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Wie ich mein Herz wiederum verloren habe
Auch an diesen Abschnitt meines Lebens denke ich nicht ohne Sehnsucht zurück. Wenn ich mir die Sache recht überlege, bin ich sogar im Zweifel, ob ich mir nicht statt der drei Wochen mit Urania diese sechs Monate aussuchen würde, wenn ich die Wahl hätte. Die drei Wochen waren ein Rausch. Ich blieb mir doch im Grunde stets bewußt, daß ich eines Tages mit einem trostlosen Katzenjammer aufwachen mußte. In den sechs Monaten aber hatt ich, was meiner innersten Natur zusagte.
Freilich wer unsere Bauern kennt, der kann sich ohne Beschreibung vorstellen, was ich mußte über mich ergehen lassen, da ich mich von der Prima her Knall und Fall auf die Landwirtschaft warf; wer sie aber nicht kennt, dem hätt ich ein Buch für sich zu schreiben, ehe er sich einen ungefähren Begriff machte.
Daß ich in den Ferien immer mit angefaßt hatte, galt ihnen natürlich als Spielerei, wiewohl ich das keineswegs weniger ernsthaft betrieben hatte, als meine Schularbeiten.
152 Dauerte aber gar nicht lange, da fingen die Verständigsten unvermerkt an, einen andern Ton gegen mich anzuschlagen. Die Schafe folgten den Leithammeln. Ich stand bald so da, wie ich mir nur wünschen konnte. Bruder Georg bekam es sogar in jenen zarten Andeutungen, in denen es dem Bauer niemand gleichtut, zu hören, daß meine Anwesenheit ein rechter Glücksfall für ihn sei. So war es nun nicht, er hatte sein Wesen musterhaft im Gange. Aber ich ersparte ihm allerdings mehr als eine Arbeitskraft. Denn es ist freilich ein Unterschied, ob für Geld oder aus Liebe zur Sache gearbeitet wird, und ob vier oder nur zwei Augen den Leuten auf die Finger passen. Worin ich ihm indessen weit mehr hätte nützen können, darin blieb er starrsinnig. Besonders war er zu der Beteiligung an der Zuckerfabrik nicht zu bewegen. Späterhin ist ihm natürlich doch nichts andres übriggeblieben, aber da war es viel teurer, als wenn er sich von vornherein beteiligt hätte.
Zu dem Ansehen, in dem ich mich sonnen durfte, hat die Peruaner Angelegenheit sicherlich das ihre beigetragen. Denn es mag einer ein Riese an Fähigkeit, Fleiß und allen sonstigen Qualitäten sein, wenn er nichts hat, so respektiert ihn der Bauer nicht.
Diese Angelegenheit, die ich bei Georg in guten Händen geglaubt hatte, stockte allerdings gänzlich. Georg hatte sich vorgenommen, gelegentlich mit seinem Rechtsanwalt zu sprechen. Da er nun aber in dieser Zeit nichts bei ihm zu 153 tun hatte, so wartete er eben auf die Gelegenheit, und das konnte lange dauern. War eben seine Art, daß er niemand was auf die Nase band. Wenn er gefragt wurde, antwortete er: O, die Sache wird ja wohl nächstens bei kleinem angehn, oder ähnliches, und weiter brachte keiner was aus ihm heraus.
Je mehr ich nun von der Landwirtschaft verstehen lernte, um so heftiger jammerte mich des Haberkornschen Hofes. Niemand konnte bestreiten, daß er der reichste im Dorfe war, ja man mochte ziemlich weit suchen, ehe man seinesgleichen fand. Grade weil er durch die verrückte Filzigkeit der beiden Weiber so heruntergekommen war, konnte es einen Kerl wie mich reizen, eine Musterwirtschaft daraus zu machen.
Nun hielt ich mich auch hier an meinen Wahlspruch: nicht zu hastig und auch nicht zu langsam, sondern grade wie es richtig ist.
In diesem Sinne besuchte ich die beiden Frauenzimmer zwei- bis dreimal in der Woche und jeden Sonntag, ließ mich aber niemals bereden, je nachdem zum Frühstück oder zum Essen da zu bleiben; denn es war mir nicht um Essen und Trinken zu tun.
