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Welches sind die Vorbedingungen eines Volksaufruhrs? Allerlei und nichts. Eine allmählich frei gewordene Elektricität, ein plötzlich entladener Funke, eine zufällig aufgetretene Kraft, ein vorüberbrausender Sturm. Der Sturm begegnet feurigen Rednern, schwärmerischen Träumern, heißen Leidenschaften, zur Wuth gereiztem Elend und rafft dies Alles mit sich fort.
Wohin?
Wohin der Zufall will. Durch den Staat, die Gesetze, das Wohlleben und den Uebermuth der Glücklichen hindurch.
Gekränkte Ueberzeugungen, verbitterter Enthusiasmus, Entrüstung, zurückgedrängte Kriegslust, exaltirter jugendlicher Muth, hochherzige Verblendung; Neugierde, Veränderungssucht, Verlangen nach Ungewöhnlichem, die Empfindung, vermöge deren man gern die Ankündigung eines neuen Schauspiels liest und den Pfiff des Maschinisten im Theater hört; Haß, der ein Opfer sucht, Groll, Enttäuschungen; jegliche Eitelkeit, die das Schicksal für ungerecht hält; utopistische Grübeleien; Ehrgeiz, der mit unüberwindlichen Hindernissen zu kämpfen hat; Verzweiflung, die den Umsturz des Bestehenden zu ihrer Rettung zu benutzen hofft, endlich ganz unten die niedrigsten Volksschichten, die wie der in der Tiefe der Erde lagernde Torf einen leicht entzündbaren Brennstoff abgeben: Dies sind die Bestandtheile eines Volksaufruhrs.
Das Größte und Niedrigste; die da außerhalb der Gesellschaft umherirren und auf eine Gelegenheit lauern, Bummler, Obdachlose, Strolche; die des Nachts mitten in einem Häusermeer mit keinem andern Dach über ihrem Haupte, als den kalten Wolken des Himmels schlafen, die ihr tägliches Brod vom Zufall, nicht von ihrer Arbeit, erwarten, die Unbekannten des Elends und des Nichts, die mit bloßen Armen und mit bloßen Füßen gehen; alle diese nehmen naturgemäß Theil an jeder Revolution.
Wessen Seele Unwillen hegt gegen irgend eine staatliche oder gesellschaftliche Einrichtung, gegen irgend eine Fügung des Schicksals, der ist reif für eine Revolution, der erbebt vor Ungeduld, wenn er sie heranbrausen hört, der wird fortgerissen, wenn ihr Hauch sie berührt.
Der Wasserhose vergleichbar, entsteht ein Aufruhr in der sozialen Atmosphäre unter bestimmten Temperaturbedingungen, steigt hoch empor, zerstört, entwurzelt, wirft um und reißt alles mit sich fort, Großes und Gemeines, Starkes und Schwaches.
Wehe denen, die er mit sich entführt und die er anbläst! Er zerschmettert die Einen an den Andern.
Er theilt denen, die er ergreift, eine außergewöhnliche Kraft mit. Er erfüllt den ersten Besten mit der Macht der Ereignisse, verwandelt Alles in eine Waffe. Er macht aus einem Stein eine Kanonenkugel und aus einem Lastträger einen General. Wollte man gewissen Orakeln der heimtückischen Staatskunst Glauben schenken, so wäre ein Bischen Aufruhr von Zeit zu Zeit für die jeweiligen Machthaber etwas Wünschenswertes. Die Theorie der Herren lautet: »Eine Revolte befestigt eine Regierung, wenn sie nicht stark genug ist, zu stürzen; erprobt die Armee; einigt die höhern und besitzenden Stände; spannt die Muskeln der Polizei und ist ein Kraftmesser der gesellschaftlichen Organisation. Nach einem Aufruhr ist der Regierung wohler, ebenso wie einem kranken Körper nach einer Massage.«
Volksaufstände wurden ehedem auch noch unter andern Gesichtspunkten betrachtet.
Es existirt für jedes eine Theorie, die sich für »den gesunden Menschenverstand, die gesunde Vernunft« ausgiebt. Sie besteht in einer Vermittlung zwischen dem Wahren und dem Falschen, einer herablassenden Erklärung, Vermahnung, Entschuldigung, die sich, weil sie aus Tadel und Nachsicht gemischt ist, für die Weisheit hält und nur Pedanterie ist. Hierauf fußt eine ganze Schule von Staatsmännern, die das Regierungssystem der sogenannten richtigen Mitte vertreten. Sie bilden zwischen dem kalten und dem heißen Wasser die Partei des lauen Wassers. Diese Partei mit ihrer falschen Gründlichkeit, die, ohne auf die Ursachen zurückzugehen, nur die Wirkungen secirt, kanzelt von der Höhe ihrer Halbwissenschaft die Volksaufstände ab.
Wollte man diesen Politikern glauben, so »trübte« der Aufruhr, der sich mit Fortschrittsbestrebungen des Jahres 1830 verband, die Reinheit ihrer Resultate. Die Julirevolution war ein Vorstoß der Volkskraft, der die Atmosphäre rasch reinigte. Die Volksaufstände bedeckten den politischen Himmel wieder mit düsterem Gewölk. Sie riefen Zwietracht da hervor, wo soeben noch die vollständigste Einmüthigkeit geherrscht hatte. Bei der Julirevolution gab es, wie bei jedem ruckweisen Fortschritt, geheime Brüche, die bei den nachfolgenden Aufständen sichtbar wurden. Man konnte nun sagen: »Aha! Da ist etwas entzwei gegangen!« – Nach der Julirevolution fühlte man sich befreit, nach den Volksaufständen von einer Katastrophe bedroht.
»Jeder Aufstand bewirkt, daß die Läden geschlossen, die Staatspapiere entwertet, die Börse in Schrecken versetzt, Handel und Wandel zum Stillstand gebracht, die Fallissements beschleunigt werden. Der Geldverkehr stockt, das Privatkapital hält sich scheu zurück, die Arbeitslöhne sinken; überall herrscht die Furcht und verursacht Verluste. Man hat berechnet, daß ein Volksaufruhr dem Lande am ersten Tage zwanzig, am zweiten vierzig, am dritten sechzig Millionen Franken kostet. Ein dreitägiger Aufstand kommt, wenn man nur das finanzielle Ergebniß ins Auge faßt, der Vernichtung einer Flotte von sechzig Linienschiffen gleich.
»Allerdings hatten, unter dem historischen Gesichtspunkt betrachtet, die Volksaufstände ihre eigenartige Schönheit; der Krieg in den Straßen einer Stadt ist nicht minder großartig und erhebend als die Guerillakämpfe in Wald und Busch. Die Volksaufstände beleuchteten mit rothem, aber herrlichem Licht alle Eigenarten des Pariser Charakters, seine Hochsinnigkeit, seine Opferwilligkeit, seinen Witz Angesichts der Gefahr, die Tapferkeit, die sich bei den Studenten als vereinbar mit der Intelligenz erwies, die Unerschütterlichkeit der Nationalgarde, Lager von Krämern, Festungen von halbwüchsigen Jungen vertheidigt, Todesverachtung bei Spaziergängern. Die studentischen Fakultäten und die Legionen maßen ihre Kraft an einander. Im Großen und Ganzen bestand zwischen den Kämpfern kein andrer Unterschied, als der des Alters; dieselbe Rasse, dieselben stoischen Männer, die in der Jugend für ihre Ideen, in reiferen Jahren für ihre Familien kämpfen. Die Armee, die den Bürgerkrieg nie liebt, stellte die Besonnenheit der Kühnheit entgegen. Die Aufstände erzogen, indem sie die Unerschrockenheit des Volkes in helles Licht stellten, auch das Bürgerthum zu kriegerischem Muthe.
