Rudolf Huch
Wilhelm Brinkmeyers Abenteuer
Rudolf Huch

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Das achtzehnte Kapitel

Enthält philosophische Theorien, berichtet auch, wie ich in mißliche Verhältnisse geriet

Da ich heute mit einem Gottseidank daß dies Kapitel überstanden ist ein neues beginne, das doch, in der Nähe gesehen, auch wieder aus eitel Mühe und Sorge bestehen wird, fällt es mir aufs Herz, wie diese letzte Arbeit meines Lebens ein getreues Gleichniß aller vergangenen ist. Ist es denn etwa je anders verteilt gewesen, als daß mir das Eggen, Pflügen und Düngen zuteil geworden ist, andern Leuten aber das Ernten? So nun werden die flachen Geister, aus denen die Welt von heute ganz und gar besteht, diese meine schmerzensreichen Lebenserinnerungen, insonderheit aber das letzte Kapitel mit seinem Grauen, voller Wohlbehagen in sich aufnehmen, wie ich heute mittag, als eine geringe und sauer verdiente Belohnung, eine Artischockensuppe, ein kleines Fasänlein und ein Gläschen Château rose de la Biche zu genießen hoffe, und sich der Tatsache getrösten, daß er, der diese schauerliche Nacht hat müssen durchleben, sie doch eben durchlebt hat und heute, 255 nämlich da sie dies lesen, nicht etwa in der Tiefe unter den Höllengeistern sitzt, sondern, wenn anders die ewige Gerechtigkeit nicht etwa als eine bloße Legende sollte erfunden werden, oben bei den lieben Engeln.

Was es mir gekostet hat, die schauerliche Nacht aus der Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen, erhellt wenigstens einigermaßen daraus, daß ich diese letzte Nacht wieder in Abdeckers Zimmer gesessen und gewartet habe, was sich begeben würde. Welches Warten um so grauenvoller war, als ich wußte, daß ich einen Strauß mit einem toten Raubmörder würde zu bestehen haben, ohne daß mir der Ausgang bekannt gewesen wäre.

Nun wird wohl dieser und jener bemerken: um so herrlicher war ja nachher das Erwachen!

Der so redet, hat keine Ahnung, wie es in einem altsächsischen Herzen aussieht. Der erste Augenblick des Erwachens war freilich erfüllt von der Freude: es war nur ein Traum. Der zweite aber war wiederum ein Erwachen, und zwar ein böses, nämlich aus der trüglichen Freude zu der Einsicht: es ist ja aber doch wahr!

Um es denn rund herauszusagen: Die Wunde, daß ich ehrlicher Bauernsohn an Abdeckers Tische gesessen und mit ihm getrunken habe, die im Laufe der letzten Jahrzehnte so ziemlich vernarbt schien, brennt heute wieder, als wäre sie keine acht Tage alt.

Weiß wohl, daß mancher Leser, am Ende gar die große Mehrzahl, in heller Freude über die 256 eigene Pfiffigkeit rufen wird: Dieser Brinkmeyer ist ein Fuchs, aber mich führt er nicht hinters Licht! Er bezichtigt sich einer Missetat, die keine ist, und erregt darob einen gewaltigen Dunst von Worten, auf daß seine wahren Missetaten dahinter verschwinden!

Mögen diese Leute auch die überwiegende, mögen sie die erdrückende Mehrheit unter meinen Lesern bilden, sie sollen mir gewogen bleiben. Oder auch nicht gewogen. Ganz wie es ihnen paßt. Die Männer, an deren Meinung mir in Wahrheit allein gelegen ist, fühlen wie ich, und dies ist die einzige Stelle in meinen Erinnerungen, wo ich mich in Gefahr weiß, ihre Achtung zu verlieren.

Freilich, wenn ich diesem Gedanken weiter nachhänge, fühl ich mich stark in Versuchung, jählings abzubrechen, die Handschrift in den Ofen zu stecken und mich hinfüro einem sauer verdienten otio cum dignitate hinzugeben. Denn wo sind heute noch solche Männer, wie ich sie mir zu Lesern wünsche? Wieviele von den wenigen, die es noch gibt, werden dies lesen? Sind nicht die wackersten von allen, die echtesten unter den echten, Leute solchen Schlages, daß sie keine Bücher lesen?

Aber dies ist auch wieder nur die alte Anfechtung, der ich noch immer Herr geworden bin, als wäre all mein Tun in dieser Welt ohne Segen und unersprießlich. Will ihrer auch diesmal Herr werden, indem ich verkünde: und wenn auch nur ein echter Altsachse diese meine 257 Lebensbeichte vernimmt, hab ich nicht umsonst geschrieben.

