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So gestaltete sich das Leben der Beiden immer trübseliger.
Es blieb ihnen nur eine Zerstreuung, die ehemals ein Glück gewesen war, denen, die da hungerten, Brod und Denen, die da froren, Kleider zu bringen. Bei diesen Armenbesuchen, wo Cosette oft Jean Valjean begleitete, fanden sie ihre alte Heiterkeit zum Theil wieder; und bisweilen, wenn sie ein gutes Tageswerk vollbracht, recht viel Bedürftigen geholfen, recht viel Kinder zu neuem Leben geweckt hatten, war Cosette am Abend einigermaßen fröhlich gestimmt. Damals war es, daß sie die Jondrette in ihrer Höhle aufsuchten.
Am Tage nach diesem Besuch erschien Jean Valjean am Morgen im Pavillon, mit demselben ruhigen Gesicht wie immer, aber mit einer großen Wunde am linken Arm, die stark entzündet war, sehr bösartig aussah, von einer Verbrennung herrühren mochte und für die er eine glaubhafte Erklärung zu finden verstand. In Folge dessen fieberte er vier Wochen lang und ging nicht aus. Einen Arzt wollte er nicht konsultiren. Wenn Cosette ihn deswegen mit Bitten bestürmte, sagte er:
»Rufe den Hundearzt!«
Cosette verband ihn des Morgens und Abends mit solcher engelhaften Bereitwilligkeit, so hocherfreut nützlich sein zu können, daß Jean Valjeans ehemalige Daseinsfreude wiederkehrte, seine Befürchtungen und Aengste sich zerstreuten. Oft rief er, während er Cosette zusah: »Wie wohl Einem solch eine Wunde thut!«
Nun ihr Vater krank war, hielt sich auch Cosette wieder weniger im Pavillon und mehr im Hinterhäuschen und auf dem Hofe auf. Fast den ganzen Tag brachte sie jetzt bei Jean Valjean zu und las ihm vor, in der Regel aus Reisebeschreibungen, seinen Lieblingsbüchern. Jean Valjean fühlte sich jetzt wie neugeboren; sein Glück strahlte wieder in neuem Glanze auf; der Luxemburger Garten, der verhaßte unbekannte junge Bummler, Cosettes Abkehr von ihm, kurz, all das Kummergewölk, das seine Seele verdüstert hatte, war verschwunden. Es kam so weit, daß er oft dachte: »Das habe ich alter Narr mir blos eingebildet!«
Diese Glücksempfindung war so stark, daß die gänzlich unerwartete Wiederbegegnung mit den Thénardiers nur einen schwachen Eindruck auf ihn machte. Daß es ihm gelungen war zu entkommen, seine Spur zu verwischen, war ja die Hauptsache. Im Uebrigen dachte er an die Elenden nur, um sie zu beklagen. Sie waren jetzt im Gefängniß und somit unschädlich gemacht, aber leider steckte nun wieder eine Familie mehr im tiefsten Elend!
Was die Galeerensklaven betrifft, so hatte Cosette ihrer gleichfalls keine Erwähnung mehr gethan.
Im Kloster hatte Cosette in der Musik und im Gesang von Schwester Sankta Mechtilda Unterricht empfangen. Ihre Stimme war lieblich, wie die einer Heidelerche, nur seelenvoller, und oft sang sie des Abends dem Verwundeten schwermüthige Lieder vor, die sein Herz erfreuten.
Der Frühling kam und der Garten war in dieser Jahreszeit so schön, daß Jean Valjean Cosette mahnte, sie solle ihre Spaziergänge darin wieder aufnehmen. »Wie Du willst, Papachen!« sagte sie.
Sie blieb im Garten meistentheils allein, denn Jean Valjean wagte sich, offenbar aus Furcht, von der Straße aus gesehen zu werden, fast nie hinein.
Jean Valjean's Wunde erwies sich als ein treffliches Ableitungsmittel für den Kummer Beider.
