Victor Hugo
Die Elenden. Vierter Theil. Eine Idylle und eine Epopöe
Victor Hugo

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Elftes Buch. Eine Winzigkeit, die sich mit dem Orkan verbrüdert

I.
Gavroche's Poesie

In dem Augenblick, wo das Volk und die Soldaten vor dem Arsenal an einander geriethen und der Trauerzug rückwärts flutete, sich theilte und in hundert Straßen zugleich zurückwich, kam ein zerlumpter, junger Bursche die Rue Ménilmontant herab. Da bemerkte er in dem Schaufenster einer Trödlerin eine alte Sattelpistole, warf den Baumzweig, den er in der Hand hatte, auf das Pflaster, und rief:

»Mutter Dingrich, ich pumpe mir von Ihnen das Dingsda,« und machte sich mit dem Pistol schleunigst aus dem Staube.

Zwei Minuten nachher begegnete ein Schwarm erschrockner Bürger, der die Rue Amelot und die Rue Basse entlang rannte, dem Jungen, der sein Pistol schwang und ein Triumphliedchen sang:

Des Nachts sieht man nix
Und findet man auch nix
Wenn ich es aber wage,
So krieg' ich was bei Tage.

Es war der kleine Gavroche, der in den Krieg zog.

Auf dem Boulevard bemerkte er aber leider, daß sein Pistol keinen Hahn hatte.

Von wem war die Strophe, die ihm beim Marsch den Takt angab, und all die andern Lieder, die er gelegentlich gern anstimmte? Wir wissen es nicht. Vielleicht hatte er es selber gedichtet. Jedenfalls kannte er alles, was das Volk trillert und trällert, und zwitscherte wohl auch etwas dazwischen aus sich selber. In seiner Eigenschaft als Kobold und Laufbursche schweißt er sich aus Natur- und aus pariser Lauten seine Potpourris zusammen und vermengte das Repertoir der Vögel mit dem der Handwerker zu einem harmonischen oder unharmonischen Ganzen. Aber er stand auch mit gebildeteren Leuten in Verkehr, mit verbummelten Malern, war drei Monate lang bei einem Buchdrucker in der Lehre gewesen und hatte sogar eines Tages eine Besorgung für Baour-Lormian, einen Akademiker, einen der vierzig Unsterblichen, gemacht! Man sieht, Gavroche besaß litterarische Bildung.

Uebrigens hatte er keine Ahnung, daß die beiden Knaben, die er auf der Straße aufgelesen und in seine Wohnung aufgenommen hatte, seine eignen Brüder waren. Nachdem er dann noch in derselben Nacht seinen Vater gerettet, war er bei Tagesanbruch aus der Rue des Ballets in aller Eile nach dem Elefanten zurückgekehrt, hatte mit einem großen Aufwand von Geschicklichkeit die »Würmer« aus ihrem Hotel heraus praktizirt, ein genial erfundnes Frühstück mit ihnen getheilt und war fortgegangen, indem er seine Pfleglinge der Straße, die ihn erzogen hatte, anvertraute. Zum Abschied hielt er noch eine kleine Rede an sie: »Ich schramme jetzt ab, oder in andern Worten ich verdufte oder, wie man bei Hofe sagt, ich socke ab. Wenn Ihr Papa und Mama nicht wiederfindet, so kommt heute Abend hierher zurück. Ich besorge Euch einen guten Happenpappen und Wohnung für die Nacht.« Aber die Knaben waren nicht wiedergekommen. Hatte sich ein Schutzmann ihrer angenommen und sie nach der Wache gebracht oder waren sie von einem Akrobaten gestohlen worden, oder hatten sie sich ganz einfach in dem ungeheuren pariser Tohuwabohu verirrt? Wie dem auch sei, Gavroche bekam sie nicht wieder zu Gesicht. Zehn bis zwölf Wochen waren seit jener Nacht verstrichen und so manches Mal kratzte er sich den Kopf und fragte sich, was zum Teufel wohl aus seinen Bälgen geworden sein mochte.