»Diese Behauptungen kann man gelten lassen. Allein ist das Alles das vergossene Blut wert? Rechnet dazu die Verdüsterung der Zukunft, die Hemmung des Fortschritts, die Bestürzung der Besten, die Verzweiflung der ehrlichen Liberalen, die Schadenfreude des auswärtigen Absolutismus über die Wunden, die die Revolution sich selber geschlagen, der Triumph der Besiegten, daß sie die Greuel richtig vorausgeahnt hat. Rechnet hinzu, daß Paris vielleicht gewonnen, aber Frankreich sicherlich verloren hat. Dazu – denn es muß alles erwähnt werden – die Ausartungen Derer, die für die Ordnung und Derer, die für die Freiheit kämpften, die Gemetzel, durch die beide Theile sich entehrten, und ihr werdet finden, daß die Volksaufstände dem Lande verderblich gewesen sind.«
So argumentirt jene ungefähre Weisheit, mit der sich das Bürgerthum, jenes ungefähre Volk, so gern begnügt.
Was uns betrifft, so verwerfen wir das Wort Aufruhr, weil es einen zu weiten Begriff ausdrückte, und folglich zu bequem ist. Zwischen den verschiedenen Volkserhebungen machen wir einen Unterschied. Wir fragen uns nicht, ob ein Volksaufstand eben so viel kostet, wie eine Schlacht. Warum überhaupt eine Schlacht? Hier drängt sich das Problem des Krieges vor. Ist der Krieg weniger eine Geißel als der Aufruhr eine öffentliche Katastrophe ist? Und sind wirklich alle Aufstände verderbliche Katastrophen? Und gesetzt auch, die Erstürmung der Bastille hätte hundert zwanzig Millionen gekostet? Die Zurückführung Philipps V. auf den spanischen Thron hat Frankreich zwei Milliarden gekostet. Selbst bei Gleichheit der Unkosten würden wir den Volksaufstand, bei dem die Bastille erstürmt wurde, vorziehen. Uebrigens wollen wir aber von dergleichen Ziffern nichts wissen; sie sehen wie Argumente aus und sind doch nur Worte. Ein gegebener Volksaufstand darf nur für sich selbst betrachtet werden. Die oben angeführten Einwände der Doktrinäre berühren nur die Wirkungen und wir wollen die Ursachen kennen lernen.
Wir wollen den Dingen auf den Grund gehen.
Wir unterscheiden zwischen dem Aufruhr und dem Aufstand; es sind zwei Zornausbrüche, von denen der eine im Unrecht, der andre im Recht ist. In den demokratisch regierten Staaten, den einzigen, die auf der Gerechtigkeit fußen, geschieht es bisweilen, daß eine Minderheit sich Uebergriffe erlaubt; dann erhebt sich die Gesamtheit und es kann behufs der Wiederherstellung des Rechtszustandes nöthig werden, daß sie zu den Waffen greift. In allen Fragen, die der Kollektivherrschaft unterstehen, ist der Krieg des Ganzen gegen die Minderheit ein Aufstand; der Angriff der Minderheit gegen das Ganze ein Aufruhr. Je nachdem in dem Tuilerienpalast der König wohnt oder der Konvent tagt, ist ein Sturm auf denselben berechtigt oder nicht. Dieselbe Kanone hatte dem Volke gegenüber Unrecht, als sie Ludwig XVI. am 10. August gegen das Volk und Recht, als sie Napoleon am 14. Vendémiaire gegen die Sektionen der Nationalgarde gebrauchte. Dem Anschein nach handelte es sich dabei um dasselbe, im Grunde aber um durchaus Verschiedenes. Die Schweizer vertheidigten das Unrecht, Buonaparte die Wahrheit. Was das allgemeine Stimmrecht im Besitze seiner Freiheit und Oberherrschaft beschlossen hat, darf ein Straßentumult nicht aufheben. Ebenso hinsichtlich solcher Fragen, die auf die bloße Civilisation Bezug haben. Der Instinkt der Massen, der gestern sehr klarsehend war, kann heute irre geleitet sein. Derselbe Wuthausbruch ist Terray gegenüber berechtigt und gegen Turyot unsinnig. Zerstörungen von Maschinen, Plünderungen von Waarenniederlagen, Demolirungen von Docks, Ungerechtigkeiten des Volkes gegen den Fortschritt, Ramus Ermordung durch die Studenten, Rousseau's Vertreibung aus der Schweiz sind Werke des Aufruhrs. Israels Widerspenstigkeit gegen Moses, Athens Frevel an Phocion, Roms Auflehnung gegen Scipio waren Akte des Aufruhrs; die Erstürmung der Bastille durch die Pariser ein Aufstand. Die Empörung der macedonischen Soldaten gegen Alexander den Großen, der Matrosen gegen Christoph Columbus waren ebenfalls Revolten; frevelhafte Revolten, Warum? Weil Alexander in Asien dasselbe leistete, was Columbus mit dem Kompas in Bezug auf Amerika: Er entdeckte einen Erdtheil. Diese Beschenkungen der Civilisation mit neuen Welten waren so große Wohlthaten, daß jeder Widerstand dagegen ein Verbrechen ist. Bisweilen wird das Volk an sich selbst untreu; ein Volkshaufe übt wohl Verrath am Volk. Giebt es z. B. etwas Sonderbareres als den langen und blutigen Protest der Salzschmuggler, eine berechtigte chronische Revolte, die im entscheidenden Augenblick, am Tage der Erlösung, in dem Augenblick, wo das Volk siegte, sich für den Thron erklärt und sich aus einem gerechten Aufstande gegen zu hohe Besteuerung, in einen Aufruhr zu Gunsten der Unterdrücker verwandelt? Welch ein grausiges Meisterstück der Unwissenheit! Der Salzschmuggler entrinnt dem königlichen Galgen und schmückt sich, während der Strick ihm noch am Halse hängt, mit der weißen Kokarde. Statt »Nieder mit der Salzsteuer!« schreit er: »Es lebe der König!« – Die Helden der Bartholomäusnacht die Septembermörder, diejenigen, die Coligny, die Madame de Lambelle, die den Marschall Brune in Avignon umbrachten, die Parteien, die gegen die französische Revolution waren, die Gesellschaft Jesu, die nach der Schreckensherrschaft eine Fehme gegen die Republikaner ausübte, waren sämmtlich Aufrührer. Die Empörung der Vendéer gegen die republikanische Regierung war ein großer katholischer Aufruhr. Wenn die Massen sich in Bewegung setzen, marschirt das Recht nicht immer mit ihnen; es giebt auch eine verrückte Wuth, wie es schadhafte Glocken giebt; nicht jede Sturmglocke klingt richtig. Der Ansturm der Leidenschaften und Unwissenheit ist etwas Andres, als der Gang des Fortschritts. Erheben dürft ihr Euch, aber nur um größer zu werden. Zeigt mir, wohin euer Weg geht. Einen richtigen Aufstand erkennt man daran, daß er vorwärts strebt. Jede andre Erhebung taugt nichts. Jeder gewaltsame Schritt rückwärts ist ein Aufruhr; zurückgehen heißt sich an dem Menschengeschlecht versündigen. Ein Aufstand ist ein Zornausbruch der Wahrheit; den Pflastersteinen, die ein Volksaufstand zu einer Barrikade zusammenhäuft, entspringt der Funke des Rechts; dem Aufruhr überlassen dieselben Steine nur ihren Koth. Danton, im Kampfe gegen Ludwig XVI. war der Führer eines Aufstandes; Hébert gegen Danton ein Aufrührer.
Daher kommt es, daß, während der Aufstand, wie Lafayette gesagt hat, in einem gegebenen Fall, die heiligste Pflicht, ein Aufruhr dagegen ein verhängnisvoller Frevel sein kann.
Ein andrer Unterschied betrifft den Hitzegrad: Der Aufstand gleicht oft einem Vulkan, während ein Aufruhr meist nur ein Strohfeuer ist.
Wie wir schon sagten, geht eine Revolte bisweilen von den zeitweiligen Machthabern aus. Der Minister Polignac, der 1830 die Preßfreiheit aufhob, verfuhr als Aufrührer; Camille Desmoulins gehörte zur Regierung.
Zuweilen ist ein Aufstand ein Wiederaufstehen.