Zwar hab ich, um auch das auszusprechen, eben dies bedenkliche Abenteuer schon einmal einem ganz Echten unterbreitet. War ein Altenteiler, der keinen Zahn mehr sein eigen nannte und dem die Augen trieften. Aber was ihm an äußerer Schönheit abging, ersetzte er durch Weisheit.

Der nun hielt seine Pfeife zwischen den Lippen und ließ mich erzählen und schwieg. Wie ich aber zu Ende war, schwiegen wir selbander wohl dreißig Minuten. Da tat er den Mund auf und sagte: Bi'n Afdecker?

Als ich nun das der Wahrheit gemäß nochmals bestätigt hatte, fielen wir wieder in Schweigen und schwiegen selbander wohl eine halbe Stunde. Da tat er abermals den Mund auf und sagte: 't is doch eine gefährliche Geschichte, is et doch.

Hierauf haben wir selbander geschwiegen, bis es so weit war, daß wir uns gute Nacht sagten.

Hat nicht mehr lange gedauert, da haben sie ihn in sein Kistlein gelegt und ich habe nicht erfahren, ob der weltkundige Greis meinen Besuch bei dem Abdecker für entschuldbar gehalten hat oder nicht.

Wenn nun einer wie der, nur daß er grade keine Triefaugen zu haben braucht, bis hierher gelesen hat und zaudert, ob er den Stab über mich brechen soll oder nicht, so habe ich diesem 258 würdigen Manne das folgende zu unterbreiten, wobei ich meine andern Leser auf das inständigste bitte, sie wollen, zu ihrem eigenen Vorteil, diese Stelle überschlagen. Sollten sie, damit es ein Abmachen sei, bei der Gelegenheit gleich ein für allemal das ganze Buch zuklappen, so sag ich ihnen ein herzliches Lebewohl; denn reisend Leut' soll keiner aufhalten.

Es ist euch, Herr Volksgenosse, gewiß lieb und angenehm, zu erfahren, daß die Eigenschaften, die wir beide vornehmlich an den Männern schätzen, unsern Altvordern von Urzeiten her eigentümlich sind.

Da das Volk der Sachsen nämlich, vor rund anderthalb Jahrtausenden, im Thüringenschen auftauchte, verbreitete sich ein gewaltiger Schrecken wegen seiner kriegerischen Stärke und Tapferkeit, zugleich aber ein kaum weniger großes Erstaunen ob ingentem quietatem, auf deutsch: wegen seiner ungeheuren Ruhe.

Es stände uns, werter Volksgenosse, nicht wohl zu Gesichte, wollten wir etwa, wie es die Greise bei dem soviel gepriesenen und in Wahrheit so geschwätzigen Volke der Griechen scheinen geliebt zu haben, uns der kriegerischen Taten unsrer Jugend- und Mannesjahre berühmen.

Was aber, lieber Volksgenosse, die stete Bewahrung der männlichen Ruhe anbetrifft, so bitte ich, ihr wollet diese meine Beichte einer unparteiischen und strengen Prüfung unterziehen, und weiter sage ich nichts.

259 Einmal aber, das bekenne ich frei, hab ich meine Besonnenheit ganz und gar eingebüßt, und das war der Tag, der mit der Einkehr bei dem Abdecker endete. Ehe ihr aber den Stab über mir zerbrecht, hochverehrter Volksgenosse, prüft euch auf Herz und Nieren, ob euch einmal das Fieber der Liebe angefallen hat. Ist das der Fall, so wollen wir uns die Hand reichen und einander die gebührende Teilnahme ausdrücken. Ist es aber nicht, so seid im stillen vergnügt und redet nicht über eine Sache, von der ihr nichts versteht. In beiden Fällen aber füge ich hinzu: ihr habt Uranien damals nicht gesehen.

Zu ihrer Schönheit kam nun auch das Bewußtsein, daß sie mich wirklich lieb hatte. Ich hatte ja doch weder Geld noch Stellung, und als wir uns nach meiner Soldatenzeit wiederfanden, war ich sogar in einigermaßen wüsten Verhältnissen.

Noch dazu hatt ich sie, als mir damals die Erbschaft bis auf weiteres in blauen Dunst entrückt war und ich von der Schule relegiert werden sollte, auch die Gläubiger mich übel bedrängten, in meiner desperaten Verfassung knall und fall sitzen lassen, indem ich ohne Abschied bei Nacht und Nebel aus der Stadt entwichen war.