Als Cosette sah, daß ihres Vaters Krankheit abnahm, und daß er sich glücklicher fühlte, empfand sie eine Zufriedenheit, deren sie nicht einmal inne wurde; so allmählich und natürlich überkam sie dieses Gefühl. Zudem war man im Monat März, die Tage wurden länger und der Winter ging zu Ende, der Winter, der immer einen Theil unsrer Bekümmernisse mit sich nimmt; dann kam der April, die Morgenröthe des Sommers, kühl wie jeder Tagesanfang, heiter wie die Kindheit, wenn auch, als Neugeborner, etwas zum Weinen aufgelegt. Der Wiederschein des Frühlingslichtes, das in diesem Monat das Firmament, die Wolken, Bäume, Wiesen, Blumen bestrahlt, hellt auch das Menschenherz auf.
Cosette war noch zu jung, als daß die ihrem Wesen verwandte Lenzeslust sich ihr nicht hätte mittheilen sollen. Allmählich und ohne daß sie es merkte, wich die düstre Stimmung aus ihrem Gemüth. Im Frühjahr leuchtet helles Licht in das Herz hinein, wie am Mittag das Sonnenlicht in die Keller. Wenn Cosette gegen zehn Uhr Morgens, nach dem Frühstück, wenn es ihr geglückt war, ihren Vater auf ein Viertelstündchen in dem Garten zu schleppen, ihn vor der Freitreppe herumführte, indem sie seinen schlimmen Arm hielt, wurde sie es gar nicht gewahr, daß sie jeden Augenblick lachte und sich glücklich fühlte.
Von Freude berauscht, sah Jean Valjean, daß sie wieder rosig und munter auszusehen begann.
»Was solch eine böse Wunde doch für gute Folgen haben kann!« dachte er dann wieder und war den Thénardiers dankbar.
Endlich, nachdem der Arm geheilt war, nahm er seine einsamen Spaziergänge im Dämmerlicht wieder auf.
Es wäre aber ein Irrthum, wollte man glauben, man könne in der einsamen Umgegend von Paris in völliger Sicherheit spazieren gehen.
Eines unschönen Tages hatte der kleine Gavroche nichts zu essen und konnte sich auch nicht aus dem Sinn schlagen, daß er Tags zuvor auch nicht gespeist hatte. Die Sache wurde also nachgerade langweilig, und er faßte den Entschluß, das Versäumte noch am selben Tage nachzuholen. Zu diesem Zwecke streifte er jenseit der Salpêtrière herum, weil in öden Gegenden noch am meisten zu finden ist. Wo Niemand ist, da ist etwas. Auf diese Weise kam er in eine Ortschaft, die ihm das Dorf Austerlitz zu sein schien.
Hier war ihm bei einer früheren Expedition ein alter Garten aufgefallen, in dem ein alter Mann und eine alte Frau umgingen, und in dem Garten stand ein leidlicher Apfelbaum. Neben diesem Baum war ein schlecht verschlossener Obstkeller, aus dem man sich einen Apfel stibizen konnte. Aepfel aber genügen zum Abendessen. Was Adam zum Verderben ausschlug, konnte unserm Gavroche zum Heil gereichen. An dem Garten zog sich eine ungepflasterte Gasse entlang, die an dieser Stelle mit Gesträuch eingefaßt und von jenem nur durch eine Hecke getrennt war.
Gavroche marschirte also auf den Garten los, fand die eingepflasterte Gasse, erkannte den Apfelbaum und den Obstkeller. Ein Blick auf die Hecke überzeugte ihn, daß es ihm ein Leichtes sein werde, hinüber zu kommen. Schon schickte er sich dazu an, als er auf der andern Seite sprechen hörte, und inne hielt, um erst durch ein Loch in der Hecke hindurch zu sehen.
Zwei Schritte von ihm, auf der andern Seite der Hecke, gerade an der Stelle, wo er durchbrechen wollte, lag ein Stein, auf dem der bejahrte Insasse des Gartens saß, und vor ihm stand die alte Frau, die nicht gut aufgeräumt schien. Ohne die geringste Rücksicht auf die Regeln des guten Tons behorchte Gavroche das Gespräch der Beiden.
»Der Wirt ist unzufrieden,« brummte die Alte.