Da die Lösung aller Rechtsfragen durch das allgemeine Stimmrecht eine durchaus moderne Thatsache und die ganze Weltgeschichte vor dieser Thatsache seit eintausend Jahren eine fortwährende Rechtsverletzung und Peinigung der Völker ist, so bringt jede geschichtliche Periode den Protest mit sich, der für sie der einzig richtige war. Unter den römischen Kaisern waren Aufstände nicht möglich; dafür gab es aber einen Juvenal.
Statt der Gracchen ein facit indignatio.
Unter den Cäsaren wurden dem Fürsten mißliebige Leute bis nach Syene verbannt; dafür erstand aber auch gegen die Tyrannei ein Mann, der die Annales geschrieben hat.
Wir sprechen weiter nicht von dem Gewaltigen, der auf der Insel Patmos in der Verbannung weilte. Auch er schleudert im Namen des Ideals der wirklichen Welt einen Protest entgegen, macht aus Visionen großartige Satiren und beleuchtet Rom, das Niniweh, Babylon und Sodom seiner Zeit, mit dem grellen Licht seiner Offenbarung.
Der Evangelist Johannes auf seinem Felsen ist wie die Sphinx auf ihrem Postament räthselhaft, schwer zu verstehen; aber der Verfasser der Annalen schrieb lateinisch; besser gesagt, römisch.
Da die Tyrannen starke Farben aufzutragen lieben, so müssen sie auch mit starken Farben gemalt werden. Wollte der Kupferstecher mit der Radiernadel allein arbeiten, so würde der Stich zu matt ausfallen; er muß starke Stoffe in die Vertiefungen gießen, So bedarf es auch im Kampfe gegen die Tyrannen einer gedrängten Schreibweise.
Die Despoten sind zum Theil schuld daran, daß es Denker giebt. Unterdrückte Rede, gefährliche Rede. Der Schriftsteller verdoppelt und verdreifacht die Energie seines Stils, wenn von einem Gebieter dem Volke Stillschweigen auferlegt wird. Es entsteht aus diesem Schweigen ein gewisser, von Räthseln strotzender Reichthum an Gedanken, die beständig umgeschmolzen, endlich zu unvergänglich festen Gebilden erstarren. Der Druck der geschichtlich gegebenem Thatsachen hat zur Folge, daß der Geschichtsschreiber seine Sprache zusammenpreßt. Die granitne Festigkeit der taciteischen Prosa ist weiter nichts, als das Resultat einer von Tyrannen ausgeübten Stampfung.
Die Tyrannei zwingt den Schriftsteller zu Verkürzungen, die mehr Kraft konzentriren. Die Pfeile der ciceronianischen Periode, die schon einem Verres gegenüber nicht mehr wirksam genug gewesen, wären von einem Caligula abgeprallt. Tacitus machte weniger Worte und schlug dafür tüchtiger zu.
Die Rechtschaffenheit eines hochsinnigen Mannes, der all sein Denken auf die Gerechtigkeit und Wahrheit konzentrirt, schmiedet gefährliche Waffen.
Es verdient, beiläufig gesagt, beachtet zu werden, daß Tacitus historisch nicht Cäsar übergelagert ist: Ihm war die Brandmarkung des tyrannischen Tiberius vorbehalten, Cäsar und Tacitus sind zwei aufeinander folgende Erscheinungen; ihr Zusammentreffen scheint der unerforschliche Rathschluß Dessen, der da anordnet, wann die Schauspieler der Weltbühne auftreten und abgehen sollen, vermieden zu haben. Cäsar war ein großer Mann, Tacitus desgleichen; Gott verschonte deshalb Beide, und ließ sie nicht aufeinander stoßen. Der große Geschichtsschreiber hätte als Vertheidiger der Gerechtigkeit zu heftig auf Cäsar losgeschlagen, über das rechte Maß hinausgehen können. Dies wollte Gott nicht. Die großen Kriege, die er in Afrika und Spanien führte, die Ausrottung der cilicischen Piraten, die Einführung der Civilisation in Gallien, Britannien, Germanien sind Ruhmesthaten, die für den Uebergang über den Rubicon entschädigen. Es hat hier eine zarte Rücksichtnahme der göttlichen Gerechtigkeit stattgefunden, indem sie Bedenken trug, den furchtbaren Geschichtsschreiber gegen den ruhmreichen Usurpator loszulassen, den großen Tacitus dem großen Cäsar erließ und dem Genie mildernde Umstände zubilligte.
Allerdings, Despotismus bleibt Despotismus, selbst wenn der Träger desselben ein Genie ist. Moralische Verderbniß herrscht auch, wenn der Tyrann ein großer Mann ist; aber sie nimmt eine noch viel widerwärtigere Gestalt an unter dem Szepter eines Gemeinen. Ein solcher Mensch vollbringt keine Thaten, deren Ruhm dem Volke Ersatz gewährt für die ihm angethane Schmach und die großen Strafrichter Tacitus und Juvenal stiften mehr Nutzen, wenn sie Tyrannen züchtigen, die nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen im Stande sind.
In Rom sah es unter Vitellius schlimmer aus, als unter Sulla. Unter Claudius und Domitian erreichte die Niedrigkeit der Gesinnung einen Grad, der mit der Schändlichkeit des Herrschers im Einklang stand. Die Gemeinheit der Sklaven ist ein direktes Produkt der Despoten; in ihrem fauligen Gewissen spiegelt sich das Bild des Herrn ab; die Behörden sind erbärmlich feige, kleinlich, engherzig. So war es unter Caracalla, wie auch unter Commodus und Heliogabal, während uns aus dem von Cäsar eingesetzten Senat nur ein Mistgeruch entgegenweht, der an Adlerhorste erinnert.
Daher das scheinbar zu späte Auftreten des Tacitus und des Juvenal; erst wenn die Beweise zur Hand sind, können sie geordnet werden.
Aber Juvenal und Tacitus, wie Jesajas in den biblischen Zeiten, wie Dante im Mittelalter waren nur Individuen. Aufruhr und Aufstand aber gehen von Gesamtheiten aus, die bald Unrecht, bald Recht haben.
In bei weitem den meisten Fällen entspringt der Aufruhr einer materiellen Thatsache; der Aufstand dagegen ist stets ein moralisches Phänomen. In dieser Hinsicht ist Masaniello ein Beispiel für die erste, Spartacus für die zweite Erscheinung. Dem Aufstand ist ein geistiges Element beigemischt, der Aufruhr entstammt einem Bedürfniß des Körpers, dem Hunger. Der Magen wird ärgerlich, aber freilich, er hat nicht immer Unrecht, der arme Magen. Trotzdem aber ein Aufruhr an unser Mitleid und Gerechtigkeitsgefühl appelliren darf, bleibt er doch immer nur ein Aufruhr. Warum? Weil er zwar seinem Wesen nach berechtigt ist, aber gegen die Form verstößt. Wüthend, obgleich er im Recht ist; gewaltthätig, obgleich stark, schlägt er aufs Gerathewohl zu; geht wie ein blinder Elefant vor sich hin und zermalmt alles, was er auf dem Wege findet; läßt Leichen von Greisen, Frauen und Kindern hinter sich; vergießt, ohne zu wissen, warum, das Blut harmloser, unschuldiger Menschen. Dem Volke Brod verschaffen wollen ist ein verdienstvoller Zweck, aber es ist ein schlechtes Mittel ihn zu erreichen, wenn man das Volk umbringt.
Alle bewaffneten Proteste, auch die gerechtesten, sogar der Angriff auf die Tuilerien am 10. August 1792, die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 beginnen mit derselben Art Unruhen. Ehe die Rechtsfrage formulirt wird, giebt es Tumulte. Im Anfang ist der Aufstand ein Aufruhr, so wie der Strom in seinem obern Laufe ein Bach ist. Gewöhnlich mündet er in den Ozean der Revolution. Zuweilen jedoch, nachdem er herabgeflossen ist von den hohen Bergen, die den moralischen Horizont überragen, der Gerechtigkeit, Weisheit, Vernunft und sein Wasser aus dem reinsten Schnee des Ideals erhalten hat, nachdem er auf einem weiten Wege von Fels zu Fels geeilt, nachdem er des Himmels Bläue in seinen klaren Wellen wiedergespiegelt und triumphirend hunderte von Nebenflüssen aufgenommen, verliert sich ein Aufstand plötzlich in einem bürgerlichen Sumpfe, wie der Rhein im Sande.
