Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Zweites Buch. Eponine

I.
Das Feld der Lerche

Kaum hatte Javert das Gorbeausche Haus verlassen um seine Gefangnen in drei Droschken fortzuschaffen, als auch Marius sich hinausschlich und sich – um neun Uhr Abends – zu Courfeyrac begab. Dieser war dem Studentenviertel untreu geworden und hatte »aus politischen Gründen« in der Rue de la Verrerie Wohnung genommen. Die Gegend gehörte nämlich zu denen, die von der Insurrektion bevorzugt wurden, Marius sagte zu Courfeyrac: »Ich möchte heute bei Dir übernachten!« Courfeyrac nahm von seinen beiden Matratzen die eine aus dem Bett heraus, legte sie auf den Fußboden und sagte: »Da!«

Am nächsten Morgen um sieben Uhr kehrte Marius nach dem Gorbeauschen Hause zurück, bezahlte seine Miethe und was er der Vicewirtin sonst noch schuldig war, ließ seine Bücher, sein Bett, seinen Tisch, seine Kommode und seine beiden Stühle auf einen Handwagen laden und zog davon, ohne seine Adresse zu hinterlassen. Javert fand daher, als er im Lauf des Vormittags zurückkam um Marius über die Ereignisse des vergangenen Tages auszuforschen, nur Frau Burgon in dem Hause, die ihm: »Ausgezogen!« entgegenrief.

Die Vicewirtin war überzeugt, daß Marius ein Spießgeselle der verhafteten Spitzbuben gewesen war. »Wer hätte das gedacht! Ein junger Mann, was schüchtern war wie ein junges Mädchen!«

Zweierlei Gründe hatten Marius zu diesem eiligen Umzug bewogen. Erstens fühlte er jetzt einen Abscheu vor dem Hause, wo er aus nächster Nähe und in ihrer ganzen Widerwärtigkeit eine der allerhäßlichsten Früchte der Gesellschaftsordnung kennen gelernt hatte, den bösen Armen, der noch unerquicklicher ist, als der böse Reiche. Zweitens wollte er nicht in dem bevorstehenden Prozeß als Belastungszeuge gegen Thénardier auftreten.

Javert glaubte, der junge Mann, dessen Namen er sich nicht gemerkt hatte, habe Angst bekommen und sei davongelaufen oder wäre wohl gar an dem bewußten Abend nicht zu Hause gewesen. Trotzdem stellte er aber Nachforschungen an, ohne indessen Marius neue Adresse ausfindig zu machen.

Es verging ein Monat, dann noch einer, und Marius wohnte noch immer bei Courfeyrac. Er hatte von einem Advokaten, der in dem Wartesaal des Gerichtshauses regelmäßig promenirte, erfahren, daß Thénardier sich im engeren Gewahrsam befand. Von da an ließ Marius jeden Montag in der Amtsstube des Gefängnisses La Force fünf Franken für Thénardier abgeben.

Diese fünf Franken entlieh Marius, da er kein Geld mehr hatte, seinem Freund Courfeyrac, das erste Anlehen, das er überhaupt in seinem Leben machte. Ueber diese regelmäßige Sendung wunderte sich Courfeyrac, der das Geld hergab, ebenso sehr wie Thénardier, der es empfing. Die Sache blieb aber für Beide ein Räthsel.

Natürlich war Marius außer sich vor Kummer. Nachdem er einen Augenblick die junge Dame, die er liebte, und den alten Herrn, der ihr Vater zu sein schien, wiedergesehen, waren diese beiden Unbekannten, durch die ihm das Leben lebenswert war, verschwunden, ohne mehr Spuren zu hinterlassen, als ein Schatten. Kein Funken von Gewißheit und Wahrheit! Keine Möglichkeit, auch nur Vermuthungen aufzustellen! Jetzt konnte er das junge Mädchen nicht einmal bei einem Namen nennen. Jedenfalls war sie nicht mehr seine »Ursula«. Und die »Lerche« war ein Spitzname. Und was sollte er von dem Alten denken? Versteckte er sich wirklich vor der Polizei? Nun kam ihm die Begegnung mit dem weißhaarigen Arbeiter unweit des Invalidendomes ins Gedächtniß zurück. Wahrscheinlich waren dieser Arbeiter und Herr Leblanc ein und derselbe Mann. Er verkleidete sich also! Warum hatte der Unbekannte nicht um Hülfe gerufen? Weshalb hatte er sich heimlich aus dem Staube gemacht? War er der Vater des jungen Mädchen oder war er es nicht? Und war er wirklich der Mann, für den Thénardier ihn hielt, oder hatte sich Letzterer geirrt? Lauter unlösbare Räthsel! Freilich, alle diese argwöhnischen Zweifel thaten den engelhaften Reizen seiner Angebeteten keinen Abbruch. Welch eine herbe Qual, daß er mit dieser Leidenschaft im Herzen im Dunkeln herumtappte! Die Liebe trieb ihn vorwärts, befahl ihm zu gehen und er konnte sich nicht rühren. Alles war dahin, nur die Liebe nicht, und auch diese ließ ihn mit ihrem Rath im Stich. Gewöhnlich spendet doch die Flamme, die uns verzehrt, auch einiges Licht, das unsre Schritte richtig leitet. Aber solche Eingebungen bekam Marius jetzt nicht mehr. Nie dachte er: »Ob ich dorthin gehe? »Wie wäre es, wenn ich das versuchte?« Irgendwo mußte doch Diejenige weilen, die er nicht mehr seine Ursula nennen konnte; aber nichts gab ihm kund, wo er sie wohl suchen könnte. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehn, aber zu hoffen wagte er es nicht mehr.