»Warum?«
»Weil wir ihm die Miethe für drei Vierteljahre schuldig geblieben sind.«
»In drei Monaten werden's vier Vierteljahre.«
»Er sagt, er wird Sie an die Luft setzen.«
»Dann werde ich wohl ausziehen müssen.«
»Die Grünkramhändlerin verlangt auch ihr Geld. Sie giebt mir kein Holz mehr. Womit soll ich diesen Winter Ihren Ofen heizen, Herr Mabeuf?«
»Wozu scheint denn die liebe Sonne?«
»Der Schlächter giebt auch keinen Kredit mehr.«
»Das trifft sich ja ganz gut. Ich kann Fleisch so wie so nicht vertragen.«
»Was sollen wir denn aber essen?«
»Brod.«
»Der Bäcker verlangt aber eine Abschlagszahlung. Kein Geld, kein Brod!« meinte er.
»Gut.«
»Was wollen Sie essen?«
»Wir haben ja den Apfelbaum.«
»Aber, Herr Mabeuf, man kann doch nicht so ganz ohne Geld leben.«
»Ich habe keins.«
Nun ging die Alte und der Greis blieb allein. Er war nachdenklich, und Gavroche fing auch an zu sinnieren. Mittlerweile war es dunkel geworden.
Das erste Ergebniß von Gavroche's Ueberlegungen war, daß er sich, statt über die Hecke hinüberzusteigen, darunter niederkauerte. Die Zweige ließen nämlich unten einen kleinen Raum frei.
»I, das ist ja wie ein Alkowen!« rief Gavroche innerlich aus und setzt sich hin. Er war hier der Steinbank so nahe, daß er den alten Mann athmen hörte.
Um sich nun den Hunger zu vertreiben, versuchte er zu schlafen.
Es war aber nur ein Katzenschlummer. Gavroche machte nicht einmal die Augen ganz zu und beobachtete, was um ihn vorging.
Der Abendhimmel sandte einen weißen Lichtschimmer auf die Erde und die Gasse zeichnete sich als ein fahler Streifen von dem dunklen Gesträuch ab, das sich an beiden Seiten entlang zog.
Plötzlich erschienen auf diesem hellen Streifen zwei Schatten von menschlichen Gestalten. Der Eine ging voran, der Andre folgte in einer gewissen Entfernung.
»Hm!« dachte Gavroche.
Der Erste war ein vom Alter gebeugter, überaus einfach gekleideter Greis, der nachdenklich beim Sternenlicht spazieren ging.
Der Zweite, eine kräftige, schlanke Erscheinung, paßte seine Schritte denen des Ersten an; aber bei all seiner absichtlichen Langsamkeit merkte man ihm Gelenkigkeit und Hurtigkeit an. So unheimlich ferner sein Gebaren auch war, so gehörte er doch zu der Klasse der damaligen Gigerl. Sein Hut wies eine elegante Form auf; der schwarze Rock war kunstgerecht zugeschnitten, wahrscheinlich auch aus feinem Tuch und eng in der Taille. Die Haltung des Kopfes deutete auf eine gewisse Anmuth und Kraft; und unter dem Hut leuchtete ein blasses Jünglingsprofil hervor, das eine Rose im Mund hielt. Gavroche erkannte in ihm den Banditen Montparnasse und beobachtete alsbald die Beiden mit verdoppeltem Interesse. Offenbar folgte Montparnasse dem Alten mit heimtückischen Absichten und Gavroche war in der Lage alles mit anzusehen, ohne selber gesehen zu werden.
Das Herz wendete sich ihm im Leibe um, so leid that ihm der harmlose, alte Mann. Aber was thun? Ihm zu Hülfe kommen? Ein Schwächling einem andern? Montparnasse hätte blos gelacht. Gavroche verhehlte sich nicht, daß für den furchtbaren, achtzehnjährigen Raubmörder er und der Alte nur ein Frühstück sein würden.
Während er noch hin und her sann, erfolgte, rasch und fürchterlich, der erwartete Angriff. Im Handumdrehen ließ Montparnasse die Rose fallen, stürzte sich auf den Alten, faßte ihn beim Kragen und klammerte sich an ihn. Gavroche hatte Mühe einen Schreckensschrei zu unterdrücken. Einen Augenblick darauf lag der Eine unter dem Andern, überwältigt, stöhnend, sich krümmend, die Brust unter einem marmorfesten Knie. Aber Gavroche's Ahnungen waren doch nicht ganz eingetroffen. Der unten lag, war Montparnasse, und auf ihm kniete der harmlose Spaziergänger.