Allmählich faßte selbst die Alte ein leidliches Zutrauen zu mir. Ich wurde so nach und nach in die ganzen Verhältnisse eingeführt. Die beiden hielten ihre Geldsachen streng gesondert. Die Alte hatte ihr Vermögen für sich und die Tochter auch, und wenn man sich mit ihnen unterhielt, glaubte man eher mit erfahrenen 154 Finanzleuten zu reden, als mit Bauersfrauen. Sonst aber konnte man nicht wahrnehmen, daß sie sich groß für irgend etwas in der Welt interessierten.
Ich war bei mir im stillen der Ansicht, daß in der Anna doch möchte noch was andres stecken, als Zahlen und immer Zahlen. Will auch offen bekennen, daß ich gar nicht so ganz kalten Blutes geblieben bin.
Da liest man heutzutage allenthalben von Hinaufzüchtung predigen. Kommt immer so heraus, als wären wir Lebendigen lauter Luderzeug und nur grade gut dazu, daß unsre Kinder, soweit wir welche haben, ganz andre Kerle werden.
Meinen Segen sollen sie haben, weil ich sonst nicht viel dabei tun kann; denn ich habe keine Kinder und habe auch als Junggeselle von einigermaßen über siebzig nicht mehr besonders viel Aussicht darauf.
Bin aber in aller Bescheidenheit der Ansicht, daß jedes Zeitalter und jeder Teil des Volkes seinen Wert für sich hat, der in dieser seiner Besonderheit auf unserm Erdball in alle Ewigkeit nicht wiederkehrt.
So auch unser niedersächsisches Bauerntum, von dem ja, man kann sich nicht drüber täuschen, nach hundert Jahren nichts mehr übrig sein wird. Da gibt's nicht nur Männer, nicht so gutartig, wie sie heute mal wieder von gelehrten Häusern und schlechten Menschenkennern abgemalt werden, aber im Guten und im Bösen wie 155 aus Eichenholz geschnitzt. Da gibt's auch Frauen, von denen man nur sagen kann: hier ist der Natur nichts in die Quere gekommen.
Hätte einer der Anna Haberkorn was von Hinaufzüchtung vorgeredet, der hätte sich sollen umgucken; denn sie hätt's für eitel Schimpf und Unflat genommen. Neues ließ sie in den Turm ihrer Gedanken überhaupt nicht herein. Nicht als ob es ihr an Verstand gefehlt hätte. Aber sie hielt die Welt, in der sie so ganz nach ihrem Willen und dabei so geachtet lebte, für die einzig richtige.
In einem Salon hätte sie natürlich eine plumpe Figur gemacht, und zwischen den Frauenzimmern, die über alle Stile klugschwatzen, sich mit lauter Stil umgeben und auch noch stilvoll anziehen, so daß sie am Ende vor lauter Stil kein Fleisch und Blut mehr haben, wäre sie eine rechte Gans vom Lande gewesen.
Aber in dieser Umgebung, in der sie und ihre Voreltern seit uralter Zeit aufgewachsen waren, da brauchte sie kein Sterbenswörtlein von Stil zu wissen, konnte es doch mit der stilvollsten aufnehmen, denn sie hatte Stil in sich.
Sagte schon vorhin, daß ich bei ihrem Auge an Hera denken mußte. Von dieser Göttin, wie ich sie mir vorstelle, hatte sie überhaupt was. Die Hera scheint mir nämlich besser aufs Land zu passen, als in die Städte. Für die eignet sich mehr die geistreiche, die Pallas.
Wäre man mit Zirkel und Lineal an die Anna herangegangen, man hätte keinen Fehler 156 gefunden, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Sie gehörte unverkennbar zu der langschädligen Rasse und hatte volles, braunes Haar. Das war genau in der Mitte gescheitelt und fiel rechts und links in den gleichen, schönen, ruhigen Wellen herab. Hinten war es geflochten und zu einem Knoten aufgesteckt, streng nach Maß und Regel.
Gesicht und Gestalt waren groß, breit und voll. Mädchenhaft war die Erscheinung nicht. Aber die Haut war rein in den Farben, elastisch und straff, ohne Fehl und Tadel. Es war nichts Ungesundes noch Weichliches an der ganzen Person. Man sah, die Fülle war nicht Fett, sondern festes Fleisch. Sie hielt sich aufrecht, ohne daß sie aber irgendwie auf sich geachtet hätte. In ihrem ganzen Auftreten drückte sich ein ruhiges Selbstbewußtsein aus, das sich nicht im mindesten auf ihr Aeußeres gründete, sondern auf ihren großen und doch im wesentlichen von ihr selbst verwalteten Besitz. Sie hatte, soweit man sich an die Abbildungen halten kann, etwas von einer großen Dame so ums Jahr 1700 herum.