Um das Unglück voll zu machen, stellte sich das Elend wieder bei ihm ein und lähmte ihn mit seinem Eiseshauch. Von Liebessorgen in Anspruch genommen, hatte er schon seit geraumer Zeit zu arbeiten aufgehört, und nichts ist gefährlicher, als die Trägheit.

Ein gewisses Quantum Träumerei hat eine ähnliche gute Wirkung, wie ein in geringer Menge eingenommenes Betäubungsmittel. Es schläfert den Verstand ein, wenn er zu gewaltsam arbeitet, füllt Lücken aus, setzt die verschiedenen großen Gebiete des Geistes mit einander in Verbindung. Aber zuviel Träumerei vernichtet die Verstandeskräfte. Wehe dem Kopfarbeiter, der aus dem reinen Denken vollständig in das Reich der Phantasie hinübergleitet. Er glaubt, es sei ihm ein Leichtes, wieder hinaufzusteigen, und sagt sich, es mache keinen Unterschied. Schwerer Irrthum!

Das Denken ist eine Anstrengung, die Träumerei eine Lust. Das Denken durch das Träumen ersetzen heißt ein Gift mit einem Nahrungsmittel verwechseln.

Marius hatte schon damit angefangen, als die Liebe sich seiner noch nicht bemächtigt hatte; seitdem aber war er ganz und gar in einen Abgrund voll zweckloser Phantastereien gestürzt. Und in dem Maße, wie die Arbeit abnahm, wuchsen die Bedürfnisse. Das ist ein Naturgesetz. Der Mensch, der Träumereien nachhängt, ist verschwenderisch und weichlich; wenn man seiner Phantasie den Zügel schießen läßt, kann man auch den Willen nicht kurz halten und nimmt sich nicht zusammen. Wer das Leben so hinbringt, in dem liegen Gutes und Böses nebeneinander, denn wenn Schlaffheit Nachtheil bringt, so ist die Freigebigkeit etwas Gesundes und Gutes. Aber ein hochsinniger und freigebiger Mann, der arm ist und nicht arbeitet, ist verloren. Er wandelt auf einer abschüssigen Bahn, auf der auch die Rechtschaffensten und Tüchtigsten nicht Halt machen können, sondern entweder in den Abgrund des Verbrechens oder des Selbstmords stürzen.

Geht man immer blos aus, um zu träumen, statt Arbeit zu suchen, so kommt einmal ein Tag, wo man ausgeht, um ins Wasser zu springen.

Diese abschüssige Bahn stieg auch Marius langsam hinab, ohne die Augen auf ein andres Ziel zu richten, als auf sie, die er nicht mehr sah. Dies hört sich seltsam an, ist aber wahr. Je unerreichbarer Jemand ist, nach dem wir uns sehnen, desto heller erstrahlt sein Bild in unsrer Seele. Marius ganzes Sinnen und Trachten konzentrirte sich auf »sie.« Daß sein alter Rock allmählich untragbar und sein neuer Rock alt wurde, daß seine Hemden, sein Hut, seine Stiefel immer mehr Spuren von Vergänglichkeit aufwiesen, und daß in demselben Maße auch sein Leben dahinschwand, merkte er nur sehr unklar und dachte dabei nur: »O könnte ich sie doch noch einmal wiedersehen, ehe ich sterbe!«

Nur ein tröstlicher Gedanke war ihm geblieben: Sie liebte ihn. Das hatten ihre Augen ihm gesagt. Sie wußte nicht, wie er hieß; aber sie wußte, was er für sie empfand. Vielleicht liebte sie ihn noch, an welchem geheimnißvollen Orte sie auch sein mochte; vielleicht beschäftigte sie ihre Gedanken so angelegentlich mit ihm, wie er die seinen mit ihr. Bisweilen, wenn ihn, wie alle Liebenden, unerklärliche Regungen von Freude anwandelten, trotzdem er nur Grund zu Kummer hatte, dache er: »Ihre Gedanken fliegen in diesem Augenblick zu mir herüber!« und wiegte sich dann in der süßen Hoffnung, daß vielleicht auch Gedanken von ihm zu ihr hinübereilten.

Diese Illusion, über die er gleich darauf den Kopf schüttelte, warf doch hin und wieder einen Hoffnungsschimmer in seine Seele. Zeitweise, besonders in den Abendstunden, wo die Träumer sich am leichtesten der Schwermuth hingeben, schrieb er in einem eigens dazu bestimmten Hefte die reinsten, unpersönlichsten, schwärmerischsten Gedanken nieder, die seine Liebe ihm eingab. Er nannte das »an sie schreiben.«

Man glaube nicht, daß er nicht recht bei Verstande war. Im Gegentheil. Er hatte wohl die Fähigkeit zu arbeiten und auf ein bestimmtes Ziel entschieden loszugehn verloren, aber sein Urtheil war klarer und richtiger denn je. Nichts entging ihm, immer traf er das Wahre, und jeden Augenblick schaute er in die Tiefen des Lebens und des Schicksals. Glücklich, selbst bei herbster Seelenpein, der, dem Gott eine der Liebe und des Unglücks werte Seele gegeben hat! Wer die Dinge dieser Welt und das Herz der Menschen nicht unter solch einer doppelten Beleuchtung gesehen hat, der hat überhaupt nichts Wahres gesehen und weiß nichts.