Während er derartige Betrachtungen auch heute anstellte, gelangte er in die Rue du Pont-aux-Choux. Hier bemerkte er, daß in der ganzen Straße bloß ein Laden offen stand, und zwar was Beachtung verdiente, der Laden eines Pastetenbäckers. Es war ein Wink der Vorsehung, daß er noch rasch, ehe er den Sprung ins Dunkle that, sich ein Apfeltörtchen genehmigen sollte. Gavroche blieb also stehen, betastete seine Seiten, wendete alle Taschen um, fand nichts, gar nichts und schrie:

»Hülfe! Hülfe!«

Es ist allerdings hart, wenn man sich den letzten Kuchen versagen muß.

Er setzte aber darum nicht weniger seinen Weg fort und befand sich wenige Minuten später in der Rue Saint-Louis. Aber eine Entschädigung mußte er haben: Er leistete sich das ungeheure Vergnügen, am hellen, lichten Tage die Theaterzettel in der Rue du Parc-Royal abzureißen.

Bald darauf begegnete er einer Gesellschaft wohlgenährten Herren, die Hauseigenthümer zu sein schienen. Ihr Anblick erregte seine philosophische Galle und verächtlich die Achseln zuckend, meinte er:

»Was solche Rentiers fett sind! Ja, ja! Das schlägt sich den Wanst mit guten Happenpappen voll, und dann predigen sie uns, wir sollen von der Luft und der Tugend leben!«

II.
Gavroche auf dem Marsche

Der Besitz eines Pistols ohne Hahn, das man auf offner Straße sehen lassen darf, verlieh unserm Gavroche eine solche Wichtigkeit in seinen Augen, daß er bei jedem Schritt fideler wurde. Er sang die Marseillaise und erging sich dabei in kuragigen Betrachtungen.

»Es geht ganz famos. Mir thut die linke Pfote weh, die habe ich mir ein bischen lädirt, aber ich bin zufrieden, Freunde. Die Bürger sollen sich man in Acht nehmen, ich werde ihnen umstürzlerische Lieder in die Ohren schreien. Ich komme von dem Boulevard, Theuerste; da geht's heiß her, da wird eine schöne Suppe gekocht. Es ist Zeit, daß sie abgeschäumt wird. Vorwärts, wer ein Mann ist!

»Ein unrein Blut bethaue unsere Furchen.«

Ich lege mein Leben auf den Altar des Vaterlandes nieder und werde meine Konkubine nicht wiedersehen. Au waih geschrien! Aber das ist mir Wurscht. Hurrah! Heute giebt's Keile und ich will dabei sein! Hol mich der Henker, aber ich habe den Despotismus überdrüssig.

Trotzdem half er einem Nationalgardisten, der in demselben Augenblick dicht in seiner Nähe mit dem Pferde stürzte, auf die Beine; dann nahm er sein Pistol, das er vorher auf die Erde gelegt, wieder auf und ging weiter.

In der Rue de Thorigny herrschte Friede und Stille. Diese, dem Stadtviertel Le Marais eigne Apathie stach stark ab gegen den Sturm, der ringsum tobte. Vier Gevatterinnen standen hier auf einer Thürschwelle und unterhielten sich. Denn wenn Schottland seine Hexentrios besitzt, so erfreut sich Paris nicht minder anmuthiger Gevatterinnenquartette. Wenn die einem Bonaparte »Du wirst König sein« zukrächzten, würde es sich ebenso anhören, wie dieselbe Begrüßung Macbeths durch seine drei Landsmänninen.

Aber den Gevatterinnen der Rue Thorigny lagen nur ihre eigenen Angelegenheiten am Herzen. Es waren drei Portierfrauen und eine Lumpensammlerin mit ihrer Kiepe und ihrem Haken.