Alles dies bezieht sich aber nur auf die Vergangenheit; die Zukunft hat eine andre Gestalt. Das allgemeine Stimmrecht hat die bewundrungswürdige Kraft, daß es den Aufruhr im Keim erstickt und dem Aufstand die Waffen nimmt. Die Beseitigung des Krieges, aller Kriege, der innern sowohl wie der äußern, ist jetzt ein Fortschritt, der nicht ausbleiben kann. Wie das Heute auch beschaffen sein mag, das Morgen gehört dem Frieden.
Aber ob Aufstand oder Aufruhr, und worin sie sich von einander unterscheiden, – es sind Begriffsstörungen, von denen das sogenannte Bürgerthum nichts versteht. Für den Bürger, den Besitzenden ist alles Auflehnung, einfache, bloße Empörung, Widersetzlichkeit des Hundes gegen seinen Herrn, böswillige Bissigkeit, die mit Ankettung und Einsperrung bestraft werden muß. Bis der Hund eines Tages sich zu einem gewaltigen Löwen vergrößert!
Dann schreit der Bürger: »Es lebe das Volk!«
Nach dieser Erörterung fragt es sich: Welches ist die geschichtliche Bedeutung der republikanischen Erhebung im Junimonat des Jahres 1832? Handelte es sich um einen Aufruhr oder einen Aufstand?
Es war ein Aufstand.
Bei der Aufrollung dieses gewaltigen Ereignisses vor den Augen des Lesers könnte es uns passiren, daß wir uns des Wortes Aufruhr bedienten. Es wird dies aber immer nur geschehen, um die Oberfläche der Dinge zu charakterisiren und unter strenger Unterscheidung zwischen der Form, die sich als Aufruhr, und dem Wesen, das sich als Aufstand äußerte.
Die republikanische Erhebung des Jahres 1832 ist bei ihrem raschen Ausbruch und ihrer schaurigen Unterdrückung mit solcher Großartigkeit aufgetreten, daß auch Diejenigen, die in ihr nur einen Aufruhr sehen, nicht ohne Achtung von ihr sprechen. Für diese ist sie gleichsam ein Nachspiel der Julirevolution des Jahres 1830. Aufgeregte Gemüther beruhigen sich nicht sofort. Eine Revolution läßt sich nicht plötzlich abschließen. Wie das vom Sturm aufgewühlte Meer, ehe es zur Ruhe kommt, noch starke Wellen schlägt, so bedarf auch der Bürgerkrieg eines Uebergangs, ehe er gewöhnlichen Zeiten Raum geben kann.
Diese tragische Krisis unsrer Geschichte, die im Gedächtniß der Pariser als »die Aufruhrzeit« bezeichnet wird, bildet sicherlich einen wichtigen Abschnitt in unserm stürmisch bewegten Jahrhundert.
Noch ein Wort, ehe wir unsre Erzählung beginnen.
Die Thatsachen, die wir berichten werden, gehören jener dramatischen und lebendigen Wirklichkeit an, die aus Mangel an Zeit und Raum von der Geschichte vernachlässigt werden. Gerade solche Begebenheiten enthalten aber, wie wir nachdrücklichst betonen müssen, das frisch pulsirende Leben. Die Einzelheiten sind, wie wir wohl schon gesagt haben, so zu sagen, das Laub der Hauptereignisse und verschwimmen vor dem Blick, je mehr sich die Geschichte von ihnen entfernt, Die sogenannte ›Aufruhrzeit‹ ist reich an derartigen Einzelheiten. Die gerichtlichen Ermittelungen haben, aus andern Gründen als die Geschichte, nicht alles aufgehellt und vielleicht auch nicht alles ergründet. Wir werden also neben den bekannten und veröffentlichten Geschehnissen Dinge ans Licht ziehn, die das Publikum nicht in Erfahrung gebracht hat, Thatsachen über die Vergessenheit oder Tod hinweggegangen sind. Die meisten von Denen, die das gewaltige Drama in Scene setzten, sind verschwunden; schon am nächsten Tage schwiegen sie; aber was wir erzählen werden, davon können wir sagen: Wir haben es gesehen. Wir werden einige Namen ändern, denn die Geschichte erzählt und denuncirt nicht: aber wir werden wahre Begebenheiten schildern. In Anbetracht der Natur dieses Buches dürfen wir nur eine Seite der Dinge, nur eine Episode, und noch dazu die sicherlich am wenigsten bekannte der Junischlachten des Jahres 1832 hervorheben; aber wir werden es so einrichten, daß der Leser unter dem Schleier, den wir lüften, die wirkliche Gestalt jenes furchtbaren, politischen Zwischenfalls erkennen kann.
Im Frühling des Jahres 1832 war Paris, obschon seit drei Monaten die Cholera die allgemeine Thatkraft gelähmt und eine dumpfe Kirchhofsruhe in den Gemüthern herbeigeführt hatte, schon lange für eine Erhebung reif. Wie wir schon einmal gesagt haben, gleicht die große Stadt einer Kanone; es genügt ein Funken, wenn sie geladen ist, so geht der Schuß los. Im Juni 1852 gab der Tod des Generals Lamarque den Funken ab.
Lamarque war ein allgemein bekannter und thatkräftiger Mann. Er hatte nacheinander, unter dem Kaiserreich und unter der Restauration, die beiden Arten von Tapferkeit bewiesen, deren die Tüchtigkeit in jenen Zeitperioden bedurfte: Er war auf dem Schlachtfeld und auf der Rednerbühne muthig gewesen. Er besaß eine große Beredtsamkeit, die ihn unwiderstehlich machte. Wie sein Vorgänger Foy verteidigte er, nachdem er das Kommando energisch geführt, nicht minder energisch die Freiheit. Er hatte in der Kammer seinen Sitz zwischen der gemäßigten und der äußersten Linken, war beim Volke beliebt, weil er der Reaktion kühn die Stirn bot und sich für die Zukunft großen Gefahren aussetzte, und bei der Menge angesehen, weil er dem Kaiser gut gedient hatte. Neben den Grafen Gérard und Drouet war er einer der Lieblingsmarschälle Napoleons gewesen und empfand den Wienervertrag von 1815 als eine persönliche Beleidigung. Wellington haßte er gleichfalls direkt, was der Menge gefiel, und betrauerte bis zu seinem Tode, ohne sonderlich die andern Ereignisse dieser siebzehn Jahre zu beachten, den Ausgang der Schlacht bei Waterloo. Noch auf dem Sterbebette drückte er einen Degen, den ihm die Offiziere der Hundert Tage verehrt hatten, an seine Brust. War Napoleon mit dem Wort »Armee« auf der Lippe gestorben, so war Lamarques letztes Wort: »das Vaterland!«
Sein Tod, auf den man vorbereitet war, wurde vom Volke als ein Verlust und von der Regierung als eine Veranlassung zu einer Revolte gefürchtet. Man betrauerte ihn also allgemein und was man vorausgesehen hatte, traf auch ein. Am 4. und am Morgen des 5. Juni, wo Lamarques Begräbniß stattfinden sollte, nahm die Vorstadt Saint-Antoine, an der der Zug vorbei mußte, ein bedenkliches Aussehen an. In diesem stark bevölkerten Straßennetz herrschte große Unruhe. Jeder bewaffnete sich, wie er konnte – Tischler nahmen ihre Bankhalter mit »um Thüren einzurennen.« – Einer machte sich einen Dolch aus einem Haken zurecht, indem er das krumme Stück abbrach und das übrige Ende zuspitzte. – Ein Anderer war so fieberhaft ungeduldig auf »den Angriff«, daß er seit drei Tagen in den Kleidern schlief. Ein Zimmermann, Namens Lombier, begegnete einem Freunde, der ihn fragte, wohin er ginge. »Na, ich habe keine Waffen.« »Was willst Du denn aber?« »Nach der Werft gehen und meinen Zirkel holen.« »Wozu denn das?« »Ja, das weiß ich nicht.« – Ein gewisser Jacqueline, ein rühriger Mann, hielt alle beliebigen Arbeiter an, die vorbeikamen, gab ihnen Geld, Wein und fragte: »Hast Du Arbeit?« »Nein.« »Dann geh zu Filspierre zwischen den Barrieren Montreuil und Charonne; der wird Dir welche nachweisen.« Bei Filspierre fand der Betreffende dann Patronen und Gewehre. – Manche bekannten Häupter der republikanischen Partei liefen zu diesem und Jenem, um ihre Leute auf die Beine zu bringen. – Bei Barthélemy und Cavel unterhielten sich die Trinker mit gewichtigem Ernst »Wo hast Du Dein Pistol?« fragte da wohl Einer den Andern. »Unterm Kittel.« »Und Du?« »Unterm Hemde.« – In der Rue Traverière, vor dem Atelier Roland und in der Cour de la Maison-Brûlée vor der Werkstatt des Werkzeugsverfertigers Bernier standen Leute und unterhielten sich leise. In einer Gruppe fiel hier, als einer der Eifrigsten, ein gewisser Mavot auf, der nie länger als eine Woche bei einem Meister blieb und immer entlassen wurde, »weil man sich jeden Tag mit ihm herumzanken mußte.« Er wurde am nächsten Tage auf der Barrikade der Rue Ménilmontant getötet. Pretot, der gleichfalls bei diesem Aufstand ums Leben kam, unterstützte Mavot und antwortete auf die Frage, was er bezwecke: Den Aufstand. – Andere Arbeiter, die sich an der Ecke der Rue de Bercy versammelt hatten, warteten auf einen gewissen Lemarin, den Revolutionsagenten für die Vorstadt Saint-Marceau. – Losungen wurden beinahe öffentlich ausgegeben.