Die Seele, die liebt und leidet, steht auf dem erhabensten Gipfel der Vollkommenheit.

Im Uebrigen folgte ein Tag dem andern, ohne daß sich etwas Neues ereignete. Es dünkte ihm nur, daß der Leidensweg, den er noch zu durchlaufen hatte, immer kürzer und kürzer werde. Schon sah er deutlich im Geiste den Rand des bodenlosen Abgrunds, in den er hineinstürzen werde. »Und ohne sie vorher wiederzusehen!« seufzte er.

Wenn man die Rue Saint-Jacques hinaufgestiegen and nach links den ehemaligen innern Boulevard bis zur Rue de la Santé und dann bis zur Glacière vorgedrungen ist, findet man kurz vor dem Flüßchen des Gobelins ein Feld, das sich von dem ganz Paris umschlingenden Boulevardgürtel vorteilhaft unterscheidet.

Es ist eine liebliche Landschaft, eine grüne Wiese, wo Wäsche auf Leinen getrocknet wird; ein altes Bauernhaus aus der Zeit Ludwigs XIII. mit hohem Giebel und sonderbaren Mansarden; ein verfallener Zaun; Wassertümpel zwischen hohen Pappeln; im Hintergrund das Panthéon, das Taubstummeninstitut, das Militärhospital Val-de-Grâce und weit in der Ferne die strengen Umrisse der Thürme von Notre-Dame.

Da der Ort sehenswert ist, geht Niemand hin. Kaum daß ein paar Mal in der Stunde ein Lastwagen vorbeifährt.

Nun trug es sich eines Tages zu, daß Marius auf einem seiner einsamen Spaziergänge seine Schritte hierhin lenkte. Merkwürdiger Weise kam auch noch Jemand anders des Weges. Diesen fragte Marius, dem trotz seiner Zerstreutheit die Anmuth der Landschaft auffiel: »Wie heißt dieser Ort?«

»Das Feld der Lerche. Hier hat Ulbach die Schäferin von Ivry umgebracht.«

Aber was auf das Wort Lerche folgte, hörte Marius nicht mehr. Oft genügt ein unbedeutendes Wörtchen, um im Gehirn eines Träumers eine Art Erstarrung hervorzubringen. Die ganze Denkfähigkeit richtet sich auf den einen Punkt hin und der Mensch ist einer andern Wahrnehmung nicht mehr fähig. Die Lerche! So nannte Marius in seinen trübseligen Grübeleien Diejenige, die ihm ehedem Ursula geheißen hatte. »Sieh da!« sagte er betroffen und mit jenem Mangel an folgerichtiger Ueberlegung, der solchen stillen Selbstgesprächen eigen ist; »dies ist ihr Feld. Hier werde ich erfahren, wo sie wohnt.«

Das war thöricht, aber er konnte dem abergläubischen Drange nicht widerstehn und besuchte von da an jeden Tag das »Feld der Lerche.«

II.
Wie im Gefängniß Verbrechen ausgeheckt werden

Der Erfolg, den Javert in dem Gorbeauschen Hause errungen hatte, war kein vollständiger gewesen.

Abgesehen von dem Gefangnen, dessen Festnahme für die Polizei gewiß von Wichtigkeit gewesen wäre, hatte sie auch Montparnasse nicht eingefangen.

Es mußte eine andre Gelegenheit abgewartet werden, um des »schmucken Teufelskerls« habhaft zu werden. Dieser hatte nämlich Eponine, die unter den Bäumen des Boulevard Wache stand, überredet mit ihm zu gehen, da ein Schäferstündchen noch mehr nach seinem Geschmack war, als eine Heldenthat à la Schinderhannes. Das war ein Glück für ihn, denn auf diese Weise rettete er seine Freiheit.

Eponine ließ Javert wieder einfangen, was ihm aber nur einen schwachen Trost gewährte.

Endlich hatte sich während der Fahrt von dem Gorbeauschen Hause nach dem Gefängniß La Force einer der wichtigsten Häftlinge, Claquesous, »verkrümelt«. Kein Mensch begriff, wie das zugegangen sein mochte. Ob er sich wie Dunst verflüchtigt, ob er sich in Wasser verwandelt und durch eine Ritze in der Droschke hinausgetropft war? Kurzum, als man vor dem Gefängniß anhielt, war Claquesous weg. Hier hatte entweder ein Zaubrer oder – die Polizei die Hand im Spiele gehabt. Stand der räthselhafte Mensch zugleich in Beziehung zu der Verbrecherwelt und der Obrigkeit, und hatte ihm ein Polizist zur Flucht verholfen? Javert selber war nicht der Mann, der sich auf solche Machenschaften einließ; aber unter der Truppe, die er an jenem Tage befehligte, befanden sich noch andre Inspektoren, die, obgleich seine Untergebenen, in die Geheimnisse des Polizeipräsidiums besser eingeweiht waren als er, und Claquesous war ein so durchtriebener Halunke, daß er sehr wohl einen guten Polizisten abgeben konnte. Jedenfalls verdroß auch Javert die Sache mehr, als sie ihn in Verwunderung setzte.

Was Marius, den »Laffen von Advokaten, der wahrscheinlich Angst gekriegt hatte«, anbelangt, so lag Javert wenig daran, ihn ausfindig zu machen.