Vier Unica von Alterthümlichkeit, Gebrechlichkeit, Häßlichkeit.

Die Lumpensammlerin benahm sich demüthig. Für die Leute, die von dem Abfall anderer leben müssen, ist die Gönnerschaft einer Portierfrau eine Sache, auf die etwas ankommt. Denn wenn diese ihren Besen mit Huld handhabt, fällt die Ausbeute aus dem Gefegsel reichlicher aus, als wenn sie es vorher mit unfreundlicher Genauigkeit durchsucht.

Die Lumpensammlerin lächelte also sehr höflich zu Allem, was die drei Portierfrauen sagten. Das interessante Gespräch war etwa folgendes:

»Ist denn aber Ihre Katze noch immer so bösartig?«

»Mein Gott, Sie wissen, Katzen sind nun einmal keine Freunde von Hunden. Das gefällt natürlich den Hunden nicht.«

»Den Menschen auch nicht.«

»Die Katzenflöhe gehen aber nicht an Menschen ran.«

»Nein, die Katzen thun keinen Schaden. Aber die Hunde, die sind gefährlich. Ich kann mich noch auf ein Jahr entsinnen, wo so viel Hunde waren, daß man es in die Zeitung setzen mußte. Es war zu der Zeit, wo es in den Tuilerien Schafe gab, die dem König von Rom seinen Wagen zogen. Besinnen Sie sich auf den König von Rom?«

»Ich hatte den Herzog von Bordeaux gern.«

»Ich habe Ludwig XVII. gekannt. Der war mir lieber.«

»Ist das Fleisch aber theuer, Frau Pathagon!«

»Seien Sie still vom Fleisch! Mir wird ganz schlimm, wenn ich daran denke. Das ist ja was gräßlich Gräßliches! Man kann ja bloß noch Beilage kaufen.«

»Meine Damen«, fiel hier die Lumpensammlerin ein, »die Geschäfte gehen nicht. Ich kann Ihnen sagen, so schofel ist der Kehricht noch nie ausgefallen, wie jetzt. Die Leute schmeißen nichts mehr fort. Sie essen alles selber auf.« »Es giebt Welche, die sind noch ärmer als Sie, Mutter Bargoulême.«

»Freilich,« gab die Lumpensammlerin höflich zurück, »ich habe wenigstens ein Gewerbe«.

Währenddem hatte sich Gavroche hinter die Vier geschlichen und horchte:

»Wie könnt Ihr alten Hexen Euch unterstehen, über Politik zu sprechen?«

Ein Hagel von Schimpfreden prasselte auf den Frevler nieder.

»Nun sieh einer solchen infamichten Bengel!«

»Was hat er denn da in seinen Grätschen? Ein Pistol?«

»Nein, so was! So ein Käsehoch!«

»Das kann keine Ruhe halten, das muß die Obrigkeit absetzen!«

Stolz und verächtlich begnügte sich Gavroche, statt aller Wiedervergeltung, die Finger der rechten Hand aufzuspreizen und mit dem Daumen den einen Nasenflügel emporzuschieben.

»Du nichtswürdiges, hungerleidiges Aas Du!« rief die Lumpensammlerin.

Frau Patagon schlug voll tiefer sittlicher Entrüstung die Hände zusammen und zeterte:

»Es wird viel Unglück geben, kann ich Ihnen sagen. Da wohnt nebenan ein hübsches Jüngelchen mit einem Spitzbart, den sah ich jeden Tag hier vorbeikommen mit einem netten, jungen Ding in einem rosa Hut und heute war ein Mann mit einem Gewehr bei ihm. Und dann sehen Sie sich den da an mit seinem Pistol, den dämlichen Kieck in die Welt! Die Cölestinerkaserne soll ganz voll Kanonen stecken.