Wenn nun ein so schönes Frauenzimmer einem fast jeden zweiten Tag länger als eine Stunde gegenübersitzt und sieht einen mit den großen Augen an und scheint ohne Wunsch und Begehren in sich zu ruhen, da müßte man kein junger Kerl sein, wenn man sich nicht angereizt fühlte, in diese gelassene Kühle ein bißchen Glut zu jagen.
157 Daß sie so viel größer als ich war, machte mir nichts aus und ihr, wie sich bald zeigte, auch nichts.
Sie schlug wohl weniger nach der Alten als nach dem Vater. Der war bald nach ihrer Geburt gestorben, aber nicht etwa an einer Krankheit, sondern er war im Wagen verunglückt.
Gesund war die Alte auch. Aber sie hatte nicht das Wohlige wie die Tochter, sondern war dürr und zähe, wie man sich die Großmutter des Teufels denkt.
Anfangs hielt sie uns scharf im Auge und ließ uns nicht eine Minute allein. Allmählich wurde sie, wie gesagt, einigermaßen zugänglich. Auch ließ sie sich wohl durch die unerschütterliche Ruhe ihrer Tochter in Sicherheit wiegen.
So wurde ich denn bald durch manche Viertelstunde des süßen Alleinseins mit der still Geliebten beglückt, ohne daß ich blöder Schäfer einstweilen gewagt hätte, ihr meine tiefe Ergebenheit zu gestehen.
Ein neckischer Zufall war es, der mir endlich die Zunge löste. Gewiß hat Gott Amor selbst die Karten gemischt!
Eines Abends nämlich fand ich die herrliche Stirn meiner Angebeteten düster umwölkt.
Was konnte dem lieben Wesen fehlen? Ach, nur zu bald sollt ich alles wissen!
Wie ward mir gar so weh ums Herz, da mein Auge das ihre vergeblich suchte, da sich 158 jenes Dichterwort, unmerklich umgewandelt, mit Schmerzen an mir bewährte:
Meine Anna blickt vorüber,
Meine Anna sieht mich nicht!
Die liebe Mutter, die von alledem nichts bemerkte, plauderte gütig wie sonst mit mir, indem sie mich um meine Ansicht fragte, ob es ratsam sei, ottomanische Papiere anzukaufen. O Gott, was fragte mein blutendes Herz nach den Türken!
So selbstsüchtig ist der Liebende, daß ich aufatmete, als sich die würdige Greisin endlich auf einen Augenblick entfernte, weil in der Küche köstlich duftende Kartoffelpuffer bereitet wurden und die Köchin der sorglichen Matrone nicht hinlänglich sparsam mit dem Schmalz umzugehen pflegte.
Da stammelte die Zunge jene bange Frage, die das tränenvolle Auge umsonst getan hatte. Meine zürnende Juno aber würdigte mich noch immer keines Blickes, sondern sagte mit einer dumpfen Stimme, die mir schier das Herz wollte durchschneiden: Was fragst du nach mir? Verwechselst mich wohl mit der da?
Zugleich zog sie eine Photographie aus dem Busen und warf sie vor mir auf den Tisch. Welche Feder wäre imstande, meine Gefühle zu beschreiben! Es war Urania. Ich weltabgewandter Träumer mußte das Bild wohl gleichsam schlafwandelnd zu mir gesteckt und grade hier aus der Tasche verloren haben.
Der Leser wolle verzeihen, wenn ich ihm nichts 159 weiter berichte als das schöne Ergebnis dieser Augenblicke: Die Mutter fand uns zwei Menschenkindlein zwar in geziemender Entfernung von einander sitzend, aber die Gesichter verklärt von jener himmlischen Heiterkeit, die das Menschenherz nur einmal im Leben genießen darf. Die rüstige Greisin war indessen dermaßen erfüllt von Eifer über die Köchin, die denn richtig wieder in bezug auf das Schmalz des Guten zu viel getan hatte, daß die sonst so Helläugige nichts bemerkte. Ich entfernte mich bald, um mein übervolles Herz der verschwiegenen Luna auszuschütten.