Die Untersuchung war eingeleitet worden.

Der Richter hatte es für rathsam erachtet, eins von den Mitgliedern der Bande Patron-Minette nicht in engeren Gewahrsam bringen zu lassen, in der Hoffnung, daß dieses aus der Schule plaudern würde. Der dazu Auserwählte war Brujon, der Langhaarige, den Marius in der Rue du Petit-Banquier belauscht hatte. Dieser, ein pfiffiger junger Kerl, der dem Untersuchungsrichter wegen seiner einfältigen und wehmütigen Miene zu dem besagten Zweck sehr geeignet schien, durfte auf dem Hofe Charlemagne mit den andern Verbrechern verkehren, wobei er allerdings speziell beobachtet wurde.

Die Spitzbuben stellen ihre verbrecherische Thätigkeit nicht ein, auch wenn sie sich in den Händen der Justiz befinden. Solche Kleinigkeiten geniren sie nicht. Sie machen es wie die Maler, die ein Bild ausstellen, während der Zeit aber in ihrem Atelier ruhig weiter arbeiten.

Dem Anschein nach wirkte die Gefängnißhaft wie betäubend auf Brujon. Stundenlang sah man ihn vor der Luke des Schankwirts stehen, die Augen starr auf das Preisverzeichnis geheftet, das mit »Knoblauch – 62 Centimes« anfing und mit »1 Cigarre – 5 Centimes« endete. Oder er brachte seine Zeit damit zu, daß er zitterte, mit den Zähnen klapperte, über Fieber klagte und sich erkundigte, ob eins der achtundzwanzig Betten in dem Saal für Fieberkranke frei geworden wäre.

Auf einmal erfuhr man in der letzten Hälfte des Monats Februar 1832, daß der schläfrige Brujon durch Dienstmänner des Gefängnisses, im Namen Dreier von seinen Freunden, drei verschiedne Bestellungen hatte ausrichten lassen, was ihm im Ganzen fünfzig Sous gekostet hatte, eine so bedeutende Ausgabe, daß der Brigadier aufmerksam auf die Sache wurde.

Man stellte Ermittlungen an, sah den im Sprechzimmer der Häftlinge ausgehängten Tarif ein und fand, daß die fünfzig Sous für einen Gang nach dem Panthéon, einen nach dem Val-de-Grâce, einen nach Grenelle verausgabt waren. In diesen drei Stadtvierteln wohnten nun aber drei sehr gefährliche Strolche, Kruideniers, genannt Bizarro, der freigelassene Zuchthaussträfling Glorieux und Barre Carrosse, auf die in Folge dieses Vorfalls die Polizei wieder ihre Aufmerksamkeit lenkte. Man mutmaßte, daß diese Leute Helfershelfer der Bande Patron-Minette waren, von der man zwei Hauptleute, Babet und Gueulemer, dingfest gemacht hatte. Wahrscheinlich waren in den Briefen, die Brujon nicht an Hausadressen, sondern an Individuen gerichtet hatte, die auf der Straße warteten, Winke enthalten gewesen, die auf irgend ein neues »Geschäft« Bezug hatten. Da noch andere Anzeichen vorlagen, wurden die drei Strolche festgenommen, und damit glaubte man, Brujon's Plan vereitelt zu haben.

Ungefähr eine Woche nach diesem Zwischenfall wollte nun ein Aufseher eben seine Kastanie in die Kastanienbüchse stecken – dieses Mittel gebrauchte man nämlich, um sich zu versichern, daß der Inspektionsdienst ordnungsgemäß gehandhabt wurde, indem jede Stunde je eine Kastanie in alle an den Thüren der Schlafräume befestigten Büchsen fallen mußte – in jener Nacht also sah ein Aufseher, als er durch das Guckfenster blickte, wie Brujon in seinem Bett aufrecht saß und schrieb. Der Beamte ging in den Schlafsaal hinein, Brujon kam auf vier Wochen in die Einzelzelle, aber des Geschriebenen wurde man nicht habhaft.

Am nächsten Tage aber flog ein um ein Brodkügelchen gewickelter »Kassiber« aus dem Hof Charlemagne in den Hof Saint-Bernard, den die Verbrecher die Löwengrube nennen, über das dazwischen liegende fünfstöckige Gebäude. Der Brief fiel weder einem Gefängnißwächter noch einem Verräther in die Hände, sondern gelangte glücklich an den Adressaten, keinen geringren als Babet, eins der vier Häupter der Bande Patron-Minette, trotzdem dieser sich im engern Gewahrsam befand.

Der Kassiber lautete: »Babet, in der Rue Plumet ist ein Geschäft zu machen. Ein Garten mit einen Gitter.«

Trotz aller Visitirungen fand Babet Mittel und Wege, den Zettel an eine gute Freundin, die in der Salpêtrière saß, gelangen zu lassen. Dieses Frauenzimmer übergab ihn ihrerseits einer Bekannten, Namens Magnon, auf die die Polizei ein Augenmerk hatte, die aber noch nicht verhaftet war. Diese Magnon, die unsere Leser schon kennen, hatte mit den Thénardiers Beziehungen, über deren Natur wir uns weiterhin noch aussprechen werden, und konnte durch Eponine eine Verbindung zwischen den beiden Gefängnissen La Salpêtrière und Les Madelonnettes herstellen.

Es traf sich gerade, daß aus Mangel an Beweisen betreffs der Mitschuld der Töchter Thénardiers Eponine und Azelma aus dem Gefängniß Les Madelonnettes entlassen wurden.

