke wie geblendet, als sehe er eine hehre Lichtgestalt. Ja, er war es: es war sein Marius! Endlich! Nach vier Jahren! Er musterte ihn mit einem Blick und fand, daß Marius sich zu einem hübschen Manne von edler, vornehmer Haltung und von einnehmendem Aeußern entwickelt hatte. Es regte sich in ihm ein Verlangen seine Arme auszubreiten, ihm um den Hals zu fallen; sein Herz zerfloß in weicher Rührung; eine Fülle von liebevollen Worten drängte sich auf seine Lippen; endlich brach all die Zärtlichkeit sich Bahn und vermöge des Kontrastes, der das Wesen seines Charakters ausmachte, kam eine harte Anrede heraus:
»Was hast Du hier zu suchen?«
Marius antwortete verlegen:
»Herr . . .«
Gillenormand hätte gewünscht, daß Marius ihm entgegen käme, sich in seine Arme stürzte. Nun war er unzufrieden mit Jenem und sich selber. Er fühlte, daß er sich schroff benahm und daß Marius kalt blieb. Es war für den guten Alten eine unerträgliche Pein, daß er in seinem Innern so weich gestimmt war und äußerlich nur eine strenge Miene zeigen konnte. Unter dieser Umständen kam die Bitterkeit wieder und er fiel Marius unfreundlich in die Rede:
»Wozu kommst Du Denn?«
Das »denn« bedeutete: »Wenn Du mich nicht umarmen willst.« Marius aber sah nur das marmorweiße Gesicht seines Großvaters.
»Herr . . .«
Der Alte fragte mit strenger Stimme:
»Kommst Du um Verzeihung zu bitten? Hast Du eingesehen, daß Du Unrecht hast?«
Er glaubte, damit Marius auf den rechten Weg zu bringen, und der »Junge« würde nachgeben. Dieser aber erschrak. Er dachte, er sollte sich von seinem Vater lossagen, schlug die Augen nieder und erwiederte:
»Nein!«
»Ja, was willst Du denn aber?« brauste der Alte auf, voll herben Schmerzes und zornig.
Marius faltete die Hände, trat einen Schritt vor und sagte mit schwacher, unsichrer Stimme
»Haben Sie Mitleid mit mir!«
Diese Worte drangen dem Alten ins Innerste; hätte Marius das früher gesagt, so wäre er besser empfangen worden. Jetzt kam er zu spät damit. Der Großvater stand von seinem Lehnstuhl auf; er stemmte sich mit beiden Händen auf seinen Stock; seine Lippen waren blaß, seine Stirn schwankte, aber mit seiner hohen Statur überragte er noch Marius, der gebeugt vor ihm stand.
»Mitleid mit Dir! Also ein junger Mann bittet einen einundneunzigjährigen Greis um Mitleid. Du stehst am Anfang, ich am Ende des Lebens; Du gehst ins Theater, auf den Ball, ins Kaffeehaus, bist klug und hübsch, gefällst den Frauen; ich lasse mitten im Sommer mein Zimmer heizen; Du besitzt allen einzig wahren Reichthum, den es überhaupt giebt; ich entbehre alles, was das Leben lebenswerth macht, bin gebrechlich und weltverlassen; Du hast alle Deine Zähne, einen guten Magen, muntre Augen, Gesundheit, Frohsinn, einen Wald von schwarzen Haaren; ich bin kahl, habe keine Zähne mehr; meine Beine werden täglich schwächer; mein Gedächtniß gleichfalls. Da sind drei Straßennamen, die Rue Charlot, die Rue du Chaume und die Rue Saint-Claude, die verwechsle ich immerzu: So weit ist's mit mir gekommen. Du hast eine sonnige Zukunft vor Dir; mir ist zu Muthe, als wandle ich in tiefer Nacht. Du denkst natürlich immer an die Liebe; mich liebt Niemand und da kommst Du und bittest mich um Mitleid! So was müßte man wirklich auf die Bühne bringen. Wenn Ihr Herren Advokaten vor Gericht dergleichen Witze macht, so gratulire ich, Ihr seid komisch. – Nun aber möchte ich mal hören, was Du von mir willst.«