Als wir uns nun wieder fanden, war sie an dem Kurtheater, das als solches nichts taugte, die erste Liebhaberin. Sie war freilich immer noch eine elende Schauspielerin, aber, wie 260 gesagt, noch schöner geworden, brauchte also nur die Hand auszustrecken, und hatte an jedem Finger ihren vornehmen und reichen Liebhaber.

Trotz alledem wählte sie mich ohne Besinnen, hatte kein Wort des Vorwurfes und blieb mir treu, solange wir beisammen waren.

Was sie und andre Frauenzimmer eigentlich an mir gefunden haben, das ist mir, um aufrichtig zu sein, rätselhaft. Geredet haben sie immer von meinen Augen. Kann auch sein, daß ihnen meine Körperkraft imponiert hat.

Ich habe nun nie zu den Gesellen gehört, die nur noch heißer lieben, wenn sie launisch oder gar abweisend behandelt werden. Sondern wenn eine das versuchte, hab ich mich kurz und bündig abgewandt, was dann wohl, sehr zu meiner Ueberraschung, eine gründliche Wandlung in dem Benehmen des Frauenzimmers bewirkt hat.

Sollt ich aber wirklich mit meinem ganzen Menschen in Liebe sein, so mußt ich wissen, daß ich wieder geliebt wurde. Bedenkt man nun, daß ich mit einem einzigen Donnerschlage aus dem Himmel auf Erden gestürzt war, so wird man mich ehrlicherweise für das, was in den nächsten vierundzwanzig Stunden geschah, nicht wollen verantwortlich machen.

Wohlauf also, edelster Volksgenosse, gießen wir gemeinsam die Schale unsers Zornes über dem schuldigen Haupte aus, dem wir, alles wohl erwogen, auch meinen Besuch bei dem Abdecker 261 müssen auf das Schuldkonto kreiden, über Barbarossa.

Hätte der nämlich unser Deutschland nicht mit seiner Politik der Neuerungen überzogen, so würde solches Gesindel wie Zirkusclowns auch heute noch, wie es sich gehört, als unehrlich angesehen. Was dabei herauskommt, wenn dies Volk auf die menschliche Gesellschaft losgelassen wird und sich gar in einer vornehmen Fremdenvilla einmieten darf, darüber ist man ja durch den ehrenwerten Mister Hops dermaßen belehrt worden, daß kein Mann von Empfindung und Charakter weitere Beweise verlangen wird.

Da wir nun einmal beim Philosophieren sind: gewiß wird es manchem sonderbar und fast unglaubhaft erscheinen, daß mich meine Kräfte genau in dem Augenblicke verließen, wo ich mich gerettet wußte, während ich bis dahin wacker geblieben war.

Denen erwidre ich in aller Höflichkeit: So war es und nicht anders; tut mir herzlich leid, daß Ihr nicht könnt die Probe auf das Exempel machen und mein Abenteuer nacherleben.

Ob und wie der Fall zu erklären sein mag, soll mich nicht kümmern. Mögen sich die Herren an dieser Nuß die Zähne zerbeißen, die des Glaubens leben, daß man des Menschen Seele könnte wie seinen Kadaver auf das Sezierbrett legen.

Der Jägersmann, der mich nun da am Wege liegen fand, rief mich an, schüttelte mich und versuchte zu erkunden, wer, was und wieso. Ich 262 brachte aber kein deutliches Wort heraus und verlangte nach nichts weiter in der Welt als nach Ruhe. Er hatte einen kräftigen Korn bei sich, davon gab er mir zu trinken. Da ich hiernach Hunger verspürte, gab er mir ein Schwarzbrot mit Leberwurst. Das verlieh dem Körper wieder so viel Kraft, daß ich gehen konnte. War aber des Daseins überdrüssig, denn wohin mich auch das Leben führen würde, mußt ich es mit mir schleppen, daß ich hatte mit dem Abdecker Kameradschaft gemacht. Glaubte, ich würde keine frohe Minute mehr haben, vor Angst, daß ich mich verraten könnte oder daß es die Leute sonst irgendwie erfahren könnten.

Erzählte also meinem Jägersmann, ich hätte mich im Walde verlaufen und die Nacht kampiert, sagte schönen Dank und ging weiter nach der Stadt zu.