Das Bild freilich hatte müssen dran glauben, ich hatte es vor Annas Augen dem Feuer überantwortet.
Nun sagte mir wohl jene innere Stimme, die eine strengere Richterin unser selbst ist als der unerbittlichste Richter außer uns, daß ich das Bild nicht hätte sollen bei mir tragen, da sich mein Herz für Anna erklärt hatte. Indessen darf zu meiner Entschuldigung angeführt werden, daß die alte Liebe und Treue für Urania nicht ganz in mir erkaltet war. Solches ist nichts Unerhörtes. Denn auch Goethe, sowohl ein sehr berühmter Dichter wie ein in Dingen der Liebe höchst erfahrener Mann, berichtet uns in einer Tragödie, die von den Gelehrten als ein ausgezeichnetes Werk gepriesen wird, daß ein Mann nicht nur die heftigsten Schmerzen der Seele erduldet, sondern sogar Selbstmord begeht, weil er sich von Liebe zu zwei Frauen 160 gleichsam entzweigerissen fühlt. Was soll ich über den Grafen von Gleichen sagen, der, nachdem er die Ehe mit einer schönen und höchst ehrenhaften Dame eingegangen war, in Liebe zu einer Jungfrau fremden Stammes, ja sogar fremden Glaubens entbrannt, auch diese zu seiner Gattin erhoben und mit zwei Ehefrauen verbunden, ein frommes und beneidenswertes Leben geführt hat?
Auch darüber werden wohl nicht alle übereinstimmen, ob die geschehene Verbrennung des Bildes die Handlung eines treulosen oder vielmehr eines beständigen Mannes war. Da wir nun einerseits kein größeres Vergnügen kennen, als es uns die Betrachtung der menschlichen Dinge im Hinblick auf ihre Lobwürdigkeit oder Verwerflichkeit gewährt, anderseits aber meine Meinung über diesen Gegenstand von einigem Werte sein möchte, weil ich nicht nur damals jene Tat höchst ungern und gleichsam wider Willen begangen habe, sondern auch später unzählige Nächte, in denen ich dieserhalb des Schlafes ermangelte, mit ebenderselben Betrachtung zugebracht habe, sei es mir erlaubt, dies wenige zu sagen: Wenn die Natur die Herzen der Menschen ebenso unwandelbar geschaffen hätte, wie den Geist eines ernsthaften und gerechten Mannes, so möchten die recht haben, die jene Verbrennung auf das heftigste verdammen. Erwägt jemand aber einerseits, daß der Sterbliche nicht mit Erfolg wider die Macht des göttlichen Sohnes der Venus zu kämpfen vermag, 161 anderseits, daß die eherne Moira die Ehe zwischen mir und Urania nicht beschlossen hatte und daß Urania selbst, wenn ein reicher Mann um sie geworben hätte, mein Bild zu verbrennen nicht gezögert haben würde, so wird man nicht umhin können, anzuerkennen, nicht nur daß ich meinen Fehler durch die Tränen, die ich bei der Handlung selbst habe müssen unterdrücken, und durch die in den späteren, von Wehmut erfüllten Nächten vergossenen hinlänglich abgebüßt habe, sondern auch, daß ich mich in bezug auf Anna als ein bescheidener und getreuer Jüngling erwiesen habe.
Nun war das so weit ganz wohl gediehen. Anna wollte sich aber nicht dem Zuge des Herzens hingeben, ehe sie nicht des mütterlichen Segens gewiß war. Hinwiederum meinte sie, es wäre noch nicht an der Zeit, mit ihrer Mutter zu reden, ich müßte sie erst noch mehr für mich einzunehmen suchen.
Das war eine mißliche Aufgabe, denn die mutige Matrone hatte sich wirklich an ottomanische Papiere gewagt und es war in diesen Wochen über nichts anderes mit ihr zu sprechen. Indessen verzweifelte ich nicht, sondern vertraute auf Gott Amor, der mir, so hofft ich im stillen, zu rechter Zeit den Weg zum Herzen der gestrengen Frau offenbaren würde.