»Ich weiß,« entgegnete Marius, »daß Sie mich nicht gern sehn, aber ich komme blos, sie um etwas zu bitten, und gehe dann gleich wieder.«
»Du bist einfältig!« sagte der Alte, »Wer sagt Dir, daß Du gehen sollst?«
In die gewöhnliche Redeweise übersetzt, bedeuteten diese Worte: »So bitte doch um Verzeihung und komm' in meine Arme.« Gillenormand ahnte, daß Marius bald gehen würde, daß der schroffe Empfang ihn abschreckte. Dies sagte er sich also und in Folge dessen nahm seine Betrübniß zu. Da aber bei ihm jeder Kummer sofort in Zorn umschlug, so steigerte sich in demselben Maße auch seine äußerliche Härte. Er hätte gewünscht, daß Marius das begriffe. Der aber merkte nichts und darüber wurde der Alte noch wüthender. Er fuhr fort:
»Wie! Du hast die Achtung vor mir, Deinem Großvater, aus den Augen gesetzt, Deiner Tante Kummer bereitet; bist von uns weggegangen, wer weiß, wohin, um Dich – man kann's sich ja denken – ungestört mit Frauenzimmern zu amüsieren und zu schwiemeln; hast Schulden gemacht, ohne mir zu sagen, daß ich sie bezahlen soll; und nun Du vier Jahre weggeblieben bist, ohne ein Lebenszeichen zu geben, kommst Du zurück und hast mir weiter nichts zu sagen!«
Dieses gewaltsame Mittel, seinen Enkel weich zu stimmen, brachte bei Marius keine andre Wirkung hervor, als daß er schwieg.
Da kreuzte Gillenormand die Arme, ein Zeichen, daß er gebieterisch auftreten und kurzen Prozeß machen wollte.
»Machen wir ein Ende,« sagte er mit Bitterkeit, »Du willst mich um etwas bitten, sagst Du? Was ist es? Rede!«
»Ich wollte um die Erlaubniß bitten, zu heiraten,« antwortete Marius und sah dabei aus, wie Einer, dem die Gefahr droht, in einen Abgrund zu stürzen.
Gillenormand klingelte und Baske erschien in der Thüröffnung.
»Sagen Sie meiner Tochter, sie möchte zu mir kommen.«
Eine Sekunde darauf ging die Thür wieder auf. Fräulein Gillenormand zeigte sich auf der Schwelle, kam aber nicht herein. Marius stand mit einem Verbrechergesicht und mit schlaff herabhängenden Armen da. Der Alte ging im Zimmer nach allen Richtungen hin und her. Er wandte sich zu seiner Tochter und sagte:
»Es ist nichts, nur Herr Marius. Sag' ihm guten Tag. Der Herr will heiraten. So. Nun kannst Du wieder gehen.«
Die kurze, heftige Sprache des Alten ließ auf einen ungewöhnlichen Grad von Groll schließen. Die Tante sah Marius bestürzt an, schien ihn kaum wieder zu erkennen, machte weder eine Gebärde des Willkommens, noch brachte sie eine Silbe hervor und eilte vor dem Hauch des väterlichen Mundes hurtiger davon, als ein Strohhalm vor einem Orkan.
Währenddem war Gillenormand an den Kamin getreten und hatte sich an das Gesims gelehnt.