Die Füße waren mir wie Blei. Mag mich wohl eine Stunde so fortgeschleppt haben, da sank ich wiederum neben dem Wege nieder und fiel in Schlaf.

Als ich aufwachte, dunkelte es. Vor mir, aber noch in weiter Ferne, lag die Stadt. Der Weg führte durch kein Dorf und ich sah, daß ich an dem Friedhofe vorbei mußte. Da packte mich ein Grauen, ich möchte bei meinem elenden Zustande so langsam vorwärts kommen, daß ich zu der Geisterstunde noch draußen wäre und also abermals eine Begegnung mit dem toten Raubmörder würde zu bestehen haben. Wobei es mir sehr zweifelhaft war, ob es nach den Gesetzen 263 des unbekannten Reiches möglich sei, zwei Nächte hintereinander einen verklärten Geist aus den himmlischen Gefilden in den Erdenstaub zur Hilfe zu rufen.

Raffte mithin alle meine Kräfte zusammen. So oft der Drang, hinzusinken und einzuschlafen, die Macht über mich gewinnen wollte, mahnte ich mich, daß mich aus diesem Schlafe kein andrer aufwecken würde, als der Besuch von der vorigen Nacht. Konnte nicht schon diese rätselhafte Schlafsucht, die ich nie gekannt hatte, eine Vorkehrung von höllischen Geistern sein? Auch das plötzliche Verstummen des wutschäumenden Abdeckers ging mir im Kopfe herum.

Zuletzt war ich aber zu müde, um mich zu ängstigen. Setzte stumpfsinnig einen Fuß vor den andern, und war mir nicht mehr bewußt, ob ich in der Wirklichkeit die fremde Straße fürbaß ging, oder im Traum.

So hatt ich es denn auch nicht acht, daß ich aus der Dunkelheit in den Bereich von Straßenlaternen gekommen war.

Als ich nun über einer Haustür eine rote Laterne sah, mit der Inschrift Hotel zum roten Affen, ging ich da hinein und dachte, wenn ich nur ein leidliches Bett bekäme, so wäre ich im siebenten Himmel.

Aber wenn ich im Leben gedacht habe, nun hätt ich's endlich mal gut, so mochte das noch so bescheiden sein und noch so sauer verdient, es gab einen gottverfluchten Kobold, der jedesmal Schindluder mit mir spielte. Wenn ich 264 den dermaleinst da drüben sollte zu packen kriegen, der kann sich auf was gefaßt machen!

Das Bett sollt ich haben, und das auf eine weit längere Zeit, als ich irgend gedacht hatte; aber mit der wohligen Ruhe, die ich mir so köstlich ausmalte, wurde es nichts.

Es fiel mir auf, daß ich auf dem Flur keine Menschenseele fand, die einen zurechtgewiesen hätte. Das ist ein merkwürdiges Hotel, dacht ich, war aber zu müde, um weiter zu gehen und ein andres zu suchen.

Da nun in einem Zimmer auf einem Klavier herumgeklimpert wurde, trat ich da hinein. War auch richtig ein Gastzimmer oder vielmehr ein Saal, denn es standen lauter einzelne Tische mit Stühlen da. Saß aber niemand darauf. Es brannte nur eine Gasflamme und der Saal war im Halbdunkel. Hinten war eine Art Podium, auf dem einige Blattgewächse standen, sowie ein Klavier. An diesem saß ein Frauenzimmer und ein andres stand daneben. Sonst war niemand zu sehen.

Die beiden sagten nichts und starrten mich an. Das sind die Kellnerinnen, dacht ich mir. Schienen mir aber schlecht gedrillt zu sein.

Sagte ihnen guten Abend, und ob ich hier wohl ein Abendessen mit einer Flasche Wein und ein Nachtlogis haben könnte.

Kaum hatte ich das gesagt, so jauchzten die beiden Weiber wie die Walküren. Das ist ja schön, dacht ich, daß sie sich so über den Besuch freuen.

265 Als sie sich ausgejauchzt hatten, liefen sie davon. Ich setzte mich an einen der Tische und wartete. Ging mir ein Rad im Kopf herum, dermaßen, daß sich die Tische um mich drehten, immer schneller und schneller. Es waren rote Decken drauf gelegt, wie sie in geringen Gasthäusern auch heute noch Mode sind. Das viele Rot war mir unangenehm.

Das eine der beiden Weibsbilder kommt wieder, bringt eine Flasche Wein und zwei Gläser, stellt das auf den Tisch, setzt sich hin, schenkt ein und sagt: Prost, Kleiner, bist ein wonniges Kerlchen!