Nun begab es sich, daß die beiden in die Residenz fahren wollten, da etwas mit dem Rechtsanwalt zu besprechen war. Die Stadt, in der ich die Schule besucht hatte, lag näher, war aber 162 preußisch, und damals genossen wir noch unsres guten heimischen Rechtes. Das ist uns inzwischen genommen, in einer folgerechten Fortsetzung der gewalttätigen Politik Barbarossas.
Ich benutzte die Gelegenheit, um wegen der Peruaner Sache Schritte zu tun. Der Geist weiser Sparsamkeit, der das Haus erfüllte, hatte sich mir aber dermaßen mitgeteilt, daß ich am Abend vor der Fahrt die Ansicht aussprach, es sei nicht nötig, daß die Frauen beide reisten, man möge des lieben Geldes weislich ersparen, indem nur Frau Haberkorn mit mir reiste und die Anna zu Hause bliebe.
Das war nun der sorglichen Hausfrau ganz aus der Seele gesprochen.
Wir munteren Reisenden fuhren denn auch bei frühem Morgen in der Haberkornschen Kalesche, es war noch dieselbe, in der Vater Haberkorn verunglückt war, nach der Haltestelle der Eisenbahn.
War ein klarer Wintermorgen. Noch waren die Sterne am Himmel zu sehen. In der großen Stille und Feierlichkeit um uns und über uns wurden auch wir zwei Naturkinder still und stiller und schwiegen am Ende ganz. Ein jeder war mit seinen Gedanken und Träumen beschäftigt. Der Anblick des gestirnten Himmels und der Zweck meiner Fahrt, nämlich der Kampf wider die Gewissenlosigkeit des Onkels Pedro und seines Kumpans, vereinten sich, den lieben Namen Urania in meiner Brust erklingen zu lassen. Ich wünschte der Guten allen Segen 163 für ihre Lebensbahn und gedachte neidlos des Glücklichen, dem sie einmal ihre schöne Hand zum Bunde fürs Leben reichen würde.
Urania weilte fern. Aber eine wie viel weitere Reise hätte wohl der antreten müssen, der den Träumen meiner Gefährtin hätte wollen nachwandern! Denn die weilten, der Leser wird es erraten, nirgend anders als am Goldenen Horn.
Der Mensch denkt und Gott lenkt. Urania ist unvermählt geblieben und Frau Haberkorn hat an ihren ottomanischen Papieren häßlich verloren.
Die Eisenbahnfahrt wurde aufs angenehmste mit der leiblichen Versorgung zugebracht. Wir hatten uns reichlich mit Wurst und Schinken versehen, denn ich hatte den beiden Frauen vorgerechnet, daß wir so immer noch billiger davonkamen, als wenn wir in einem Wirtshause eingekehrt wären.
Meine mütterliche Freundin wollte durchaus, daß ich mit zu ihrem Sachwalter ginge, der zugleich der meines Bruders war. Dort, meinte die Sorgliche, hätt ich es gewiß billiger. Sie wurde ganz aufgeregt, als ich ihr erklärte, die paar Groschen spielten im Falle Mercado keine Rolle, weil das so völlig wider ihre Natur war, und auch wider meine, soweit sie mich glaubte kennen gelernt zu haben. Zuletzt ward sie argwöhnisch, als hätt ich ihr am Ende gar was zu verheimlichen. Ich schlug ihr in aller 164 Treuherzigkeit vor, sie möchte mich begleiten, wozu sie denn gleich bereit war. Da mußt ich in mich hinein lächeln, denn das war es ja gerade, was ich wollte.
Hier nun ergibt sich wiederum eine für mich und die mir in der Gesinnung Verbündeten unter meinen Lesern höchst erfreuliche Gelegenheit, in der nur sachlichen Erzählung des Geschehenen innezuhalten und sich der angenehmeren gelehrten Betrachtung zuzuwenden; der Frage nämlich, ob es nach dem göttlichen Rechte erlaubt war, daß ich jene alte Frau durch eine List dazu bewogen habe, mich zu jenem Sachwalter zu begleiten.