Als Eponine herauskam, übergab ihr Magnon, die schon an der Thür auf sie wartete, Brujon's Brief an Babet und beauftragte sie das Geschäft »auszubaldowern«.

Demzufolge begab sich Eponine nach der Rue Plumet, fand das Gitter samt dem Garten, beobachtete das Haus und brachte einige Tage darauf der Magnon, die in der Rue Clocheperce wohnte, einen Zwieback, den Magnon der Geliebten Babets zukommen ließ. Ein Zwieback bedeutet in der symbolischen Sprache der Verbrecher, daß »nichts zu machen« ist.

Als demgemäß noch nicht acht Tage nachher Babet und Brujon sich auf dem Rondenweg des Gefängnisses La Force begegneten – der Eine wurde zu dem Untersuchungsrichter, der Andere eben zurückgeführt – fragte Brujon: »Rue P.?« und Babet antwortete: »Zwieback.«

So gelangte das von Brujon geplante Verbrechen nicht zur Ausführung.

Der Vorfall hatte aber doch Folgen, die nicht auf Brujons Programm standen und auf die wir noch weiterhin zurückkommen werden.

Wenn man einen Knoten schürzt, zieht man oft einen Faden hinein, an den man nicht gedacht hatte.

III.
Was Vater Mabeuf für eine Erscheinung hatte

Marius ging zu Niemand mehr auf Besuch; es kam aber bisweilen vor, daß er Vater Mabeuf begegnete.

Während Marius langsam die Stufen zu jenen lichtlosen Höhlen des Elends hinabstieg, wo man die Glücklichen über sich tanzen hört, ging es mit Mabeuf gleichfalls bergab.

Die »Flora von Cauterets« fand gar keine Abnehmer mehr. Die Experimente mit dem Indigo waren in dem kleinen Garten seines Hauses in Austerlitz, der nicht genug Sonnenlicht bekam, gescheitert. Mabeuf konnte hier nur einige seltene Pflanzen anbauen, die Feuchtigkeit und Schatten lieben. Er verlor aber nicht den Muth, ließ sich einen sonnigen Winkel im Jardin des Plantes anweisen, wo er auf seine Kosten seine Versuche fortsetzen wollte. Zu diesem Zweck brachte er seine Kupferplatten auf das Leihamt. Er begnügte sich jetzt zum Frühstück mit zwei Eiern, und gab noch dazu eins davon seiner alten Magd, der er seit fünf Vierteljahren keinen Lohn mehr zahlen konnte. Oft bildete das eine Ei die einzige Tagesmahlzeit. Man hörte ihn nicht mehr in seiner alten, kindlichen Weise lachen, er war griesgrämig geworden und empfing keine Besuche mehr, so daß Marius gut daran that, daß er nicht mehr zu ihm ging. Bisweilen begegneten sich die Beiden, wenn Mabeuf sich nach dem Jardin des Plantes begab, auf dem Boulevard de l'Hôpital. Dann sprachen sie nicht miteinander, sondern nickten sich nur schwermüthig zu. So kann das Elend Freundschaftsbande lösen!

Der Buchhändler Royol war gestorben und Mabeuf beschäftigte sich jetzt nur noch mit seinen Büchern, seinem Garten und seinem Indigo. Diese drei Gestalten hatten jetzt für ihn das Glück, das Vergnügen und die Hoffnung angenommen. Das genügte, ihn am Leben zu erhalten. »Gedeihen erst meine Indigopflanzen, so werde ich reich«, dachte er, »Dann löse ich meine Kupferplatten ein, mache tüchtige Reklame für meine Flora und kaufe – ich weiß schon, wo ein Exemplar der »Schifffahrt« von Pierre de Médine, mit Holzschnitten aus dem Jahre 1559. – Währenddem arbeitete er aber den ganzen Tag im Jardin des Plantes und ging des Abends nach Hause, um seinen Garten zu begießen und in seinen Büchern zu schmökern. Er war damals nahezu achtzig Jahr alt.

Eines Abends hatte er eine sonderbare Erscheinung.

Er war, als es noch heller lichter Tag war, nach Hause gekommen. Seine alte Magd, mit deren Gesundheit es abwärts ging, lag krank im Bett. Er hatte zum Abendessen einen Knochen benagt und ein Stück Brod gegessen und saß gerade auf einem umgefallnen Prellstein, der ihm als Gartenbank diente.

Mabeuf begann in zwei Büchern, die ihn begeisterten und was für sein hohes Alter noch bedenklicher war, ihm viel zu denken gaben, zu blättern und zu lesen. Seine natürliche Furchtsamkeit machte ihn geneigt, auf abergläubische Ideen in gewissem Grade einzugehen. Das eine von den beiden Büchern war die berühmte Abhandlung des Präsidenten Delance »Ueber die Unbeständigkeit der Dämonen,« das andre ein Quartant von Mutor de la Rubaudière »Ueber die Teufel von Jauvert und die Kobolde der Bièvre.« Letzterer Schmöker interessirte ihn um so mehr, als sein Garten in alten Zeiten ein beliebter Tummelplatz der Kobolde gewesen war. Die letzten Strahlen der Sonne durchleuchteten nur noch die höher gelegenen Luftschichten, während es unten schon dunkelte. Beim Lesen blickte Vater Mabeuf ab und zu über sein Buch hinweg nach seinen Pflanzen hin, besonders nach einer wundervollen Alpenrose, an der er seine größte Freude hatte. Vier sonnige, windige Tage waren hingegangen, ohne einen Tropfen Regen; die Stengel neigten sich, die Knospen hingen schlaff herab, die Blätter welkten; alles dürstete nach Wasser, namentlich die Alpenrose. Vater Mabeuf war ein Mann, der die Pflanzen für beseelt hielt, und ihn jammerten seine Pfleglinge. Er war übermüdet von seiner Tagesarbeit im Jardin des Plantes, stand aber dennoch auf, legte seine Bücher hin und wankte mit krummem Rücken zu dem Brunnen hin; als er aber die Kette gefaßt hatte, konnte er sie nicht einmal stark genug ziehen, um sie loszuhaken. Da wandte er sich und sandte einen tiefbekümmerten Blick zum sternenklaren Himmel empor.