Da begriff ich endlich, was ich mit klarem Kopfe sofort begriffen hätte, daß ich nicht in ein bürgerliches Gasthaus geraten war, sondern in ein solches, wie es der ehrbare Bürger meidet, es sei denn, daß er auf Reisen sei.

Wenn man bedenkt, daß ich noch vor zwei Tagen eine Urania im Arm gehalten hatte, wird man mir ja wohl ohne weiteres glauben, daß diese sogenannten Freuden für mich wahrlich keine Versuchung waren.

Das Weibsbild blinzelt mich an und sagt: Hast keinen Durst mehr, Kleiner? Machst ja so glühende Augen?

Ich denke, was sollst du dich in Ungelegenheit setzen, reißt ein paar Späße mit der Person, wie sie nach ihrem Geschmack sind, bezahlst deinen Wein und gehst weiter.

Hast's nur halb getroffen, sag ich. Brennen tut's bei mir, aber wo, das ist der Kasus!

266 Das Weib kreischt wie besessen, rückt an mich heran und schreit: Was das für'n großer Verbrecher ist, der süße Kleine! Dabei stößt sie mich mit dem Knie und ich sehe, das ist nur die Einleitung zu ganz andern Zärtlichkeiten.

Da mir das Mensch ganz widerwärtig war, goß ich rasch mein Glas Wein herunter; denn mir wurde übel.

Nun weiß ich nicht, ob das heute anders ist. Wer damals in derlei Häusern Wein trank, dem wurde für schweres Geld ein solches Schandgesöff kredenzt, daß man zu weniger irregeleiteten Zeitläuften die Schufte, die so was zusammenbrauen, gleich überführten Giftmischern würde um einen Kopf kürzer machen.

Wie dieser Höllentrank in meinen Magen gerutscht ist, dem für heute an Speise nichts war zu verarbeiten gegeben als ein Brot mit Leberwurst, und für gestern nichts als das Morgenbrot und die paar heruntergewürgten Bissen bei dem Abdecker, da findet er natürlich den Boden wie mit Fleiß für seinen Teufelsunfug vorbereitet. Das Rad, das sich fort und fort in meinem Hirn gedreht hatte, raste dermaßen, daß ich dachte, es wollte mir den Schädel auseinandersprengen. Zugleich erfaßte mich ein Grimm, ich wußte nicht, weshalb.

Was hast auf einmal, Kleiner, fragt das Weib. Ich sage: Nimm die rote Decke weg! Sie weiß nicht, was sie tun und reden soll. Die Wut wird immer toller in mir. Ich donnere: Nimm das Rot weg, du Mensch! Sie springt 267 auf, läuft von mir weg und kreischt. Ich reiße das Tuch herunter, daß Wein und Gläser zu Boden rasseln. Das Weib schreit um Hülfe. Kerls und Weiber kommen gelaufen, trauen sich aber nicht an mich.

Hör ich eine Weiberstimme: O Jemine, der Herr Primaner und Oberabiturient! Wahrhaftig ist's die Jolanthe, und das alte Schaf ist ganz selig über das Wiedersehen.

Schoß es mir durchs Hirn, daß ich damals die Primanermütze getragen hatte, und wie es jetzt um mich bestellt war. Mußte wen haben, dem ich die Schuld gab. Weil das Urania nicht sein sollte, brüllt ich Jolanthe an: Ja, du Scheusal, der Herr Oberprimaner! Hieße jetzt Herr Doktor, hättest du ihn nicht verkuppelt. Hast hier deine Brotstelle gefunden, Kuppelweib?

Was nun geschehen ist, davon ist nichts in meinem Gedächtnisse geblieben, und was mir demnächst erzählt worden ist, das übergehe ich mit Stillschweigen, weil es sich so nicht kann zugetragen haben.

Wollt ich nach meinem Erinnern berichten, so könnt ich dem Leser ebenso gut anempfehlen, er möge das vorige Kapitel einige hundert Mal durchlesen: Denn das erlebt ich immer wieder, nur allerdings nicht in der gehörigen Zeitfolge, sondern wirr durcheinander. Das Grauen aber hab ich stets wahrheitsgetreu wie das erste Mal gefühlt. Kann also behaupten, daß ich statt der behaglichen Ruhe die schaurigste Nacht meines Lebens unzählige Mal habe müssen durchmachen. 268 Denn was half es mir, daß sich das nur in meinen Fieberphantasien ereignete und ich in der Wirklichkeit wohl gewartet und gepflegt im Bette lag? Das galt für die Andern, für mich war's genau so, als hätt ich die ganze Zeit hindurch wirklich auf dem Fußboden in Abdeckers Hause gelegen und auf den toten Raubmörder gewartet.