Ich nun denke über den Fall, nachdem ich ihn so viele Jahrzehnte hindurch wieder und wieder nach allen Seiten hin erwogen habe, so: darüber, daß es einer Lüge nahe kommt, ja wohl gar ebenso strenge wie eine Lüge selbst zu verurteilen ist, wenn jemand einen andern durch List veranlaßt, etwas zu tun, was der Getäuschte für seine Angelegenheit hält, da es doch eine Sache des Täuschenden ist, enthalte ich mich jedes Wortes; denn nur törichte oder gar lügnerische Menschen können daran zweifeln. Die Weisen und Gerechten aber, für die ich diesen Bericht über mein Leben schreibe, bitte ich, darüber zu beratschlagen, ob in dem Falle, daß die Handlung, zu der der Getäuschte veranlaßt wird, ihm zwar nicht in der angenommenen Art und Weise, aber in einer anderen zum Vorteil gereicht, die Täuschung ebenso strenge zu verurteilen oder 165 nicht vielmehr eine erlaubte, ja sogar eine des höchsten Lobes würdige Tat sei.
Sollte aber der Spruch jenes Konsiliums dennoch zu meiner Verurteilung führen, so bitte ich meine Richter, die ich gleichwohl höher schätze und inniger liebe als jene, die mir allzu bereitwillig und ohne ernste Beratschlagung ihre Billigung aussprechen werden, sie wollen mildrichterlich in Erwägung ziehen, daß ein von Liebe ergriffener Jüngling nicht einem besonnenen, sondern fast einem rasenden Menschen gleich zu achten ist.
Frau Haberkorn begleitete mich denn also zu einem Rechtsanwalt, den wir beide nicht einmal dem Namen nach kannten; ich suchte vielmehr so lange, bis ich ein neues Schild fand, denn ich hatte mehr Vertrauen zu einem Anfänger, als zu einem, der in seinen Akten eingerostet wäre.
Als wir da nun hineinkamen, war es auch richtig ein ganz junges Herrchen, das sich äußerst verbindlich gab, also daß ich gleich ein Zutrauen gewann und in meinem geliebten Niedersächsisch sagte: »Gu'n Dag, Herr Avkat. Ik bün nämlich hier for mik un mienen Brauder un miene fiw Schwestern.«
Darauf nannte ich ihm diese Geschwister alle sechs nach Namen und Wohnort, was der junge Herr mit der heitersten Freundlichkeit anhörte. Sodann setzte ich ihm auseinander, wie schändlich man da unten im Mohrenlande, denn so 166 nannte ich Peru wegen seiner südlichen Sonne, uns sieben Waisen um das Unsre bringen wollte.
Er überdenkt sich den Fall, legt sich einen Bogen zurecht, tunkt die Feder ein und meint: Da müssen wir mal ein Gesuch an unser hohes Staatsministerium einreichen, das wird sich der Sache schon annehmen, wenn man's ihm gehörig auseinandersetzt.
Herr Avkat, sag ich, da hätt Se recht, dat wilt wi dauhn. Un wat möt wi nu betalen?
Er sieht auf einmal ganz anders aus, lacht kurz auf und macht spitze Bemerkungen, die darauf hinausliefen, das Ministerium würde eine rechte Freude an unserem Berichte haben.
Da er nun gar nicht so freundlich sprach wie vorhin, hielt ich es auch nicht mehr für angebracht, plattdeutsch zu reden. sondern sagte: Da haben Sie wieder recht, Herr Doktor, das wird das Ministerium auch.
Er kriegt Augen wie'n gekochter Hummer und verlangt wegen der Höhe des Objektes zehn Taler.
Das mag wohl Ihr Recht sein, sag ich. Also bringt es für mich einen Taler zwölf Silbergroschen acht und einen Bruchteil Pfennige, welchen Bruchteil ich aber aus freien Stücken auf einen ganzen Pfennig abrunden will.
Himmel, was hat der akademisch gebildete Herr getobt und gezetert, wo doch das Recht so goldklar auf meiner Seite war! Denn ich hatt ihm ja in Zeugengegenwart erklärt, daß ich im Namen von uns sieben käme, und er hatte nichts 167 dagegen gesagt. Wenn er also seine zehn Taler haben wollte, mocht er sich wegen des Restes an die andern sechse halten.
Damit das Gezauster nur endlich aufhörte, denn ich schämte mich in seine Seele hinein, bot ich ihm endlich zwei Taler. Ob er sich nun selbst geschämt hat oder was es sonst war, genug, er nahm das an. Ich ließ mir mit Bedacht eine Quittung für die Erben des Pedro Brinkmeyer ausstellen.
Draußen setzt ich der hauswirtlichen Frau auseinander, daß diese Art Ausgaben von der Erbmasse ersetzt werden, ehe einer der Erben etwas davon besehe.