»Ueberall Sterne!« seufzte der alte Mann: »nirgends das geringste Wölkchen!«

Und er senkte den Kopf auf die Brust herab.

Dann blickte er wieder zum Himmel empor und murmelte:

»Herr, erbarme Dich! Nur ein wenig Thau!«

Abermals versuchte er die Kette loszumachen und abermals mißlang der Versuch.

»Vater Mabeuf!« rief plötzlich Jemand. »Wollen Sie, daß ich Ihren Garten begieße?«

Zugleich vernahm er ein Geräusch, als wenn ein Reh durch die Hecke brechen wollte und aus dem Gestrüpp trat eine lange weibliche Gestalt, die in dem Dämmerlicht etwas Gespensterhaftes hatte. Sie trat vor ihn hin und sah ihn keck an.

Bevor Vater Mabeuf, der sehr schreckhaft war und leicht aus der Fassung kam, Zeit fand zu antworten, hatte die Gestalt, deren Bewegungen in der Dunkelheit absonderlich heftig aussahen, die Kette losgehakt, den Eimer hinuntergelassen und wieder heraufgezogen, die Gießkanne gefüllt und nun sah der Alte der Erscheinung zu, die mit bloßen Füßen und in einem zerlumpten Unterrock zwischen den Beeten hin und her lief und Leben um sich spendete. Das Geräusch des Wassers, das auf die Pflanzen niederregnete, versetzte Vater Mabeuf in Entzücken. Jetzt, dachte er, müßte die Alpenrose das höchste Glück empfinden.

Als der erste Eimer leer geworden, füllte ihn das Mädchen ein zweites, und dann noch zum dritten Mal. So bewässerte sie den ganzen Garten. Während sie so hin und her eilte, sah sie in dem Abenddunkel, mit ihren langen eckigen Armen und ihrem Umschlagetuch, fast einer großen Fledermaus ähnlich.

Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, trat Vater Mabeuf mit Thränen in den Augen auf sie zu und legte ihr seine Hand auf die Stirn.

»Gott wird Sie segnen. Sie sind ein Engel, denn Sie pflegen Blumen.«

»Denk nicht daran! Ich bin ein Satanskind, aber das ist mir egal.«

Ohne auf die Antwort zu hören, fuhr der Greis fort:

»Wie schade, daß ich so unglücklich, so arm bin und nichts für Sie thun kann!«

»Doch, Sie können mir einen Gefallen thun!«

»Was für einen?«

»Mir sagen, wo Herr Marius wohnt.«

Der Alte verstand sie nicht.

»Was für ein Herr Marius?«

Er hob seine glanzlosen Augen empor und schien etwas Entschwundenes zu suchen.

»Ein junger Mann, der Sie früher oft besucht hat.«

Mittlerweile hatte Mabeuf in seinem Gedächtniß herumgewühlt.

»Ach richtig, ich weiß, wen Sie meinen. Warten Sie! Herr Marius . . . der Baron Marius Pontmercy . . . Natürlich . . . Er wohnt oder er wohnt nicht mehr . . . Ja, ich weiß wirklich nicht . . .«

Während seiner Rede hatte er sich niedergebeugt, um einen Zweig der Alpenrose richtig zu legen, und fuhr dabei fort:

»Halt, jetzt besinne ich mich. Er kommt oft den Boulevard entlang und geht in der Richtung der Glacière. Rue Croulebarbe. Das Feld der Lerche. Da gehen Sie hin. Da werden Sie ihm bald begegnen.«

Als Mabeuf sich aufrichtete, war Niemand mehr zu sehen. Das junge Mädchen war verschwunden.

Er fürchtete sich ein wenig.

»Wahrhaftig! Wäre mein Garten nicht begossen, so würde ich glauben, ein Geist wäre hier gewesen.«

Eine Stunde später, als er in seinem Bett lag, dachte er wieder an die Erscheinung und im Begriff einzudämmern, als seine Gedanken, wie der Vogel der Fabel, der sich in einen Fisch verwandelt, um über das Meer zu schwimmen, ihre bestimmten Formen verloren und die Verschwommenheit des Traumes annahmen, um im Schlaf weiter leben und weben zu können, dachte er verworren bei sich:

»Das hat wirklich Aehnlichkeit mit dem, was La Rubandière erzählt. Ob es ein Kobold war?«

IV.
Eponine und Marius

Einige Tage nach dem Besuch des »Geistes« bei Vater Mabeuf, an einem Montag, wo Marius sich von Courfeyrac fünf Franken für Thénardier zu borgen pflegte, hatte er wieder das Geld in seine Tasche gesteckt und beschloß, ehe er es nach dem Gefängniß brachte, ein wenig spazieren zu gehen, in der Hoffnung, daß er nachher würde besser arbeiten können. So ging es nämlich immer. Sobald er des Morgens aufgestanden war, setzte er sich hin und legte ein Buch nebst einem Bogen Papier vor sich hin, um eine Uebersetzungsarbeit zu machen. Zu der Zeit war es das berühmte Gezänk zwischen Gans und Savigny, das er ins Französische zu übertragen hatte. Er nahm also den Savigny, nahm den Gans vor, las vier Zeilen, versuchte eine zu schreiben, brachte aber nichts zu Stande, weil sein Geist Allotria trieb, und stand bald vom Stuhl auf.