Endlich war auch das überstanden. Wachte eines Tages auf und verwunderte mich nicht wenig, daß ich in einer fremden Stube im Bette lag. Ein Frauenzimmer saß am Fenster und strickte. Da ich mich nun bewegte, stand sie gleich auf und kam ans Bett. Sah mich ungläubig an, schlug die Hände zusammen und rief ganz selig: Ist das aber schön! Läuft zur Tür hinaus und ich hör sie rufen: Dornröschen, Klärchen, Goldlante, kommt schnell, unser Kleiner ist bei Sinnen!

Alle vier kommen herein, stehen vor meinem Bette und wissen sich nicht zu lassen vor Seligkeit.

Muß gestehn, daß mir wunderlich und fast rührsam zu Mute wurde, obwohl ich die vier nicht konnte als besonders anlockend gelten lassen. Jolanthe, die hier Goldlante genannt wurde, war augenscheinlich die älteste. Sonst war sie immer noch die einzige, die man nicht für ein Dienstmädchen gehalten hätte, und zwar für ein lotterichtes. Indessen unterschied sie sich keineswegs durch größere Sauberkeit oder überhaupt vorteilhaft von ihren Genossinnen, 269 sondern einzig dadurch, daß sie etwas Heruntergekommenes hatte, während die Andern aussahen, als wären sie sich ihr Lebtag immer treu geblieben. Alle hatten sie die Haare tagsüber wüst um den Kopf herum, was mir von jeher den Geschmack an dem schönsten Weibe verdorben hat. Diese waren aber nicht schön. Besonders war der Mund bei allen vieren ganz unedel. Das und anderes braucht hier aber nicht des Näheren beschrieben zu werden.

Indessen, wie gesagt, ihre ungeheuchelte Freude rührte mich doch, um so mehr, als ich mir leicht zurechtlegen konnte und auch aus ihren Reden entnahm, daß sie sich in meine Pflege geteilt hatten. Da sie mich nun mit Fragen nach meinem Befinden überschütteten, merkt ich erst, daß mein Kopf verbunden war.

Erfuhr denn, daß mich die Kunst eines Chirurgus von einer sehr seltenen und gefährlichen Krankheit kuriert hatte.

Gibt nämlich einen Käfer, Bock wird er genannt, der sich in altes Holz einzubohren pflegt, mit Vorliebe in das Gebälk von Häusern. Und zwar gibt es ihrer zwei Arten. Die eine ist harmlos, tut keinen großen Schaden und verschwindet am Ende von selbst. Die andre aber ist ein Unglück für das Haus, in dessen Gebälk sie sich einbohrt. Ist mehr als einmal vorgekommen, daß sie ein ganzes Haus dermaßen ruiniert hat, daß es hat müssen abgerissen werden.

Ein Käfer von dieser gefährlichen Art nun hatte sich, welcher Fall höchstens aller hundert 270 Jahr einmal vorkommt, durch meine Schädeldecke gebohrt, vermutlich in der Nacht bei dem Abdecker, und das war die Ursache von meinem üblen Zustande gewesen. Der Chirurgus, einer von der alten Schule, hatte das richtig erfaßt, mir den Schädel geöffnet und den sich heftig sträubenden Käfer mit der Pinzette herausgeholt.

Es war ein großes Glück für mich, daß es ein männlicher Käfer war. Das gefährliche bei dieser Art ist nämlich, daß sie sich ungeheuer schnell vermehrt. Ein weiblicher hätte in den Windungen meines Hirnes seine Eier gelegt, ich hätte bald den Schädel ganz voller Käfer gehabt und wäre vielleicht niemals wieder völlig klar im Kopfe geworden.

So was überwindet aber natürlich selbst ein Brinkmeyerscher Bauernschädel nicht so glatt, wie etwa am Sonntag abend ein Zusammentreffen mit einem Bierseidel. Lag noch ziemlich eine Woche schwach und hülflos in den Kissen.