Kann nur sagen, daß ich vollständig zufrieden sein werde, wenn ich für diese Erzählung meiner Taten und Ergebnisse nur halb so aufmerksame, verständnisvolle und dankbare Zuhörer finde, wie ich mich einer an jener einfachen Bauersfrau für meine schlichte Rechtsbelehrung und meine Auseinandersetzung mit dem Anwalte erfreuen durfte. Wobei allerdings in Betracht kommt, daß dieses letztere Turnier wohl etwas Erregendes und am Schlusse Erhebendes haben konnte, weil ich für den nicht in die Tiefe dringenden Blick wider einen so überlegenen Gegner zu kämpfen hatte, nämlich wider die Schläue, die Rabulistik, die Kenntnis der Schliche und Hintertüren des Gesetzes, kurz wider alle Advokatenkünste; wohingegen meine Wehr und Waffe in nichts anderm bestand, als in meinem guten Rechte.
168 Wenn mir nun jemand einwirft: Freundchen, es beliebt dir, dich in einer Wolke zu verbergen. Du bist uns noch die Aufklärung schuldig, inwiefern dies alles für Frau Haberkorn dienlich sein soll!
So hab ich ihm zu sagen: Freundchen, ich billige dir gern zu, daß du zu meinen aufmerksamen Lesern gehörst, will hoffen auch zu den dankbaren; das Verständnis aber muß ich dir mit Betrübnis absprechen.
Frau Haberkorn selbst, die es doch am besten wissen mußte, war in einer dermaßen gehobenen Stimmung, daß sie mich sogar einlud, mit ihr in einem feinen Restaurant eine Flasche Wein zu trinken; oder vielmehr, denn mit der Wahrheit kann es der Mensch niemals zu genau nehmen, eine halbe. Auch sogar das tat ihrer guten Gesinnung keineswegs irgendwelchen Abbruch, daß ich die Einladung freundlich, aber entschieden ablehnte.
Als wir nun unsre Besorgungen erledigt hatten und es Zeit wurde, daß wir uns nach dem Bahnhofe begaben, klagte Frau Haberkorn über Müdigkeit. Es waren damals eben die Pferdebahnen aufgekommen und eine solche fuhr auch nach dem Bahnhofe. Die wollte sie benutzen, teils wegen der Müdigkeit, teils um es nachher im Dorfe erzählen zu können.
Diese beiden Gründe waren jedoch, wie dem Kenner ohne weiteres einleuchtet, dem Laien aber nur durch ein mehrjähriges Kollegium 169 könnte dargelegt werden, für einen Bekenner der platonischen Philosophie nicht stichhaltig.
So sagte ich denn, indem ich mich gewissermaßen sinnbildlich ausdrückte, um mich der einfachen Frau verständlich zu machen: Mutter Haberkorn, sag ich, setzen Sie sich hinein! Sie sind eine alte Frau (auf dem Lande wird man das nämlich eher als in der Stadt), ich nehm's Ihnen nicht übel, wenn Sie mich allein lassen. Wir treffen uns nachher am Bahnhofe. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert, Mutter Haberkorn!
Wie nun der Geist des Platon eine so eindringliche und fast übernatürliche Gewalt besitzt, daß sich ihm auch das einfachste und vom Standpunkte eines den Wissenschaften Ergebenen roheste Gemüt nicht zu entziehen vermag, wenn man nur seine hohe Sprache in die ungefüge des kleinen Volkes überträgt, so unterdrückte Frau Haberkorn den Trieb der Müdigkeit, wenn auch ungern. Denn sie führte auf dem ganzen Wege nach der Art alter Frauen Selbstgespräche, von denen nur einzelne Worte zu verstehen waren, wie: Junges Blut, Alte Beine, Will mich in mein Kistlein bringen.
So unsinnig dieser Verdacht nun auch war, denn wie hätte man wohl mit solchen Mitteln eine magere, arbeitsame und sich kräftig, aber nicht üppig nährende Frau können in die Grube bringen, war es ihr doch in diesem Augenblicke ernst damit; es wurde ihr nämlich wahrhaftig 170 blutsauer, besonders auch weil sie kurzatmig war, und dazu war sie mißtrauisch wie ein alter Uhu.