Der Kampfplatz war nur einige Schritte von Gavroche's Versteck entfernt.
Der Alte hatte den Stoß ausgehalten und ihn so energisch erwiedert, daß der Angreifer und der Angegriffene ihre Rollen gewechselt hatten.
»Ist das ein strammer Trottel!« dachte Gavroche.
Er konnte sich nicht enthalten, Beifall zu klatschen. Aber umsonst. Die Kämpfer waren Einer zu sehr von dem Andern in Anspruch genommen, als daß sie ihn hätten hören können.
Bald trat Stille ein. Montparnasse hörte auf, sich zu vertheidigen und Gavroche dachte einen Augenblick: »Sollte er tot sein?«
Der Alte hatte noch kein Wort gesprochen, keinen Schrei verlauten lassen. Jetzt aber richtete er sich vom Boden auf und sagte zu Montparnasse:
»Steh auf!«
Montparnasse stand auf, aber sein Gegner hielt ihn fest. Seine gedemüthigte und wüthende Haltung glich der eines Wolfes, den ein Hammel gebissen hat.
Gavroche strengte Augen und Ohren an, damit ihm vor dem Schauspiel, das ihn köstlich amüsirte, nichts entginge.
Seine uneigennützige Begeisterung für die gute Sache fand auch ihren Lohn, denn er konnte Zeuge eines tiefernsten Gespräches sein.
»Wie alt bist Du?« fragte der Sieger.
»Neunzehn Jahr.«
»Du bist stark und gesund. Warum arbeitest Du nicht?«
»Weil mir die Arbeit sehr öde vorkommt.«
»Hast Du ein Handwerk gelernt?«
»Ja. Das Faulenzen.«
»Laß die schlechten Witze und sei vernünftig. Kann man etwas für Dich thun? Was willst Du werden?«
»Spitzbube.«
Nun trat Stillschweigen ein. Der Alte sah sehr nachdenklich aus. Er stand regungslos da, ließ aber Montparnasse nicht los.
Von Zeit zu Zeit nahm der gewandte junge Bandit, unvermuthet, wie ein in der Falle gefangenes Thier, den Kampf wieder auf. Er that einen heftigen Ruck, stieß nach seinem Gegner mit den Beinen, und krümmte sich wild nach allen Seiten hin, um sich loszureißen. Der Alte benahm sich dabei aber, als merkte er nichts, und hielt ihm beide Arme mit einer Hand so ruhig fest, wie dies nur dem sichern Bewußtsein der höchsten Kraft möglich ist.
Es dauerte eine Weile, bis der Alte mit seinen Gedanken fertig wurde; dann begann er mit sanfter Stimme, die Augen fest auf Montparnasse gerichtet, eine feierliche Ermahnungsrede, von der Gavroche keine Silbe verlor:
»Mein Sohn, Du stehst im Begriff Dir durch Deine Trägheit ein mühevolles Dasein zu schaffen. Also Du erklärst Dich für einen Faulpelz? Dann mache Dich auf schwere Arbeit gefaßt. Sag' mal, Du kennst doch gewisse Maschinen, die Einen nicht wieder loslassen, wenn sie Einen auch nur beim Rockzipfel zu fassen bekommen. Solch eine heimtückische erbarmungslose Maschine ist auch die Trägheit. Kehre um, ehe es zu spät ist! Thust Du's nicht, so wird Dich die eiserne Hand der unerbittlichen Arbeit packen und dann ist's mit aller Ruhe für immer vorbei. Dein Brod verdienen, in einem ehrlichen Berufe Deine Schuldigkeit thun wie andre Menschen willst Du nicht; magst nicht sein wie Andere. Nun, dann wird Dir auch ein anderes Loos zu Theil werden. Aber wohlbemerkt kein arbeitsloses! Die Arbeit ist eine Naturnothwendigkeit; wer sie abweist, weil sie ihn anödet, zu dem kommt sie in der Gestalt der Strafe zurück. Willst Du nicht als Handwerker, so wirst Du dann als Sklave arbeiten. Loslassen wird die Arbeit Dich auf keinen Fall. Magst Du sie nicht zur Freundin haben, so wirst Du ihr als Neger frohnden. Du liebst nicht die ehrenhafte Müdigkeit der anständigen Menschen? Gut. So wirst Du einst