Zu sehen bekam ich nur die vier Weiber und den Chirurgus, der übrigens hier sehr bekannt zu sein schien. Er mochte wohl herausfühlen, daß mir der Aufenthalt in dem Hause peinlich war, denn statt meinen Fall der Wissenschaft zu überliefern, wie er als amtlich angestellter Chirurgus wohl doppelt verpflichtet war, hat er geschwiegen wie das Grab. Ueberhaupt muß ich sagen, daß in dem Hause eine Diskretion herrschte, wie sie so manchem bürgerlich wohl angesehenen nur zu wünschen wäre. Man fragte 271 wie ich hieß und damit gut. Nicht einmal polizeilich ward ich gemeldet, und ich muß der Polizei dieser Stadt, die ich meinem Grundsatze getreu nicht nenne, das Zeugnis geben, daß sie sich von der sonst beliebten Schikanirerei fern hielt; denn obwohl sich einige Beamte dieser Behörde häufig im Hause sehen ließen, haben sie weder diese Unterlassung gerügt, noch mich sonst irgendwie mit Fragen belästigt.

Die vier Weiber nun betrachteten mich offenbar als ihren Pflegling, der ich ja am Ende auch war; denn ohne ihre Pflege wär ich schwerlich mit dem Leben davongekommen.

Oft waren sie tagsüber alle vier zusammen an meinem Bett und besprachen miteinander ihre Angelegenheiten ohne Arg, beinah als hätt ich dazu gehört. Fiel mir mal ein, daß die Person nicht mehr da war, die damals mit mir Wein getrunken hatte. Da waren sie voll Eifers: das Mädchen wäre ihnen zu gemein gewesen, jeden Abend hätte sie wen anders gehabt, und wie sie sich so roh gegen mich vergangen hätte, da man doch hätte sehen können, daß mir elend war, da hätten sie alle erklärt, mit der blieben sie nicht im Hause.

Hatten also auch ihren Ehrenkodex, diese halben Menschlein. Dahin gehörte es, daß jede einen Liebhaber hatte, dem sie treu blieb. Von welcher Treue ich mir allerdings kein rechtes Bild machen konnte; denn sie vertrug sich sehr wohl mit dem, was man in andren Kreisen des Volkes die allergröblichste Untreue nennen 272 würde. Auch galt es als gemein, einander diese Liebhaber abspenstig zu machen.

Je mehr ich die eigentliche Krankheit überwand, um so widerwärtiger wurde es mir, die Gespräche zwischen den Weibern anzuhören. Sie hatten ihre Bekanntschaften mit andern Weibern, aber auch über die hatten sie sich nichts andres zu erzählen, als daß die rote Anna noch immer ihren Otto liebte, obwohl sie jetzt der Polizeiassessor hätte, Otto aber neuerdings der langen Johanne treu sein sollte, und derart Angelegenheiten.

Mir wurde am Ende wüster im Kopfe als während des Fiebers. War mir zu Sinne, als bestände die ganze Welt aus dem, was eine wohlanständige Zunge nicht ausspricht und eine in Plato geführte Feder nicht niederschreibt.

Konnte also die Zeit nicht abwarten, da ich hinlänglich kräftig sein würde, um abzufahren. Aber mein böser Dämon hatte es anders im Sinne.

Als ich zum erstenmal aufstehen durfte, versammelte ich meine Pflegerinnen um mich, bedankte mich und bat, ihnen etwas schenken zu dürfen. Sie waren aber gekränkt und erklärten, was sie an mir getan hätten, das sei aus Mitleid geschehen und weil ich ein netter Mensch wäre.

So unangenehm es mir war, blieb doch nichts übrig, als mich nochmals zu bedanken. Denn die Weibsen waren wirklich tief gekränkt.

Nun fragte ich weiter, was ich denn wohl an 273 den Wirt zu zahlen hätte. Sie meinten, das wär ihre Sache, der hätte nichts zu fordern, nur den Chirurgus müßt ich bezahlen.

Dazu war ich mit Freuden bereit, denn ich wußte mich ja noch im Besitze von fast hundert Talern, und das war damals ein ander Stück Geld, als heute dreihundert Mark. Bat die Weibsen, denn das Gehen wurde mir noch blutsauer, sie möchten mir meinen Mantel bringen, oder den Geldbeutel, der drin steckte.

Lachten die Vier einander an und Jolanthe sagt sanftmütig: Liebes Wilhelmchen, da hat kein Beutel dringesteckt. Keinen roten Pfennig Geldes hast du ins Haus gebracht, so wahr wie mir Gott helfen soll.

Alle verschworen sich, daß ich ohne Geld angekommen wäre. Ich hörte das nur halb, denn mir war es schwarz vor den Augen und sie mußten mich aufs Bett legen.