Was soll denn auch die Regierung mit solchen Bengeln machen, die nicht wissen, was sie erfinden sollen, damit sie die Leute ängstigen. Man fing schon an, sich ein bischen zu beruhigen nach all dem Unglück, das man erlebt hat, dem Herrgott sei's geklagt! Ich denke noch an die arme Königin, die sie auf dem Armesünderwagen zum Schaffot schleppten. Und bei der Gelegenheit wird der Schnupftabak auch wieder theurer werden! O, es ist schändlich! Na, warte, das erlebe ich noch, daß sie Dich um einen Kopf kürzer machen, Du kleiner Halunke Du, Du gemeine Kröte, Du Rotznase Du!«

»Mutter Methusalem, bekümmern Sie Sich um Ihren eignen Riechkolben! Dem thuts schon lange Noth, daß er mal geputzt wird!« schimpfte Gavroche und wanderte weiter.

Als er in der Rue Pavée war, fiel ihm die Lumpensammlerin wieder ein und er setzte ihr innerlich den Kopf zurecht:

»Das ist nicht schön von Dir, Mutter Kiepe, daß Du die Revolutionäre so runter machst. Das Pistol hier will Deinen Vortheil. Man möchte ja blos, daß Du mal recht viel gute Sachen von der Straße auflesen kannst.«

Plötzlich hörte er Geräusch hinter sich; es war die eine Portierfrau, die ihm nachgehumpelt war. Sie drohte ihm mit der Faust und schrie:

»Du bist ein Bastard!«

»Na, was das anbelangt, Mutterchen, das ist mir ungeheuer schnuppe!« meinte Gavroche.

Bald darauf kam er an dem Hotel Lamoignon vorbei. Hier stieß er einen Schlachtruf aus:

»Auf zum Kampf!«

Da aber überkam ihn ein Anfall von Schwermuth. Er sah sein Pistol vorwurfsvoll an, als wollte er ihm zureden, vernünftig zu sein und sagte:

»Alle gehen heute los und Du nicht!«

Unterwegs sah er noch einen entsetzlich magern Hund:

»Armer Wauwau,« sagte er mitleidig, »Du hast wohl ein Faß verschluckt, daß Du lauter Reifen unter dem Fell hast!«

III.
Gerechte Entrüstung eines Barbiers

Der wackre Perrückenfabrikant, der Gavroche's zwei Knaben aus dem Laden gejagt hatte, rasirte zu eben derselben Zeit einen alten Soldaten, der unter dem Kaiserreich gedient hatte. Natürlich drehte sich das Gespräch um die Revolte und von dem General Lamarque ging der Perrückenmacher auf den Kaiser Napoleon über.

»Nicht wahr, der Kaiser konnte gut reiten?«

»Bewahre! Er verstand blos nicht zu fallen. Daher fiel er auch nie.«

»Natürlich hatte er gute Pferde?«

»An dem Tage, wo er mir das Kreuz gegeben, habe ich mir sein Pferd angesehen. Es war eine leichte Stute, ein Schimmel. Sie hatte weit abstehende Ohren, einen tiefen Rücken, einen feinen Kopf mit einem schwarzen Stern, einen sehr langen Hals, stark artikulirte Kniee, hervorspringende Rippen, schräge Schultern, ein mächtiges Hintergestell. Etwas über fünfzehn Spannen hoch.«

»Ein hübsches Pferd!«

»Ja, Ja! Es war auch das Pferd Sr. Majestät.«

Der Perrückenmacher fühlte, daß sich nach diesem Wort ein ehrfurchtsvolles Schweigen schicken würde, und fuhr erst nach einer Pause in seiner Rede fort:

»Der Kaiser ist ja wohl nur ein Mal verwundet worden?«

Der alte Soldat antwortete in der ruhigen, bestimmten Weise eines Mannes, der dabei gewesen ist:

»An einer Ferse. Bei Regensburg. Ich habe ihn nie so fein gekleidet gesehen. Er war wie aus dem Ei gepellt.«