»Also Du hast beschlossen, Dich zu verheiraten! Mit einundzwanzig Jahren! Und jetzt willst Du blos noch um Erlaubnis bitten, eine kleine Formalität erfüllen! Setzen Sie sich, geehrter Herr! Nun, Ihr habt, seitdem ich nicht die Ehre gehabt habe, Dich zu sehen, wieder eine Revolution ins Werk gesetzt. Die Jakobiner haben die Oberhand bekommen. Das hat Dich doch gefreut? Du bist ja wohl Republikaner, seitdem Du Dich Baron titulierst. Republikanische Grundsätze und Adelstitel! Das paßt prächtig zu einander – etwa wie Braten und Zucker. Hast Du Dir auch einen Orden bei dem Krawall geholt, Dich bei der Erstürmung des Louvre mit Ruhm bedeckt? Hier in der Nähe in der Rue Saint-Antoine, der Rue des Nonnains-d'Hyères gegenüber kannst Du in einem Hause eine Kanonenkugel sehen mit der Inschrift: 28. Juli 1830. Das Vergnügen versäume doch ja nicht. Das sieht nach was aus, kann ich Dir sagen. Ja, ja! Deine Freunde richten schöne Geschichten an! – Also, Du willst Dich verheiraten? Mit wem? Wenn man sich die Freiheit nehmen darf, danach zu fragen!«
Er hielt inne, aber ehe noch Marius Zeit gefunden hatte zu antworten, fuhr er mit Heftigkeit fort:
»Kannst Du denn eine Frau ernähren? Hast Du eine regelmäßige Beschäftigung? Oder hast Du ein Vermögen zusammengearbeitet? Wieviel verdienst Du als Advokat?«
»Nichts!« antwortete Marius mit fast grimmiger Festigkeit und Entschlossenheit.
»Nichts! Also hast Du weiter nichts als die zwölfhundert Franken pro Jahr von mir?«
Marius gab keine Antwort.
»Ach so! Dann ist es ein reiches Mädchen?«
»So reich wie ich.«
»Was! Keine Mitgift?«
»Nein!«
»Aussichten?«
»Ich glaube nicht.«
»Kein Hemde auf dem Leibe! Und was ist der Vater?«
»Ich weiß nicht.«
»Und wie heißt sie?«
»Fräulein Fauchelevent.«
Der Alte zuckte verächtlich die Achseln.
»So ist's recht! Einundzwanzig Jahr alt, kein Verdienst, zwölfhundert Franken jährliches Einkommen! Da werden die Frau Baronin Pontmercy wohl Herrn Schmalhans als Küchenmeister engagiren und ihre paar Kartoffeln selber vom Markt holen müssen.«
»Herr Gillenormand!« rief Marius fassungslos, nun er seine letzte Hoffnung schwinden sah. »Ich beschwöre Sie, ich flehe sie an, ich bitte Sie fußfällig, erlauben Sie mir, sie zu heiraten.«
Der Alte brach in höhnisches, grausiges Gelächter aus.
»Aha! Du hast gedacht: Ich muß wohl oder übel den alten Stiesel, den Trottel aufsuchen. Wie schade, daß ich noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt und mündig bin! Wie schleunig ich dem mit einer notariellen Abfrage aufwarten würde! Da könnte man ohne ihn fertig werden. Na, schadet aber nicht. Ich gehe zu ihm hin und sage: Du altes Rind kannst zufrieden sein, daß ich mich einmal bei Dir sehen lasse; ich will mich verheiraten; ich habe keine ganzen Stiefel; meine Zukünftige hat kein Hemd am Leibe; das ist mir aber schnurz; ich lasse meine Karriere, meine Zukunft zum Teufel fahren, lade mir eine Frau auf den Hals, und stürze mich ins Elend. Das beliebt mir so und Du mußt Ja dazu sagen. Selbstredend, wird das alte Fossil klein beigeben. – Du hast Dich aber in mir geirrt, lieber Freund; meine Erlaubniß bekommst Du nicht!«
»Großvater!«
»Nun und nimmermehr!«
An dem Tone, in dem diese Weigerung ausgesprochen wurde, erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Er ging langsam, in geknickter Haltung, als sehe er den Tod vor sich, davon. Gillenormand folgte ihm mit den Augen, aber als Marius die Thür aufmachte und den Fuß aus dem Zimmer setzen wollte, eilte ihm der Alte plötzlich nach, faßte ihn beim Kragen, zog ihn energisch zurück und drückte ihn auf einen Stuhl nieder.
»Erzähle mir doch die Geschichte!«
Das bloße Wort »Großvater«, das Marius so entschlüpft war, hatte diese Veränderung bewirkt.
Marius sah ihn verständnislos an. Gillenormand's bewegliche Physiognomie zeigte nur noch einen Ausdruck rauher und unaussprechlicher Gutmüthigkeit. Der Alte hatte die Stimme des Bluts gehört.