Am 5. Juni also, einem Tage, wo es bald regnete, bald Sonnenschein gab, bewegte sich der Trauerzug des Generals Lamarque durch Paris, mit allem üblichen, offiziellen Pomp aber mit größerem, militärischen Gefolge, denn gewöhnlich. Zwei Bataillone mit verhüllten Trommeln und gesenkten Gewehren, zehntausend Nationalgardisten mit dem Säbel an der Seite und die Batterien der Nationalgarde begleiteten den Sarg. Der Leichenwagen wurde von jungen Leuten gezogen. Unmittelbar hinter ihm gingen die Offiziere aus dem Invalidendom mit Lorbeerzweigen in den Händen. Dann kam eine zahllose, aufgeregte, merkwürdig bunte Menge: Die Sektionäre der »Freunde des Volkes,« die Studenten der juristischen und der medizinischen Fakultät, politische Flüchtlinge aus aller Herren Länder mit ihren Nationalfahnen, Kinder, die grüne Zweige schwenkten, Steinmetzen und Zimmerleute, die damals gerade streikten, Buchdrucker mit ihren Papiermützen; sie marschirten zu Zweien oder zu Dreien, schwangen fast alle Knüttel oder auch Säbel, ohne Ordnung zu halten und doch von demselben Gedanken beherrscht, bald wirr durcheinander, bald in Kolonnen. Manche Haufen wählten sich Anführer; Einer, der ganz offen ein Paar Pistolen trug, schien eine Musterung über eine kleine Armee abzuhalten, deren Reihen sich vor ihm öffneten. In den Nebenalleen der Boulevards, auf den Bäumen, den Balkons, an den Fenstern, auf den Dächern wimmelte es von Männern, Frauen, Kindern, denen die Furcht auf dem Gesicht geschrieben stand. Eine bewaffnete Menge zog vorüber, eine angsterfüllte Menge schaute zu.
Auch die Regierung verhielt sich beobachtend, die Hand am Griff des Degens. Auf dem Platz Louis XV. standen marschbereit, mit geladenen Gewehren und wohlgefüllten Patronentaschen, vier Schwadronen Karabiniere; im Studentenviertel und bei dem Jardin des Plantes die Municipalgarde, von Straße zu Straße staffelförmig aufgestellt; bei der Halle-aux-Vins eine Schwadron Dragoner, auf dem Grèveplatz eine Hälfte des 12. Regiments und auf dem Bastilleplatz die andere; in der Kaserne des Célestins das 6. Dragonerregiment; auf dem Hof des Louvre eine Menge Artillerie. Die übrigen Truppen waren in den Kasernen konsignirt, abgesehen von den Regimentern, die in der Umgegend von Paris lagen. Im Ganzen hielt die Regierung gegen die kriegslustige Menge vierundzwanzig Tausend Soldaten in der Stadt und dreißig Tausend vor den Thoren bereit.
In dem Zuge kreisten mancherlei Gerüchte. Man sprach von den Ränken der Legitimisten, von dem Sohne Napoleons I. dem Herzog von Reichstadt, auf den zu eben derselben Zeit schon der Tod seine Augen richtete. Ein unbekannt gebliebener Mann verkündete, zwei für die Sache der Republik gewonnene Werkmeister würden zu einer verabredeten Stunde dem Volk die Thore einer Waffenfabrik öffnen. Die Gefühle, die bei den Meisten vorherrschten, waren Enthusiasmus und Niedergeschlagenheit. Unter der heftig, aber von edlen Gefühlen bewegten Menge sah man aber auch wahre Verbrechergesichter, denen man es anmerkte, daß sie die gute Gelegenheit zum Plündern benutzen wollten. Wenn man Sümpfe aufwühlt, steigt immer Koth empor. Und eine hochlöbliche Polizei hat ja bei dergleichen Ereignissen ihre Hand auch im Spiele!
Der Trauerzug bewegte sich mit einer Langsamkeit welche die Erregung der Menge noch fieberhafter gestaltete, von dem Totenhause über die Boulevards nach dem Bastilleplatz. Es regnete ab und zu, aber Niemand achtete darauf. Unterwegs ereigneten sich mehrere bedeutungsvolle Zwischenfälle: Der Sarg wurde um die Vendômesäule herumgefahren; nach dem Herzog von Fitz-James, der auf einem Balken stand und den Hut auf dem Kopf behielt, wurden Steine geworfen; der gallische Hahn wurde von einer Volksfahne heruntergerissen und durch den Koth geschleift; ein Schutzmann wurde an dem Thor Saint-Martin durch einen Degenstich verwundet; ein Offizier des 12. Regiments sagte ganz laut: »Ich bin Republikaner!« Die Polytechniker schlossen sich dem Befehle ihrer Vorgesetzten zum Trotz, dem Zuge an und wurden mit den Rufen: »Die Polytechniker sollen leben! Es lebe die Republik!« begrüßt. Auf dem Bastilleplatz endlich bewerkstelligten die langen Reihen der gefährlichen Neugierigen, die aus der Vorstadt Saint-Antoine herbeikamen, ihre Vereinigung mit dem Zuge und nun begann sich eine bedenkliche Aufregung der Menge zu bemächtigen.
Man hörte Einen, der zu einem andern sagte: »Du, sieh Dir mal den da an, mit dem rothen Barte; der wird kommandiren, wenn's losgehn soll.« Derselbe Rothbart soll auch später noch bei einem andern Aufruhr in der Rue Quénisset eine Rolle gespielt haben.
Der Leichenwagen fuhr über den Bastillenplatz hinaus, den Kanal entlang, über die kleine Brücke und erreichte die Esplanade der Austerlitzer Brücke. Hier hielt er an. Aus der Vogelperspektive betrachtet, sah jetzt der Zug aus wie ein Komet, dessen Kopf auf der Esplanade lag und dessen Schweif sich über den Quai Bourdon, den Bastilleplatz, den Boulevard bis zur Porte Saint Martin hinzog. Alsbald bildete sich ein Kreis um den Leichenwagen. Die ungeheure Menschenmenge schwieg still. Lafayette hielt eine Rede und sagte Lamarque Adieu. Es war ein rührender und feierlicher Augenblick; Alle nahmen den Hut ab, Allen schlug das Herz schneller. Plötzlich erschien mitten unter den Umstehenden ein schwarz gekleideter Mann zu Pferde mit einer rothen Fahne, Andre sagen, mit einer Picke, an deren Spitze eine rothe, phrygische Mütze zu sehen war. Lafayette wandte den Kopf ab und Excelmans entfernte sich.