»Und Sie, Herr Veteran, Sie sind jedenfalls oft verwundet worden?«

»Ich? Ach, das ist nicht der Rede wert. Ich bekam bei Marengo zwei Säbelhiebe über den Nacken, bei Austerlitz eine Kugel in den Arm, bei Jena wieder eine Kugel in die linke Hüfte, bei Friedland einen Bajonettstich – hier! –; an der Moskwa sieben oder acht Lanzenstiche, ich weiß nicht mehr all die Stellen; bei Lützen zerschmetterte mir ein Granatsplitter einen Finger; und bei Waterloo kriegte ich eine Kartätschenkugel in den Schenkel. Das ist Alles.«

»Wie schön das sein muß,« rief der Bartputzer, mit dichterischem Schwung, »auf dem Schlachtfelde zu sterben! Auf Ehrenwort, statt langsam, jeden Tag zollweise, an einer Krankheit zu Grunde zu gehn und mit Arzneien, Tränken, Pflastern und Spritzen an mir herumdoktern zu lassen, möchte ich lieber eine Kanonenkugel in den Leib bekommen!«

»Sind Sie bescheiden!« meinte der Militär.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein fürchterlicher Lärm den ganzen Laden erschütterte. In der Scheibe des Schaufensters war ein großes Loch, von dem aus sich Sprünge nach allen Seiten hinzogen.

Der Perrückenmacher wurde leichenblaß.

»Ach Du mein Gott! Da haben wir eine!«

»Was denn?«

»Eine Kanonenkugel.«

»Hier ist sie,« sagte der Soldat und nahm etwas von der Erde auf. Es war ein Kieselstein.

Der Barbier eilte an das Schaufenster und erblickte noch Gavroche, der in der Richtung des Marktes Saint-Jean spornstreichs davonrannte. Als er an dem Laden des Perrückenmachers vorbeikam, hatte der Junge, der dem Bartkratzer seine Hartherzigkeit gegen die beiden obdachlosen Knaben nicht vergeben konnte, dem Wunsch nicht widerstehen können, seine Schützlinge zu rächen.

»Man sollte es nicht glauben!« schrie der Perrückenmacher, dessen weiße Gesichtsfarbe in eine blaue übergegangen war. »Solch eine Bosheit! Was hat man denn dem Bengel gethan?«

IV.
Die Jugend wundert sich über das Alter

Auf dem Markt Saint-Jean, wo der Wachtposten schon entwaffnet war, bewerkstelligte Gavroche seine Vereinigung mit einem von Enjolras, Courfeyrac, Combeferre und Feuilly geführten Trupp Aufständischer. Ihre Bewaffnung schien eine ziemlich gute. Bahorel und Jean Prouvaire waren auch zu ihnen gestoßen. Enjolras hatte eine doppelläufige Jagdflinte, Combeferre ein Nationalgardistengewehr mit einer Legionsnummer und zwei Pistolen, Jean Prouvaire einen Karabiner, Bahorel einen Stutzen. Feuilly marschirte mit einem gezückten Säbel vorauf und rief: »Die Polen sollen leben!«

Sie kamen von dem Quai Morland, ohne Kravatten, ohne Hüte, athemlos, von Regen durchnäßt, Blitze in den Augen. Gavroche trat an sie heran und fragte mit gemüthlicher Ruhe:

»Wo gehen wir hin?«

»Komm nur!« sagte Courfeyrac.

Hinter Feuilly marschirte oder hüpfte vielmehr Bahorel. Er zeichnete sich vor den Uebrigen durch seine scharlachne Weste und den Uebermuth seiner unwiderleglichen Scherzreden aus.

»Da kommen die Rothen!« rief ein Vorübergehender erschrocken, als er Bahorel erblickte.