Ich bedachte indessen ihr Geschlecht und ihre höheren Jahre, ließ sie schimpfen und tat, als ob ich nichts hörte. Dafür sagte ich aber, als wir in der Eisenbahn saßen und sie sich erholt hatte: Mutter Haberkorn, wie ist's denn jetzt? Ist's nicht gut, daß wir unsre Groschen in der Tasche haben? So verdient man Geld, Mutter Haberkorn! Wenn sie zu Hause fragen, ob wir denn gar nicht wären mit der Pferdebahn gefahren, so antworten wir bloß, andre Leute möchten's ja wohl dazu haben, daß sie nicht brauchten zu Fuße zu gehen. Wenn sie das nun aber lächerlich finden, so lassen wir sie lachen, denn wer am besten lacht, das ist eine Frage für sich.
Da zerschmolz der letzte Rest des Mißtrauens um ihre Seele, sie klopfte mich ein Mal über das andre Mal kraftvoll auf die Schulter und nannte mich Prachtminsche.
Was soll ich viel Worte machen, zumal mich die Erinnerung gar zu wehmütig stimmt. Will kurz und gut die Tatsache berichten, daß wir uns noch an dem Abend dieses unvergeßlichen Reisetages einander versprochen haben, die Anna und ich. Nur bestand die Alte darauf, daß noch niemand etwas davon wissen sollte, welche Greisenschrulle wir zusagten, ich wegen meiner grundsätzlichen Verehrung des höheren Lebensalters, und Anna in dem Taumel ihres Glückes.
Des andern Tages mußte Bruder Georg ans 171 Ministerium schreiben. Er meinte erst, das müßte ich tun, aber ich sagte: Du hast den Hof angenommen, so bist du der nächste dazu. Was soll ich mich vordrängen? Schreib du nur ganz treuherzig, daß sie uns da unten wollten um das Unsre bringen. Das wird den hohen Herren am ehesten zu Herzen gehn.
Das Ministerium antwortete denn auch recht liebreich. Uns wurde irgendwas aufgegeben, was wir auch von Herzen gern tun wollten, bloß daß wir nicht herauskriegten, was es war. Der Vorsteher brachte es auch nicht heraus, der Schulmeister natürlich schon gar nicht, auch nicht der Pastor, und überhaupt keiner im Dorfe. Zuletzt gingen wir in unsrer Not zur Gerichtsstelle und da hatten wir's zufällig grade getroffen. Wir sollten nämlich ein »Erblegitimationsattest« beschaffen und dazu war der Amtsrichter eben der rechte Mann.
Dieser gelehrte Richter vermochte auch den übrigen Inhalt der ehrwürdigen Urkunde zu enträtseln. Wir erfuhren dankbar, daß sich unser Herr Minister in seiner Weisheit an den Preußischen Vertreter in Lima wenden wollte, da dieser auch unsre Angelegenheiten vertrat.
Ich höre, daß man heutzutage von den Behörden verlangt, sie sollten ihre Erlasse in einem verständlichen Deutsch verkünden, ja daß sich sogar hin und wieder ein Beamter findet, der diesem Ansinnen halb und halb nachgibt. Das ist auch so eine liberale Errungenschaft, die man wohl irgendwie auf den Urheber all unsres 172 nationalen Elends wird zurückzuführen haben, auf Barbarossa.
Wenn damals, zu meiner Zeit, einer im Dorfe, mocht's nun der Vorsteher sein oder wer sonst, ein Schreiben von einer Behörde bekam, so war das eine ernste Sache, denn er konnte nicht wissen, ob er nicht mit der höchsten Eile irgend etwas zu tun hatte, widrigenfalls er der ganzen Strenge des Gesetzes verfallen war. Da hatte man schwere Tage, bis man endlich jemand gefunden hatte, der den Erlaß halbwegs in ein verständliches Deutsch übersetzen konnte. Das war gut, denn wie soll ein väterlich Regiment geführt werden, wenn sich keiner mehr fürchtet?
Ich hab's damals zu meiner Freude erfahren, was so die rechte Dunkelheit für eine Wirkung tut. Die Bauern kriegten nun eigentlich erst den gehörigen Respekt, da unsre Erbschaft eine Sache war, wegen der die höchste Behörde im Lande so amtlich schrieb, daß es kein Mensch im Dorfe verstehen konnte. 173