Diese rothe Fahne erregte einen Sturm und verschwand darin. Von dem Boulevard Bourdon bis zum Pont d' Austerlitz wallte es in der Menge auf und nieder. »Bringt Lamarque nach dem Panthéon!« »Lafayette, nach dem Stadthaus!« lauteten die Donnerrufe, die jetzt erschallten. Unter allgemeinem Jubel begannen junge Leute den Leichenwagen über den Pont d'Austerlitz und Lafayette in einer Droschke den Quai Morland entlang zu ziehen.
Unter der Menge, die sich in Lafayette's Nähe befand und ihm das Geleit gab, bemerkte man besonders und zeigte sich gegenseitig einen Deutschen, Namens Ludwig Snyder, der später im Alter von hundert Jahren starb. Er hatte den Krieg von 1776 in Amerika mitgemacht, und bei Trenton unter Washington, bei Brandywine unter Lafayette gekämpft.
Mittlerweile setzte sich aber auf dem linken Flußufer die berittne Municipalgarde in Bewegung und sperrte die Brücke, während auf dem rechten die Dragoner von dem Quai des Célestins herbeiritten und sich auf dem Quai Morland entfalteten. Das Volk, das Lafayette's Droschke zog, bemerkte sie plötzlich am Knie des Quai und rief: »Die Dragoner!« Schweigend, die Pistolen und Karabiner in den Halftern, die Säbel in den Scheiden, rückten die Dragoner mit düstern Mienen heran.
Zweihundert Schritt von der kleinen Brücke machten sie Halt. Die Droschke fuhr mit Lafayette an sie heran, sie öffneten ihre Reihen, ließen ihn durch und schlossen sich hinter ihm wieder zusammen. In diesem Augenblick berührten sich die Dragoner und die Menge. Die Frauen rannten erschrocken davon.
Was geschah in diesem verhängnisvollen Zeitpunkt? Das vermag Niemand zu sagen. Es ging wohl ähnlich zu, wie in dem Dunkel, wo zwei Gewitterwolken aufeinander stoßen. Die Einen erzählen, in der Gegend des Arsenals sei ein Angriffssignal mit einer Trompete gegeben worden, Andre behaupten, ein Knabe habe einem Dragoner einen Dolchstich versetzt. Sicher ist, daß plötzlich drei Schüsse abgefeuert wurden. Der erste tötete den Schwadronschef Cholet, der zweite eine taube, alte Frau, die in der Rue Contrescarpe eben ihr Fenster zumachte; der dritte verbrannte einem Offizier das Epaulett. Eine Frau schrie: »Sie fangen zu früh an!« Und plötzlich sah man von der dem Quai Morland entgegengesetzten Seite eine Schwadron Dragoner, die in der Kaserne geblieben war, mit gezückten Säbeln die Rue Bassompierre und den Boulevard Bourdon entlang herbeireiten und Jedermann vor sich herjagen.
Damit ist Alles entschieden, Steine regnen auf die Soldaten nieder, das Gewehrfeuer knattert los; Viele stürzen sich das Ufer hinunter und passiren den Arm der Seine, der jetzt zugeschüttet ist; die Zimmerplätze der Isle Louviers, die eine mächtige Citadelle bilden, füllen sich mit Kämpfern, Pfähle werden aus der Erde gerissen, Pistolen knallen, eine Barrikade steigt empor, die jungen Leute, die den Leichenwagen ziehen, stürmen im Laufschritt über die Austerlitzer Brücke und greifen die Municipalgarde an, die Karabiniers eilen herbei, die Dragoner hauen ein, die Menge zerstreut sich nach allen Seiten, das Kriegsgetöse hallt über die ganze Stadt hin. Alles schreit: »Zu den Waffen!« rennt, flüchtet, kämpft. Der Zorn verbreitet den Aufruhr, wie der Wind daß Feuer.
Es giebt nichts Außerordentlicheres als die erste Aufwallung eines Aufruhrs. Es geht überall zugleich los. War es vorhergesehen? Ja. Vorbereitet? Nein. Wo kommt es her? Aus dem Pflaster, aus den Wolken. Hier hat der Aufstand den Charakter eines Komplotts, dort einer Improvisation. Der erste Beste bemächtigt sich eines des Weges kommenden Menschenschwarms und führt ihn, wohin er will. Ein Anfang, der einen unheimlichen Eindruck macht, aber auch seine komischen Seiten hat. Erst wüstes Geschrei, dann werden die Läden zugemacht, die Schaufenster den Blicken entzogen. Hin und wieder fällt ein Schuß; hier fliehen Welche, dort rennen Andre mit Flintenkolben gegen Thorwege; auf den Höfen stehen die Dienstmädchen und freuen sich auf den großen »Klumpatsch«, den es geben wird.
Es war noch keine Viertelstunde vergangen, so begab sich zu derselben Zeit auf zwanzig verschiedenen Stellen etwa Folgendes:
In der Rue Sainte-Croix-de-la-Bretonnerie traten ungefähr zwanzig junge Leute mit langen Bärten und langem Haupthaar in eine Tabagie und kamen einen Augenblick nachher mit einer dreifarbigen Fahne, die in Flor gehüllt war, zurück. Ihnen voraus gingen drei Männer, von denen der Eine mit einem Säbel, der Zweite mit einem Gewehr, der Dritte mit einer Picke bewaffnet war.
In der Rue des Nonnains-d'Hyères bot ein den besseren Ständen angehöriger wohlbeleibter Mann den Vorübergehenden Patronen an.
In der Rue Saint-Pierre-Montmartre trugen Männer mit nackten Armen eine schwarze Fahne umher, auf der die Worte: »Die Republik oder der Tod!« mit weißen Buchstaben geschrieben standen. In der Rue des Jeûneurs, Rue du Cadran, Rue Montorgueil, Rue Mandar tauchten Fahnen mit dem Wort »Sektion« in goldnen Buchstaben und einer Nummer auf. Eine von diesen Fahnen war rothblau mit einem kaum bemerkbaren Streifen Weiß dazwischen.
Auf dem Boulevard Saint-Martin wurde eine Waffenfabrik, in der Rue Beaubourg, der Rue Michel-le-Comte, der Rue du Temple drei Waffenschmiedeläden geplündert. In wenigen Minuten ergriffen die tausend Hände der Menge zweihundertdreißig Gewehre, fast lauter doppelläufige, vierundsechzig Säbel, dreiundachtzig Pistolen. Damit möglichst Viele Waffen hätten, nahm der Eine ein Gewehr und überließ das Bajonett dem Andern.
Dem Quai de la Grève gegenüber drangen junge Leute mit Musketen in die Häuser ein, um von hier aus zu schießen. Sie klingelten, gingen hinein und fabrizirten Patronen. »Ich wußte nicht«, erzählte später eine Frau, »was eine Patrone ist, aber bei der Gelegenheit hat mein Mann mir's erklärt.«
In der Rue des Vielles-Haudriettes brach ein Haufe in einen Kuriositätenladen ein und nahm Yatagane und türkische Waffen weg.
In der Rue de la Perle lag die Leiche eines durch einen Flintenschuß getöteten Maurers.
Auf dem linken und auf dem rechten Flußufer, auf den Quais, den Boulevards, im Studentenviertel, in der Nähe der Centralmarkthalle rannten keuchend Arbeiter, Studenten, Sektionäre herum, lasen Proklamationen, schrieen: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« zerbrachen die Laternenpfähle, spannten die Pferde von den Wagen ab, rissen die Pflastersteine aus der Erde, schlugen die Hausthüren ein, entwurzelten die Bäume, durchsuchten die Keller und bauten aus Fässern, Steinen, Möbeln und Brettern, gewaltige Barrikaden.