»Das Rothe, die Rothen!« gab Bahorel zurück. »Merkwürdige Furcht, Bürger! Ich für meinen Theil zittre nicht vor einer Klatschrose und das Rothkäppchen würde mir keinen Schrecken einflößen. Glauben Sie mir, Bürger, nur Hornvieh wird scheu, wenn es etwas Rothes sieht.«

Bald darauf fiel sein Blick auf ein überaus harmloses Plakat, eine Erlaubnis Eier zu essen, ein Fastenerlaß des Erzbischofs von Paris an seine »Schafe.«

»Ja wohl, Schafe!« ulkte Bahorel und riß den Zettel von der Mauer ab.

Von diesem Augenblicke an schloß Gavroche Bahorel in sein Herz und bemühte sich, ihn kennen zu lernen.

»Bahorel,« schalt Enjolras, »das war nicht vernünftig. Du hättest den Erlaß zufrieden lassen sollen. Wir führten nicht mit ihm Krieg. Du verausgabst Deinen Vorrath an Zorn ganz unnützer Weise. Außer Reih' und Glied soll man nicht kämpfen, mit der Zunge eben so wenig, wie mit dem Gewehr.«

»Jeder in seiner Art, Enjolras« entgegnete Bahorel. »Das fromme Geschreibsel ärgert mich. Ich will Eier essen, ohne daß man mir's erlaubt. Du bist kalt und ruhig im Kampfe, ich spaße gern. Uebrigens gebe ich keineswegs meine Kräfte aus; ich nehme vielmehr einen Anlauf, und wenn ich das Plakat zerrissen habe, so geschah das, Hercle! bloß um mir Appetit zu machen.«

Das Wort Hercle fiel dem kleinen Gavroche auf und da er alle Gelegenheiten, sich zu unterrichten, begierig ergriff und der Plakatabreißer Bahorel ihm Achtung einflößte, fragte er:

»Was bedeutet das, Hercle

»Das ist lateinisch und heißt Kreuzschockschwere Donnerwetter!«

Ein lärmender Schwarm Menschen begleitete sie, Studenten, junge Leute, die Mitglieder der Cougourde von Aix waren, Arbeiter, mit Stöcken und Bajonetten bewaffnet; Einige mit Pistolen im Hosengurt. Unter ihnen befand sich auch ein sehr alter Mann, der keine Waffen hatte. Er eilte, um nicht hinter den Andern zurückzubleiben, obgleich er sehr nachdenklich schien. Gavroche wunderte sich über ihn und fragte:

»Nanu, was mag denn das für Einer sein?«

»Ein Alter,« meinte Courfeyrac.

Es war Mabeuf.

V.
Der Alte

Erzählen wir was vorgegangen war.

Zu der Zeit, wo die Dragoner das Volk angriffen, befand sich Enjolras mit seinen Freunden auf dem Boulevard Bourdon. Sie rannten durch die Rue Bassompierre mit dem Ruf: »Zu den Waffen!« und begegneten in der Rue Lesdiguières einem alten Mann, der ihnen entgegenkam.

Was ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, war der Umstand, daß er im Zickzack ging, als wäre er betrunken. Außerdem hielt er den Hut in der Hand, obgleich es gerade stark regnete. Courfeyrac erkannte in ihm Vater Mabeuf, zu dessen Haus er Marius oft begleitet hatte. Da er die friedfertige und überfurchtsame Art des alten Bücherwurms kannte, war er erstaunt, ihm an diesem Orte, in dessen nächster Nähe ein heftiger Krawall wüthete, zu begegnen und redete ihn an:

»Herr Mabeuf, gehen Sie nach Hause!«

»Weswegen?«

»Es wird was geben.«

»Ist mir recht.«

»Säbelhiebe, Flintenschüsse, Herr Mabeuf!«

»Ist mir recht.«

»Kanonenschüsse.«

»Ist mir recht. Wo geht Ihr hin?«

»Wir wollen die Regierung die Treppe hinunter schmeißen.«

»Ist mir recht.«

Mit diesen Worten schloß er sich ihnen an. Seitdem hatte er keinen Laut von sich gegeben. Er ging mit festeren Schritten und wenn ihm ein Arbeiter den Arm anbot, schüttelte er den Kopf. Zudem marschirte er fast ganz vorn und sah, während er doch fest auftrat, schläfrig aus.