»Ich will erst ausgehen, damit ich in die richtige Stimmung komme«, sagte er und ging nach dem Feld der Lerche.

Dort dachte er mehr als je an die Allotria und weniger an Gans und Savigny.

Nach Hause zurückgekehrt versuchte er seine Arbeit wieder aufzunehmen und brachte es nicht zu Wege. Keine Möglichkeit in seinem Hirn die zerrissenen Fäden zu verknüpfen! Dann sagte er: »Morgen gehe ich nicht aus. Das hindert mich am Arbeiten,« und so – ging er jeden Tag aus.

Er wohnte mehr auf dem Felde der Lerche als bei Courfeyrac. Seine wirkliche Adresse lautete: Boulevard de la Santé, der siebente Baum hinter der Rue Croulebarbe.

An jenem Morgen ging er aber von dem siebenten Baum weg und setzte sich auf die Einfassungsmauer des Flüßchens. Heiterer Sonnenschein durchfluthete das frische Laub der Bäume.

Er dachte an »sie«. Aber er hatte keine Freude an seiner Träumerei. Er machte sich Vorwürfe und empfand es schmerzlich, daß die Trägheit mehr und mehr Gewalt über ihn bekam und daß die Nacht des Elends um ihn herum zunahm und ihn keine Hoffnung mehr sehen ließ.

Trotzdem er aber in diesem Gemüthszustand nicht mehr fähig war, seine Gedanken in die Form eines klaren Selbstgesprächs zu bringen und sein Leid mit dem nöthigen Nachdruck zu empfinden, gelangten doch die Eindrücke der Außenwelt in sein Inneres. Er hörte hinter und vor sich die Waschfrauen mit ihren Bläueln auf die Wäsche klopfen und über sich die Vögel zwitschern. Einerseits der Lärm der geflügelten Freiheit, der Sorglosigkeit; andererseits der Lärm der Arbeit. Und zwar war es – was ihn tiefsinnig stimmte und ihn fast zum Nachdenken veranlaßte – fröhlicher Lärm.

Plötzlich hörte er mitten in seiner stumpfen Niedergeschlagenheit eine wohl bekannte Stimme:

»Da ist er ja!«

Er sah auf und erkannte die Unglückliche, die eines Morgens zu ihm gekommen war, die älteste von Thénardiers Töchtern, Eponine; denn er wußte jetzt, wie sie hieß. Merkwürdiger Weise sah sie ärmer und hübscher aus, zwei Veränderungen, die man ihr nicht zugetraut hätte. Sie ging barfuß und in Lumpen wie damals, wo sie so dreist in Marius Zimmer gekommen war; nur waren die Lumpen jetzt zwei Monate älter, und noch erbärmlicher anzusehen, die Löcher in den Kleidern größer. Die Stimme war noch eben so heiser, die Stirn noch eben so gefurcht, der Blick eben so keck und unstät. Aber hinzugekommen war jene Verschüchterung und Aengstlichkeit, die Gefängnißhaft auf dem Gesicht zu hinterlassen pflegt.

In ihren Haaren staken einige Stroh- und Heuhalme, nicht wie Ophelia, die, von Hamlet's Wahnsinn angesteckt, gleichfalls den Verstand verlor, sondern weil sie auf einem Stallboden genächtigt hatte.

Und trotz alle dem war sie schön. Solch eine Kraft hat die Jugend, daß sie sogar gegen die Einflüsse des Elends aufzukommen vermag!

Währenddem blieb sie vor Marius stehen, mit einem Zug der Freude in dem bleichen Gesicht, der einem Lächeln ähnlich sah.

Es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder Worte finden konnte.

»Endlich finde ich Sie! Vater Mabeuf hatte Recht. Nach diesem Boulevard muß man kommen, wenn man Sie sprechen will. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie gesucht habe! Uebrigens bin ich im Gefängniß gewesen. Vierzehn Tage lang. Sie haben mich laufen lassen, weil sie mir nichts nachweisen konnten und weil ich noch nicht das zurechnungsfähige Alter habe. Es fehlten noch zwei Monate daran. Nein, wie ich Sie gesucht habe! Seit sechs Wochen! Sie wohnen also nicht mehr da?«

»Nein,« antwortete Marius.

»O ich begreife. Von wegen der Geschichte. Warum tragen Sie denn solch einen alten Hut? Ein junger Mann wie Sie muß sich gut kleiden. Wissen Sie, Herr Marius, Vater Mabeuf nennt Sie Baron Marius von ich weiß nicht mehr was. Nicht wahr, Sie sind doch nicht Baron? Barone – das sind doch ganz alte Kerle, die gehen in den Luxemburger Garten, setzen sich in die Sonne und lesen da eine großmächtige Zeitung. Ich habe mal einen Brief zu einem Baron hintragen müssen, das war so Einer. Der hatte über hundert Jahre auf dem Rücken. Sagen Sie mal, wo wohnen Sie denn jetzt?«

Marius antwortete nicht.