Das Volk zwang die Bürger, hierbei mitzuhelfen und beizusteuern. Die Hausfrauen mußten die Säbel und Gewehre ihrer abwesenden Männer hergeben, worauf die Empfänger mit Spanischweiß »Die Waffen sind ausgeliefert« auf die Thür schrieben. Einige unterzeichneten mit »ihrem Namen« Quittungen und sagten: »Die Sachen holt Euch morgen aus der Mairie wieder!« – Vereinzelte Schildwachen und Nationalgardisten, die sich in ihren Bezirk begaben, wurden entwaffnet. Den Offizieren riß man die Epauletten ab. In der Rue Cimetière-Saint-Nicolas wurde ein Offizier der Nationalgarde von einer mit Stöcken und Rapieren bewaffneten Schaar verfolgt und flüchtete sich mit genauer Noth in ein Haus, das er erst in der Nacht und in einer Verkleidung verlassen konnte.
In dem Quartier Saint-Jacques schwärmten die Studenten aus ihren Hotels heraus und gingen die Rue Saint-Hyacinthe hinauf nach dem Café du Progrès oder die Rue des Mathurins hinunter nach dem Café des Sept-Billards. Hier standen junge Leute auf Prellsteinen und vertheilten Waffen. Man plünderte den Zimmerplatz in der Rue Transnonain, um sich Material zum Barrikadenbau zu verschaffen. Nur an einer einzigen Stelle leisteten die Bewohner eines Stadtviertels Widerstand, an der Ecke der Rue Sainte-Avoye und Simon-le-Franc, wo sie selber die Barrikade zerstörten. Auf einem einzigen Punkte wichen die Aufständischen zurück; sie gaben eine angefangene Barrikade in der Rue du Temple auf, nachdem sie auf eine Abtheilung der Nationalgarde Feuer gegeben, und entflohen durch die Rue de la Corderie. Die siegreiche Bürgerwehr fand auf der Barrikade eine rothe Fahne, ein Packet Patronen und dreihundert Pistolenkugeln. Die Nationalgardisten zerrissen die Fahne und trugen die Fetzen auf den Spitzen ihrer Bajonette davon.
Alles, was wir hier langsam und nacheinander berichten, geschah in allen Theilen der Stadt ungefähr zu gleicher Zeit, inmitten eines ungeheuren Tumults, wie bei ein und demselben Donnerschlag viele Blitze aus der Gewitterwolke zucken.
In noch nicht einer Stunde erhoben sich allein in dem Markthallenviertel siebenundzwanzig Barrikaden. In der Mitte desselben lag die berühmte Nr. 50, das Haus, das Jeanne und ihren sechshundert Genossen als Festung diente. Auf der einen Seite von einer, bei der Kirche Saint-Merry gelegnen Barrikade, auf der andern von der Barrikade der Rue Maubuée flankirt, beherrscht dies Haus drei Straßen. – Ebenso entstanden unzählbare Barrikaden in zwanzig andern Stadtvierteln, im Marais, der Montagne Sainte-Geneviève u. s. w.
Auf der Barrikade der Rue des Ménétriers vertheilte ein feingekleideter Mann Geld an die Arbeiter. In der Rue Greneta erschien ein Reiter und übergab dem Mann, der das Kommando über die dortige Barrikade hatte, eine Geldrolle mit den Worten: »Für die Auslagen, Wein u. s. w. –« Ein blonder, junger Mann ohne Kravatte ging von einer Barrikade zur andern und gab Losungsworte aus. Ein Andrer mit gezücktem Säbel und einer blauen Polizeimütze, stellte Schildwachen aus. Drinnen, innerhalb der Barrikaden, waren die Schänken und Portierwohnungen in Wachtstuben verwandelt. – Im Uebrigen verfuhr man nach den Regeln der wissenschaftlichen Taktik. Mit richtigem Takt bevorzugte man die schmalen, gewundnen Straßen mit vielen Winkeln und Knieen; besonders die Umgegend der Markthallen, ein sehr verworrenes Straßennetz. Man erzählt sich, die Gesellschaft der Freunde des Volkes habe in dem Viertel Saint-Avoye die Leitung des Aufstandes in die Hand genommen. Ein in der Rue du Ponceau getöteter Mann, den man visitirte, hatte einen Plan von Paris bei sich.
Was wirklich die Leitung des Aufstandes übernommen hatte, war ein besondres Ungestüm, das so zu sagen in der Luft lag. Die Aufständischen erbauten im Nu und zu gleicher Zeit die Barrikaden und bemächtigten sich der Garnisonsposten. In kaum drei Stunden besetzte man auf dem rechten Flußufer das Arsenal, die Mairie der Place Royale, den ganzen Marais, die Waffenfabrik Popincourt, La Galiote, das Château-d'Eau, alle Straßen in der Nähe der Centralmarkthalle, die Kaserne der Veteranen, Sainte-Pélagie, den Platz Maubert, die Pulverfabrik des Deux-Moulins und alle Barrieren. Um fünf Uhr Abends waren die Aufständischen Herren des Bastilleplatzes, der Lingerie, der Blancs-Manteaux. Ihre Patrouillen rückten bis an die Place des Victoires vor und bedrohten die Bank, die Kaserne der Petits-Pères und das Postgebäude. Ein Drittel von Paris war in ihren Händen.
Auf allen Punkten entbrannte der Kampf in großem Maßstabe und in Folge der Entwaffnungen, Haussuchungen, Plündrungen von Läden waren die Steine jetzt durch bessere Waffen ersetzt.
Gegen sechs Uhr Abends verwandelte sich die Passage du Saumon in ein Schlachtfeld. An dem einen Ende standen die Soldaten, an dem andern die Insurgenten und beschossen sich gegenseitig durch die beiden Gitter hindurch. Ein Beobachter, ein Träumer, der Verfasser dieses Buchs, der ausgegangen war, sich den Vulkan aus der Nähe zu besehen, gerieth dabei zwischen zwei Feuer. Um den Kugeln zu entrinnen, blieb ihm nichts Andres übrig, als sich in eine Einbuchtung zwischen zwei Halbsäulen, die einen Laden von einem andern trennten, zu flüchten. Ungefähr eine halbe Stunde lang befand er sich in dieser heiklen Lage.
Unterdessen wurde überall das Ganze gesammelt, die Legionen der Bürgerwehr kamen aus den Mairien, die Regimenter aus den Kasernen. Der Passage de l'Ancre gegenüber erhielt ein Trommler einen Dolchstich. Ein andrer wurde in der Rue du Cygne von ungefähr dreißig jungen Leuten angefallen, die seine Trommel demolirten und ihm den Säbel abnahmen. Wieder ein Andrer wurde in der Rue Grenier-Saint-Lazare getötet. In der Rue Michel-Le-Comte fielen nacheinander drei Offiziere. Mehrere Municipalgardisten, die in der Rue des Lombards verwundet wurden, wichen zurück.
Vor der Cour-Batave fand eine Abtheilung Bürgerwehr eine rothe Fahne, mit der Aufschrift »Republikanische Revolution Nr. 127«. War es in der That eine Revolution?
Der Aufstand hatte sich aus dem Centrum von Paris eine Art kolossale Citadelle geschaffen. Dies war der wichtigste Punkt, hier mußte die Entscheidung fallen. Alle übrigen Kämpfe waren nur Scharmützel, Plänkeleien. Daß auf die Behauptung dieser Stellung Alles ankam, bewies zur Genüge der Umstand, daß zur Zeit noch nicht gekämpft wurde.