wie die Verdammten in der Hölle schwitzen. Wo Andere singen, wirst Du stöhnen. Du wirst von ferne, aus der Tiefe des Abgrunds, die Andern arbeiten sehen; und es wird Dir vorkommen, als sei das eine Erholung, eine Freude, eine Belustigung. Der Pflüger, der Schnitter, der Matrose, der Schmied werden in Deinen Augen so beneidenswert sein, wie die Seligen, die im Licht des Paradieses wandeln. Du Faulpelz dagegen wirst dann ächzen, wie ein Lastthier. Also das Nichtsthun ist Dein Ideal? Nun, so merke Dir: Nicht eine Woche, nicht einen Tag, nicht eine Stunde wirst Du verleben, ohne Dich aufs äußerste schinden und plagen zu müssen. Dinge, die für Andere kinderleicht sind, wirst Du nur mit Aufbietung aller Deiner Kräfte zu Stande bringen. Der erste Beste, der aus seinem Hause gehen will, macht einfach die Thür auf und ist draußen. Willst Du ins Freie, so mußt Du Dir einen Weg durch Wände und Mauern bahnen. Was thut man, wenn man auf die Straße hinuntergehen will? Man steigt die Treppe hinab. Du dagegen wirst Deine Bettlaken zerreißen, Dir mühevoll einen Strick daraus drehen, dann zum Fenster hinausklettern, über einer fürchterlichen unbekannten Tiefe schweben, bei Nacht, bei Sturm und Regen, und ist Dein Strick zu kurz, so wirst Du nur noch eine Möglichkeit haben hinunter zu kommen: Du wirst Dich hinabfallen lassen, aufs Gerathewohl, aus jeder beliebigen Höhe. Oder Du wirst in ein Kamin und zum Schornstein hinauskriechen, auf die Gefahr hin durch den Rauch und die Flammen umzukommen. Oder Du wirst durch ein Latrinenrohr kriechen, wo Du elendiglich ersäuft werden kannst. Der Gänge zu geschweigen, die Du in der Wand anlegen wirst, der Steine, die Du zwanzig Mal des Tages herausnehmen und wieder hineinlegen, des Kalks, den Du unter Deinem Strohsack verstecken wirst. Gilt es ein Schloß zu öffnen, so hat der gewöhnliche Mensch einen von dem Schlosser verfertigten Schlüssel. Willst Du durch die Thür, so wirst Du verdammt sein, erst ein grauenvoll mühsames Kunstwerk zu Stande zu bringen. Du wirst einen Sou in zwei Hälften zerschneiden. Womit und wie? Das tiftle Du Dir dann gefälligst selber aus und verschaffe Dir, was Du dazu brauchst. Dann mußt Du die beiden Hälften aushöhlen, ein Schraubengewinde ausbohren, eine Säge in der Höhlung verbergen. Denn das Ganze muß so aussehen, wie ein gewöhnliches Geldstück, damit die Gefängnißwärter nichts merken. Mit der Säge mußt Du dann Deine Kette, die Thürriegel, die Fenstergitter durchsägen. Wenn es Dir aber nicht glückt zu entspringen, wenn es herauskommt, daß Du dies Wunderwerk von Geduld und Fleiß zu Stande gebracht hast, weißt Du, welchen Lohn Du dafür empfangen wirst? In die Einzelzelle werden sie Dich sperren. So, lieber Freund, sieht die Zukunft aus, die Dir bevorsteht. Nichts verderblicheres, als der Müßiggang und die Vergnügungssucht! Das Nichtsthun ist ein gefährlicher Beruf, kann ich Dir sagen! Auf Kosten Anderer leben, der Menschheit nichts nützen, ihr also schaden, führt gerades Wegs in den Abgrund des grausigsten Elends. Wehe dem, der die Rolle des Schmarotzers spielen will! Er wird bald als Ungeziefer herumkriechen. Also es beliebt Dir nicht zu arbeiten? Du dichtest und trachtest nur danach gut zu essen, zu trinken, gemächlich zu schlafen? Lieber Freund, Du wirst Wasser trinken, schlechtes Schwarzbrod essen, in eisernen Ketten schlafen, deren Kälte Du an Deinem Leibe spüren wirst. Du wirst Dich