»Der Alte muß den Teufel im Leibe haben!« dachten die Studenten.

Es ging auch das Gerücht in dem Trupp, der Alte sei ein ehemaliges Konventsmitglied, ein alter Königsmörder.

Sie marschirten in der Richtung der Kirche Saint-Merry.

VI.
Rekruten

Der Trupp vermehrte sich jeden Augenblick. In der Rue des Billettes schloß sich ihm ein schon ergrauter Mann von hohem Wuchse an. Courfeyrac, Enjolras und Combeferre fiel er wegen seines kühnen, energischen Gesichtsausdruckes auf, aber Keiner kannte ihn. Gavroche, der dem Zuge voranging, pfiff, sang, summte so eifrig und mußte gegen so viel Fensterläden mit dem Kolben seines sonst unnützen Pistols schlagen und Leute ängstigen, daß er auf den neuen Ankömmling nicht achtete.

Es traf sich, daß sie durch die Rue de la Verrerie an Courfeyrac's Haus vorbeikamen.

»Das trifft sich gut,« sagte Courfeyrac, »ich habe meine Börse vergessen und meinen Hut verloren.« Er verließ also den Zug und stürmte die Treppen hinauf in seine Wohnung, wo er sich seinen alten Hut aufsetzte und seine Börse einsteckte. Er nahm auch einen ziemlich großen Kasten, der unter seiner schmutzigen Wäsche versteckt war, und eilte dann wieder hinunter. Da hörte er, wie die Portierfrau ihn rief:

»Herr von Courfeyrac!«

»Sagen Sie mal, wie heißen Sie?« gab Courfeyrac zurück.

Sie sah ihn verdutzt an.

»Das wissen Sie doch, ich bin die Portiersfrau, Mutter Vauvain.«

»Gut. Wenn Sie mich noch einmal Herr von Courseyrac nennen, so nenne ich Sie Frau von Vauvain. Nun reden Sie. Was giebt's?«

»Es ist Jemand da, der Sie sprechen will.«

»Wer?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo?«

»In meiner Wohnung.«

»Mag ihn der Kuckuck holen!«

»Er wartet aber schon länger als eine Stunde auf Sie!«

In dem Augenblick kam ein kleiner, blasser, magrer, junger Bursche mit einem Gesicht voller Sommersprossen, der mit einem zerlöcherten Kittel und einer geflickten Sammthose bekleidet war und eher wie ein verkleidetes Mädchen, als wie ein junger Mann aussah, aus der Wohnung der Portierfrau heraus und sagte mit einer Stimme, die allerdings durchaus nicht wie eine Frauenstimme klang:

»Kann ich vielleicht Herrn Marius sprechen?«

»Er ist nicht zu Hause.«

»Kommt er heute Abend nach Hause?«

»Das weiß ich nicht. – Was mich anbetrifft, so komme ich heute nicht mehr nach Hause.«

Der junge Mann sah ihn fest an und fragte:

»Warum nicht?«

»Darum nicht.«

»Wo gehen Sie denn hin?«

»Was geht Dich das an?«

»Soll ich Ihnen Ihren Koffer tragen?«

»Ich gehe nach einer Barrikade.«

»Erlauben Sie, daß ich mitgehe?«

»Wenn Du willst! Die Straße steht Jedem offen.«

Mit diesen Worten ging er fort und rannte seinen Freunden nach. Als er sie eingeholt hatte, gab er Einem von ihnen den Kasten zu tragen und bemerkte erst später, daß der junge Bursche mitgekommen war.

Ein großer Trupp gelangt nicht immer dahin, wo er ursprünglich hinwollte. Sie gingen über die Kirche Saint Merry hinaus und kamen ohne selber recht zu wissen wie, nach der Rue Saint-Denis.


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