»Vorwärts, erzähle mir Deinen ganzen Liebeshandel, und ohne Umstände. Nein, was das junge Volk dumm ist.«
»Großvater!« begann Marius wieder:
»So ist's recht, nenne mich Großvater. Dann wirst Du schon sehen!« rief der Alte und helle Freude strahlte in seinem Gesicht auf.
In seiner Derbheit lag jetzt so viel Güte, Freundlichkeit, Offenheit und väterliche Liebe, daß Marius durch den plötzlichen Uebergang von der höchsten Entmuthigung zur Hoffnung wie betäubt und berauscht war. Er saß jetzt am Tische und das Licht der beiden Kerzen fiel auf seine ärmliche Kleidung, die Vater Gillenormand mit Erstaunen musterte.
»Also, Großvater . . .« hob Marius wieder an.
»Sag' mal,« fiel Gillenormand ihm ins Wort, »bist Du denn wirklich so schlimm dran? Du siehst ja wie ein Landstreicher aus.«
Er zog eine Schublade auf und holte eine Börse hervor, die er auf den Tisch legte.
»Da hast Du hundert Louisd'or; kaufe Dir einen Hut.«
»Großvater, mein lieber Großvater, wenn Du wüßtest, wie ich sie liebe. Das erste Mal also habe ich sie im Jardin du Luxembourg gesehen; da kam sie täglich hin. Anfangs beachtete ich sie nicht; dann aber – ich weiß nicht, wie es gekommen ist – faßte ich eine heftige Liebe zu ihr. Ach, wie mich das unglücklich gemacht hat! Na, kurz und gut, ich besuche sie jetzt täglich; ihr Vater weiß aber nichts davon. Denke Dir, sie wollen verreisen. Wir treffen uns immer unten im Garten, des Abends. Ihr Vater will sie also nach England mitnehmen, und da habe ich gedacht, ich gehe zu meinem Großvater und erzähle ihm alles. Ich würde ja verrückt werden, würde sterben, krank werden, ins Wasser gehen. Ich muß sie durchaus heiraten, sonst würde ich den Verstand verlieren. Das ist also die ganze Wahrheit; ich glaube nicht, daß ich was vergessen habe. Sie wohnt Rue Plumet in einem Hause, mit einem kleinen Garten davor, in der Nähe des Invalidendoms.«
Vater Gillenormand hatte sich strahlend vor Glück zu Marius gesetzt, und delektierte sich, während er seinem Enkel zuhörte und sich an dem Klange seiner Stimme erfreute, zugleich auch an einer Prise Tabak. Als er aber die Worte Rue Plumet hörte, ließ er plötzlich den Rest seines geliebten Riechkrauts fallen.
»Rue Plumet, sagst Du? Rue Plumet? Wo ist die doch? Ist da nicht eine Kaserne in der Nähe? I gewiß! Nun weiß ich. Dein Vetter Théodule hat davon gesprochen, der Lanzenreiter. Und von dem Mädel auch. Nun natürlich, Rue Plumet, die vormalige Rue Blomet. Jetzt entsinne ich mich. Ich habe von der Kleinen, dem Garten mit dem Gitter sprechen hören. Eine wahre Pamela, sagte er. Du hast keinen übeln Geschmack. Sie soll allerliebst sein. Unter uns gesagt, ich glaube, der Laffe von Lieutenant hat ihr ein bischen die Kour geschnitten. Wie weit die Sache aber gegangen ist, kann ich Dir nicht sagen. Na, das ist Nebensache. Glauben kann man ihm ja auch nicht. Er prahlt gern. Marius, ich finde es ganz in der Ordnung, daß ein junger Mann, wie Du sich verliebt. Das gehört sich so in Deinem Alter. Das gefällt mir besser an Dir, als Deine Beschäftigung mit der Politik. Vernarre Dich in zwanzig Schürzen, aber nicht in Robespierre. Ich für mein Theil darf mir das Zeugniß ausstellen lassen, daß ich nie andere ›Ohnehosen‹ haben leiden mögen, als die Frauenzimmer, die hübschen natürlich; auf die lasse ich nichts kommen. Was Deine Kleine betrifft, so empfängt sie Dich ohne Wissen des Herrn Papa. Auch nichts Ungewöhnliches. Dergleichen Abenteuer habe ich meiner Zeit ebenfalls gehabt. Mehr als eines. Weißt Du, was man unter solchen Umständen thut? Man stellt sich nicht auf den Standpunkt eines Tugendbolds, läßt jede griesgrämige Moral links liegen und rennt nicht gleich wie ein Besessener nach dem Standesamt. Man muß gescheidt sein, lieber Junge, und in solch einem Falle über den Abgrund der Ehe hinweghüpfen. Man kommt zu Großväterchen, der gemüthlicher ist, als er aussieht und wohl auch ein paar überflüssige Rollen Goldstücke in irgend einer Schublade zu liegen hat, und zu dem sagt man: ›Großvater, so und so verhält sich die Sache.‹ Und Großvater sagt: ›Nun natürlich. Die Jugend will austoben, und das Alter muß ruhen. Ich bin jung gewesen und Du wirst einmal alt werden. Hier, mein Junge, hast Du zweihundert Pistolen. Die leihe ich Dir, damit Du sie später einmal an Deinen Enkel wieder erstattest. So nun geh hin und amüsire Dich.‹ Auf die Weise wird's gemacht. Verstanden?«
Wie versteinert und unfähig eine Silbe hervorzubringen, schüttelte Marius verneinend den Kopf.