Da ich wieder zu mir kam, verlangte ich Schreibzeug, denn ich wollt an Bruder Georg schreiben, daß er mir ein paar Taler Geld schickte; hatte freilich wenig Hoffnung, daß es helfen würde.

Sie brachten mir gleich das Schreibzeug und sagten, sie wollten den Brief auch von Herzen gern frei machen.

Da fällt es mir auf die Seele, daß ich nun so nackt und kahl in der Welt dastehe und könnte nicht einen armen Brief mehr absenden, wenn diese Weiber nicht gutherzig wären.

War mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß 274 mir den Beutel der Abdecker gestohlen hatte und nicht etwa die Weiber. Aber selbst wenn ich es dem hätte können nachweisen, nicht um die Welt hätt ich ihn angezeigt und so meine Schande selbst unter die Leute gebracht.

Krallte sich mir der Grimm wie ein Geier ums Herz. Fing abermals einen Hader mit Gott an. So, sag ich, dahin hast du mich also geführt, denn was seit dem Abschied von Uranien geschehen ist, daran sprech ich mich unschuldig, als einen, der nicht wußte, was er tat. Hast mich mit Vorsatz in dies Elend gebracht, damit ich sollte in mich gehen und ein stilles Leben führen. Soll sich aber nicht nach deinem Sinne schicken. Such dir die Leute wo anders, die du solchermaßen erziehen kannst, bei Wilhelm Brinkmeyern schlägt das ins Gegenteil aus. Will nun all mein Denken und Trachten aufs Geld richten und nicht rasten, ehe ich so viel zusammengescharrt habe, daß ich den Louis Mercado niederschmettern kann. Gehe ich dadurch der himmlischen Seligkeit verlustig, so soll mir niemand mehr von ewiger Gerechtigkeit reden. An welcher ich aber freilich ohnehin nachgerade irre werde.

Ist mir heute beklommen ums Herz herum, daß ich mich damals so freventlicher und fast einer Auflehnung ähnlicher Gedanken wider den lieben Gott vermessen habe. Ist aber nicht anders gewesen. Wozu soll ich vor den Menschen verbergen, was ich doch vor Gottes Richterstuhl ohne Flausen werde müssen verantworten.

275 Das Geld ist natürlich ausgeblieben, was mich denn in meinem Trotze wider Gott bestärkte. Sprach der Engel in mir: Hättest sollen auf der Schule fleißiger sein, so ständest du heute nicht da als eine taube Aehre im Acker, die zu nichts gutem taugt. Aber der Dämon hatte leichten Sieg, indem er mir einflüsterte: Das Abiturium hättest du bestanden, wenn sie dich nicht hätten von der Schule gejagt, und mit dem Abiturium in der Tasche ständest du anders da. Was denn weiter? Könntest du dich größeren Fleißes, geziemenderen Wandels, höherer Einsicht rühmen, wenn du es zufälligerweise bis dahin durchgehalten hättest? Nichts von alledem. Hat nicht anders sein sollen, das ist's.

Da mir die Weiber nun statt des Geldbeutels aus dem Mantel die Flöte gebracht hatten, wollt ich mich von meinem Ingrimm losmachen und spielte mir eine Melodie auf. Klang mir aber wie ein Lied aus der Hölle.

Die Weiber waren dagegen voll Vergnügens.

Stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Zuletzt sagt Jolanthe, der Geiger, der die Abende zum Klavier spielte, wäre infolge einer unbedachten Verabredung auf sechs Monate behindert. Die Flöte klänge aber ebenso lieblich und noch lieblicher. Zu anderer Arbeit wär ich ja doch auf viele Wochen hinaus zu schwach, ob ich also nicht aushelfen wollte. Die Bezahlung wäre gut.

Da erschien mir meines Vaters Bild, was der wohl dazu gesagt hätte, daß sich jemand 276 erdreistete, mir ein solches Angebot zu stellen. War aber so verbissen in meinem Grimm, daß ich nicht nur dem lieben Gott, sondern sogar meinem Vater Trotz bot und sagt ihm im Geiste: Das sind die Folgen, daß du dich hast von dem Schulmeister Warnecke beschwatzen lassen. Hab ich an Abdeckers Tische gesessen, was liegt nun dran, ob auch dies noch geschieht? Mein Erbe ist hin und unser Hof kein Obdach mehr für mich. Soll ich betteln gehn oder Hungers sterben? 277

 


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