Bei einigen Regimentern waren die Soldaten unschlüssig, was die schreckliche Lage der Ungewißheit noch steigerte. Sie erinnerten sich der Ovation, die im Juli 1830 das Volk dem 53. Linienregiment bereitet hatte. Das Kommando führten zwei unerschrockne und in großen Kriegen erprobte Männer, der Marschall de Lobau und der General Bugeaud, letzter unter Lobau. Ungeheure Patrouillen, die aus ganzen Linienbataillonen bestanden und von Bürgerwehrkompagnien in die Mitte genommen wurden, rekognoscirten, einen Polizeikommissar mit der Schärpe an ihrer Spitze, die von den Aufständischen beherrschten Straßen. Ihrerseits stellten diese Reiterposten an den Straßenecken auf und entsandten keck Patrouillen aus den Barrikaden. So beobachtete man sich gegenseitig. Die Regierung zauderte trotzdem sie über eine Armee gebot; schon nahte die Nacht und man hörte die Glocken der Kirche Saint-Merry Sturm läuten. Der damalige Kriegsminister Marschall Soult, ein Mann, der die Schlacht bei Austerlitz mitgemacht hatte, schaute sorgenvoll drein.
An kunstgerechte Manöver gewöhnt, ohne andre Hülfsmittel und Anleitung als die Taktik, den Kompaß der Schlachten, sind solche alte Haudegen dem Zorn des Volkes gegenüber rathlos. Mit dem Winde der Revolutionen verstehen sie ihr Schiff nicht zu lenken.
Die Bürgerwehr des Weichbildes eilte in Unordnung herbei. Aus Saint-Denis kam ein Bataillon im Laufschritt, aus Courbevoie das 14. Regiment; die Batterien der Militärschule hatten auf dem Carrousel Stellung genommen; aus Vincennes kam Artillerie.
Der Tuilerienpalast lag verlassen da, aber Ludwig Philipp zeigte eine unerschütterliche Seelenruhe.
In den vergangnen, letzten zwei Jahren hat Paris mehr als einen Aufstand durchgemacht. Außerhalb der insurgirten Stadttheile verhält sich nichts so merkwürdig ruhig, wie Paris während einer Revolte. Paris gewöhnt sich sehr schnell an alles: »Nur eine Revolte!« – und hat so viel zu thun, daß es sich durch solche Kleinigkeiten nicht stören läßt. Großstädte allein können derartige Schauspiele bieten, sind umfangreich genug, um zu gleicher Zeit die Aufregungen des Bürgerkriegs und die absonderlichste Gemüthsruhe zu fassen. Wird getrommelt, das Ganze gesammelt, der Generalmarsch geblasen, so meint der Krämer:
»Wie es scheint, ist in der Ruhe Saint-Martin wieder Krawall.«
»Oder in der Vorstadt Saint-Antoine.«
»Oder da herum,« fügt er ruhevoll hinzu.
Nachher, wenn das schaurige Geknatter des Gewehrfeuers sich hören läßt, bemerkt er:
»Alle Wetter! Es scheint da ganz heiß herzugehn.«
Breitet der Aufruhr sich dann aus und rückt er ihm auf den Leib, so macht er schleunigst seinen Laden zu und wirft sich in seine Uniform, d. h. er sichert seinen Kram und riskirt seine Haut.
Soldaten, Bürger und Volk schießen auf einander, auf einem Platze, in einer Passage, einer Sackgasse; Barrikaden werden genommen und geräumt; die Fassaden der Häuser werden mit Kugeln gespickt; die Geschosse töten Leute in ihrem Schlafzimmer, die Straße liegt voller Leichen – und wenige Schritte davon hört man den Zusammenprall von Billardkugeln in den Cafés.
Die Theater machen ihre Thüren auf und spielen Possen; neugierige Zuschauer plaudern und lachen in geringer Entfernung von den blutgetränkten Kampfplätzen. Die Droschken fahren. Die Leute gehen in ihr gewohntes Restaurant zum Mittagstisch, bisweilen liegt das Restaurant oder wohnt die Familie, die sie besuchen wollen, in einer Straße, wo gekämpft wird. 1831 wurde einmal ein Gewehrfeuer eingestellt, damit eine Hochzeitsgesellschaft zwischen den Kämpfern hindurchfahren konnte.
Während des Aufstandes vom 12. Mai 1839 fuhr in der Rue Saint-Martin ein gebrechliches, altes Männchen mit einem Handwagen zwischen einer Barrikade und einer Abtheilung Soldaten hin und her und bot bald den Vertheidigern der Ordnung, bald der Anarchie Lakritzenwasser zum Verkauf an.
Es giebt nichts Seltsameres, als die Vereinigung dieser Gegensätze und hierin besteht die Eigenart der Pariser Revolten, die man in keiner andern Hauptstadt wiederfindet. Es bedarf dazu zweier Dinge, der Pariser Großsinnigkeit und Heiterkeit. Es gehört dazu die Stadt Voltaires und Napoleons.
Dies Mal jedoch, bei dem Waffengange am 5. Juni 1832, hatte die große Stadt ein unangenehmes Gefühl, dessen sie wohl nicht hätte Herr werden können. Sie fürchtete sich. Ueberall, selbst in den entlegensten und am wenigsten interessirten Stadtvierteln waren am hellen Tage Thüren und Fensterläden geschlossen. Die muthigen Leute bewaffneten, die furchtsamen verkrochen sich. Leute, die ruhig ihren Geschäften nachgingen, sah man nicht. Viele Straßen waren so leer, wie um vier Uhr Morgens. Man raunte sich bedenkliche Nachrichten zu. »Sie« hätten sich der Bank bemächtigt. – In der Kirche Saint-Merry allein hätten sich ihrer sechshundert verschanzt. – Auf die Linientruppen sei kein Verlaß. – Armand Carrel hätte den Marschall Clausel aufgesucht und Dieser habe gesagt: »Bringt erst ein Regiment auf eure Seite; dann wollen wir weiter sehen.« – Lafayette wäre krank, hätte ihnen aber gesagt: »Ich stehe auf Eurer Seite. Ich werde überall, wo Platz für einen Stuhl ist, mit Euch gehen.« – Man müßte auf seiner Hut sein. Es gäbe Leute, die sich die Nacht zu Nutze machen und abgelegne oder schlecht verwahrte Häuser plündern würden. (Hieran erkannte man die Anne Radcliffe'sche Einbildungskraft der Polizei). – In der Rue Aubry-le-Boucher wäre eine Batterie aufgepflanzt worden. – Lobau und Bugeaud hätten mit einander berathen und um Mitternacht oder spätestens bei Tagesanbruch würden vier Kolonnen zu gleicher Zeit auf das Centrum des Aufstands losmarschieren. – Vielleicht würden die Truppen auch Paris räumen und sich auf das Marsfeld zurückziehen. – Man wisse nicht, was kommen würde; aber jedenfalls sähe es dies Mal sehr bedenklich aus. Man schüttelte auch den Kopf darüber, daß Marschall Soult nicht energisch eingriff.
Der Abend kam, die Theater machten nicht auf; überall circulirten griesgrämige Patrouillen, visitirten und arretirten. Um neun Uhr waren über achthundert Personen verhaftet und alle Gefängnisse überfüllt. In der Conciergerie besonders war in dem langen Souterrain, das man die Rue de Paris nennt, der Fußboden mit Strohbündeln bedeckt, in denen eine Unzahl Gefangner raschelten, daß es sich wie ein Gewitterregen anhörte. Anderwärts lagen die Verhafteten in den Gefängnißhöfen unter freiem Himmel übereinander geschichtet.
In den Häusern verrammelten sich die Leute; Gattinnen, Frauen und Mütter ängstigten sich und jammerten: »Was mag blos aus ihm geworden sein, daß er noch nicht nach Hause gekommen ist.« Kaum das man in der Ferne einige Wagen rollen hörte. Auf den Thürschwellen standen Leute und horchten auf die verschiedenen, fernen Geräusche. »Das ist Kavallerie!« »Da golloppiren Munitionswagen!« Man hörte Trommelwirbel, Trompetengeschmetter, Gewehrgeknatter und besonders das furchtbare Gedröhn der Sturmglocke, wartete aber auf den ersten Kanonenschuß. Dann rannten Leute vorbei und riefen: »Geht hinein!« Darauf stürzte dann alles ins Haus und verriegelte die Thüren! »Wie wird das enden!« hieß es allgemein. Kurz, von Minute zu Minute, in dem Maße, wie die Nacht hereinbrach, wurde die Stimmung in Paris düstrer.