Der Alte lachte, blinzelte mit den Augen, gab ihm einen Klapps auf das Kniee, sah ihn schelmisch an und sagte, indem er nachsichtig die Achseln zuckte:
»Dummer Kerl, Du sollst aufs Ganze gehen, ohne zu ehelichen.«
Marius erblaßte. Er hatte die lange Rede seines Großvaters nicht verstanden. Die Rue Plumet, Pamela, die Kaserne, der Lanzenreiter waren vor den Augen seines Geistes vorbeigehuscht, ohne ihm ein zusammenhängendes Bild zu liefern. Das Alles konnte sich doch nicht auf Cosette, die lilienreine Unschuld selber beziehen. Der Alte redete ungewaschenes Zeug! Aber der Unsinn gipfelte in einem guten Rath, der für Cosette eine tötliche Beleidigung war. Die Worte »ohne zu ehelichen« verwundeten das Herz des tugendstrengen, jungen Mannes schwerer wie eine Degenklinge. Er stand auf, hob seinen Hut, der an der Erde lag, auf und ging sichern und festen Schrittes auf die Thür zu. Hier blieb er stehen, wandte sich um, verneigte sich tief vor seinem Großvater, richtete stolz den Kopf empor und sagte:
»Vor fünf Jahren haben Sie meinen Vater verunglimpft; heute beschimpfen Sie meine zukünftige Frau. Ich habe nun nichts mehr mit Ihnen zu thun. Adieu.«
Der erschrockne Vater Gillenormand that den Mund auf, breitete die Arme aus, versuchte von seinem Sitz aufzustehn; aber noch ehe er einen Laut hervorbringen konnte, war die Thür wieder zugegangen und Marius verschwunden.
Der Greis blieb eine Weile wie gelähmt sitzen, ohne sprechen oder athmen zu können, als schnürte ihm Jemand die Kehle zu. Endlich sprang er auf, lief zu der Thür, so schnell Einer in seinen Jahren laufen kann, riß sie auf und schrie:
»Hülfe! Hülfe!«
Seine Tochter, die Dienstboten kamen.
»Lauft ihm nach! Bringt ihn zurück!« ächzte er. »Was habe ich ihm denn gethan? Er ist verrückt! Er geht weg! Ach, mein Gott, mein Gott! Dies Mal kommt er nicht wieder!«
Dann rannte er an das Fenster, das auf die Straße hinausging, riß es mit zittriger Hast auf, legte sich mit halbem Leibe hinaus, während Baske und Nicolette ihn von hinten festhielten und rief:
»Marius! Marius! Marius!«
Aber Marius konnte ihn nicht mehr hören; er bog in diesem Augenblick schon um die Ecke der Rue Saint-Louis.
Der Greis drückte mehrere Mal mit qualvoller Miene beide Hände gegen die Schläfen, taumelte vom Fenster zurück und sank auf seinen Sessel nieder, ein Bild des höchsten physischen und moralischen Jammers.