»O, Ihr Hemde ist entzwei. Das muß ich Ihnen mal ausbessern.«

Während sie so redete, hatte sich allmählich ein Zug tiefer Wehmuth auf ihr Gesicht gelegt und jetzt fragte sie plötzlich:

»Sie scheinen Sich aber gar nicht zu freuen, daß ich gekommen bin?«

Marius schwieg und sie selber beobachtete einen Augenblick Stillschweigen. Da aber rief sie plötzlich aus:

»Wenn ich wollte, könnte ich Sie schon zwingen, Sich zu freuen!«

»Wie so?« fragte Marius. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sehen Sie wohl! Früher sagten Sie Du zu mir.«

»Gut. Was willst Du damit sagen?«

Sie biß sich auf die Lippe und zögerte eine Weile, als hätte sie in ihrem Innern einen Kampf zu bestehn. Endlich, als sie ihre Bedenken überwunden zu haben schien, fuhr sie fort:

»Ach was! Sie sehen aus, als wenn Sie Kummer hätten, und ich will, daß Sie Sich freuen. Versprechen Sie mir, daß Sie vergnügt sein werden. Sie sollen zu mir sagen: Nun bin ich glücklich! Armer Herr Marius! Sie erinnern Sich aber doch, daß Sie mir alles zu geben versprachen, was ich verlangen würde . . .«

»Ja gewiß! So rede doch!«

Sie sah Marius in das Weiße der Augen und sagte:

»Ich weiß die Adresse.«

Marius entfärbte sich. Alles Blut strömte nach seinem Herzen.

»Welche Adresse?«

»Die Adresse, nach der Sie mich gefragt haben, die Adresse . . . des Fräuleins.«

Als sie die letzteren Worte hervorgestoßen hatte, seufzte sie tief auf.

Marius sprang in die Höhe und ergriff außer sich vor Freude ihre Hand.

»Führe mich hin! Gleich! Wie heißt sie? Ich gebe Dir alles, was Du verlangst! Wo wohnt sie?«

»Kommen Sie mit mir. Die Straße und Nummer kenne ich nicht ordentlich; es ist sehr weit von hier. Aber ich kenne das Haus und da will ich Sie hinführen.«

Sie zog ihre Hand aus der seinigen.

»O wie Sie Sich freuen!« sagte sie in einem Tone, der jedem Andern das Herz zusammengeschnürt hätte, von dem wonneberauschten Marius aber nicht beachtet wurde.

Plötzlich faßte er mit ängstlicher Hast Eponine beim Arm und rief:

»Schwöre mir. . . .«

»Schwören soll ich?« Und sie lachte.

»Dein Vater! Versprich mir, Eponine, schwöre mir, daß Du die Adresse nicht Deinem Vater sagen wirst!«

Sie wandte sich höchlich erstaunt zu ihm hin.

»Eponine! Woher wissen Sie, daß ich Eponine heiße?«

»Versprich mir, was ich Dir sage!«

Aber sie schien nicht hinzuhören.

»Das ist hübsch, daß Sie mich Eponine genannt haben!«

Jetzt packte Marius sie bei den Armen.

»Um des Himmels willen, so antworte mir doch. Höre hin auf das, was ich Dir sage. Schwöre mir, daß Du nicht die Adresse Deinem Vater sagen wirst.«

»Meinem Vater? Nun ja doch, meinem Vater! Seien Sie doch ohne Sorge. Der sitzt in Nummer Sicher. Was ich wohl nach meinem Vater frage!«

»Aber warum willst Du's mir denn nicht versprechen?«

»So lassen Sie mich doch los!« sagt sie unter lautem Gelächter. »Wie Sie mich herumhudeln! Ja gewiß, ich verspreche, ich schwöre es Ihnen! Mir kommt's ja nicht darauf an. Ich werde die Adresse meinem Vater nicht sagen. So! Sind Sie nun zufrieden?«

»Ueberhaupt Niemandem?«

»Niemandem.«

»Nun, dann führe mich hin.«

»Gleich.«

»Auf der Stelle.«

»Kommen Sie. – Wie er sich freut!«

Als sie einige Schritte gegangen war, blieb sie stehen und sagte:

»Sie gehen zu nahe hinter mir her, Herr Marius. Bleiben Sie weiter zurück und lassen Sie sich's nicht merken, daß Sie mir folgen. Ein anständiger junger Mann wie Sie kann sich nicht mit so Einer, wie ich bin, auf der Straße sehen lassen.«

Nachdem sie zehn Schritte weiter gegangen war, blieb sie wieder stehen und sagte zu Marius, der zu ihr herankam, seitwärts, ohne sich nach ihm hinzuwenden:

»Sie vergessen doch nicht, daß Sie mir etwas versprochen haben?«

Marius griff in die Tasche, holte alles Geld, das er auf der Welt sein eigen nannte, nämlich die für Thénardier bestimmten fünf Franken, heraus und drückte sie Eponine in die Hand.

Sie aber breitete die Finger auseinander und ließ das Geldstück auf die Erde fallen.

»Geld will ich nicht von Ihnen,« sagte sie mit düstrer Miene.


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