aber der Kette entledigen, wirst aus dem Gefängniß ausbrechen? Gut. Dann wirst Du auf dem Bauch durch das Gestrüpp kriechen und Gras essen, wie das Vieh im Walde. Und dann werden sie Dich wieder einfangen und Dich auf Jahre in einem Verließ an eine Mauer anschmieden. Da wirst Du in tiefer Finsterniß nach Deinem Wasserkrug tappen, gierig nach einem Stück abscheulichen Brod langen, das kein Hund berühren würde, Dich an Saubohnen delektiren, von denen Dir die Würmer vorher das Beste weggefressen haben. So erbarme Dich doch Deiner selbst, Du Unglücklicher, der Du noch am Anfang des Lebens stehst und vielleicht noch eine Mutter hast. Beherzige, was ich Dir sage! Du willst feines schwarzes Tuch, Lackschuhe tragen, Dir die Haare brennen lassen, Dir die Locken mit duftigem Oel salben, den Dirnen gefallen, hübsch sein? Statt dessen werden sie Dir den Kopf bis auf die Haut scheren, Dir eine rothe Jacke und Pantinen anziehn. Statt goldener Ringe an den Fingern wirst Du ein viereckiges Eisen am Hals tragen. Und wenn Du ein Frauenzimmer ansiehst, wird's Stockschläge setzen. Wenn Du dorthin kommst, wirst Du gesund und munter sein, rothe Backen, helle Augen, weiße Zähne, üppiges Haar haben. Alt, hinfällig, runzlig, verhutzelt, zahnlos, mit weißen Haaren wirst Du wieder herauskommen. Armer Junge, Du bist auf einem Irrweg, Deine Arbeitsscheu ist eine schlechte Rathgeberin. Glaube mir, es giebt keine schwerere Arbeit, als den Diebstahl, keine so mühselige, als das Nichtsthun. Die Hallunken haben's schwerer auf der Welt als die ehrlichen Leute. Jetzt geh und überlege Dir, was ich Dir gesagt habe. Beiläufig gesagt, was wolltest Du vorhin von mir? Meine Börse? Da hast Du sie!«
Mit diesen Worten ließ er Montparnasse los und gab ihm seine Börse, die der Räuber in der Hand wog, um sie dann mit derselben mechanischen Vorsicht, als hätte er sie gestohlen, in die Hintertasche seines Rockes gleiten zu lassen.
Hierauf wandte der Alte ihm den Rücken und setzte ruhig seinen Spaziergang wieder fort.
»Alter Stiesel!« schimpfte leise Montparnasse.
Wer der Alte war, wird der Leser ja wohl errathen haben.
Verblüfft schaute ihm Montparnasse nach, bis er in der Dämmerung verschwunden war.
Diese Zerstreutheit brachte ihm aber Schaden, denn während der Alte sich entfernte, schlich sich Gavroche heran.
Nachdem er sich nämlich vergewissert hatte, daß Vater Mabeuf vielleicht schlief, jedenfalls aber noch auf der Bank saß, kam der Junge aus dem Gebüsch hervor und kroch im Schatten auf den regungslosen Montparnasse zu. Er gelangte auch, ohne von ihm gesehen oder gehört zu werden, dicht an ihn heran; ließ sacht die Hand in die hintere Rocktasche des Strolches gleiten, zog sie wieder heraus und kroch in der Dunkelheit leicht wie eine Schlange davon. Montparnasse, der keine Veranlassung hatte, auf seiner Hut zu sein, und zum ersten Mal in seinem Leben nachdenklich gestimmt war, merkte nichts. Gavroche aber ging an die Stelle zurück, wo Vater Mabeuf saß, warf die Börse über die Hecke und rannte spornstreichs davon.
Die Börse fiel dem Alten auf den Fuß und weckte ihn. Er bückte sich, langte sie vom Boden auf und begriff nicht, was das bedeuten sollte, dann machte er sie auf und fand in dem einen Abtheil etwas kleines Geld, in dem andern sechs Napoleond'or.
Ganz außer sich vor Verwunderung brachte er das Ding seiner Wirtschafterin.
»Das sendet der Himmel!« meinte Mutter Plutarque.