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Mehmed, der Tscherkesse, dachte gar nicht daran, die Gefangenen den Griechen auszuliefern. Wohl stand er mit diesen in Verbindung und benutzte jede Gelegenheit, sich durch die Kriegsverhältnisse zu bereichern. Sein Ziel aber war ein anderes, und anderen Herren hatte er sich verkauft. Wenn er auch nicht in der Lage war, die weiterreichenden Absichten der Sultansregierung zu erkennen, war er doch der Überzeugung, von ihr größere Vorteile als von irgendeiner anderen Seite erlangen zu können. Einen Erfolg der aller Hilfsmittel entblößten Anatolier hielt er für ausgeschlossen. Hatte er doch mit eignen Augen das ungeheuere Kriegsmaterial der Griechen in Smyrna gesehen, die langen Züge mit Geschützen und Munition, die Wagenreihen, die ununterbrochen in das Innere gingen.
Doch auf den Kisten mit Munition stand in großen Buchstaben »LONDON«. Die Ballen und Säcke auf den Wagen trugen »LONDON« als Aufschrift. London, London stand überall leicht lesbar auf allem, was diese Griechen besaßen.
Und London war die Hauptstadt Englands. Das wußte Mehmed wohl. Zog London, zog England seine Hand zurück, so waren diese Griechlein in ihrer leeren Anmaßung, ihrer hohlen Überheblichkeit allein. Mehmed erkannte dies sehr gut, und er wußte genau, wie sehr diese Griechen untereinander gespalten waren. Hier Anhänger des Königs Konstantinos, dort Parteigänger des Kreters Veniselos. Und dazwischen die schwankenden Gestalten derer, die, hierhin und dorthin lauschend, sich bald dorthin, bald hierhin neigten. Und alle getrieben von ihren kleinen Sonderinteressen, ihrem Durst nach möglichst mühelosem Gelderwerb. Dazu die Maße der gestikulierenden, ständig durcheinander schwatzenden, einfachen Soldaten, alle bestrebt, irgendwelchen Nutzen aus ihrer Lage zu ziehen, alle darauf bedacht, jeden irgendwie gefährlich erscheinenden Auftrag von irgendeinem anderen übernommen zu sehen, in Intrigen, geheime Bestrebungen und Anschläge der sonderbarsten Art verwickelt, um dieses Ziel zu erreichen, ständig ihren Mut und ihr heldenmäßiges, ihr hervorragendes Können betonend, und ständig auf Lügen sinnend, um ihre anderen Lügen zu stützen, arbeitsam und fleißig im Erwerb, nüchtern und sparsam, fast geizig für sich selbst. Doch stets bereit, jeden und alle zu verraten und zu verkaufen, wenn nur sie selbst dabei irgendeinen Vorteil erraffen konnten.
Der durchtriebene Tscherkesse durchschaute sie wohl, und an einen Bestand ihrer Herrschaft in Kleinasien, wenn sie jemals zur Herrschaft kommen sollten, glaubte er nicht. Und was sollten die Engländer in diesem unentwickelten, kahlen Lande, so wie Mehmed es sah? Sicherlich verfolgten sie andere Ziele.
Doch der Sultan war reich. Seine Macht war auf Jahrhunderte gegründet. Er war der Kalif und die Spitze des Islams. Ihm dienten die Völker von Indien bis ins ferne Marokko. Seine Zeit mußte kommen. Und er war klug. Klug und verschlagen waren seine Ratgeber, geduldig und wachsam. Und Mehmed bewunderte verschlagene Klugheit vor allem andern.
Die feile Politik der Verständigung, wie sie der Großwesir trieb, schien ihm die vorteilhafteste. Sobald der Widerstand der Anatolier gebrochen war, mußte die Bedeutung und die Macht der Regierung von Konstantinopel in mehr als gleichem Verhältnis zur Ausschaltung dieser augenblicklichen Behinderung wachsen. Dann würde die Zeit gekommen sein, mit Hilfe der Engländer oder der Franzosen oder irgendeines anderen Volkes, dessen Interessen für die Ziele des Sultanats ausgespielt werden konnten, die künstliche Macht dieser Griechlein wieder zu beschneiden. Mochten sie vor der Hand in Smyrna bleiben und dort Reichtümer sammeln. Später würde sich schon eine Gelegenheit finden, sie ihnen wieder abzunehmen. Jetzt kam es darauf an, die Grenzen des Bezirkes, den man ihnen vorderhand überlasten konnte, möglichst weit nach Süden zu drücken, das Gebiet um Brussa für das Sultanat zu retten und möglichst auszudehnen. Und dort recht große Ländereien für treue Parteigänger des Großwesirs auf Grund geleisteter Dienste zugesprochen zu erhalten.
Dies war das Ziel des Tscherkessen. Dafür arbeitete er. Dafür hatte er Anhänger und Freunde selbst unter den türkischen Grundbesitzern und Bauern gesammelt, denen er mehr Land, Befreiung von Abgaben und Vergünstigungen aller Art versprochen hatte.
Diese Leute, deren in alten Überlieferungen befangenen Fanatismus er für seine Zwecke ausnützte und anstachelte, gaben seinen Bestrebungen einen gewissen Rückhalt. Dies wieder sicherte ihn auch den Griechen gegenüber, die mit seinem Einfluß rechneten. Und Mehmed unterließ nichts, diesen Einfluß als möglichst weitreichend erscheinen zu lassen.
So hatte er es verstanden, seine Fäden nach allen Seiten auszuspannen, und Nadir war nur ein kleines, ihm zufällig in die Hände geratenes Werkzeug, dessen Wichtigkeit im Rahmen seiner Pläne gering blieb.
Deshalb bestand bei ihm auch keine Absicht, die Gefangenen gegen ein Kopfgeld an die Griechen auszuliefern. Unter seinem Vorsitz sollten sie von seinen türkischen Freunden abgeurteilt und verurteilt werden. Die Tatsache ihrer Gefangennahme hatte er schon nach Konstantinopel berichtet. Durch die beabsichtigte Verurteilung bezweckte er, seine Freunde noch fester an sich und an die Regierung des Sultans zu fesseln. Durch ihre Teilnahme an einer solchen Handlung würde er ihnen auch die Möglichkeit nehmen oder doch auf das äußerste erschweren, in irgendwelche Verbindungen mit den nationalen, anatolischen Kreisen zu treten. Den ganzen Vorgang und die Namen aller Beteiligten auch im Innern Anatoliens bekanntzumachen, bot weiter keine Schwierigkeit.
Einen ganz besonders starken Einfluß im Sinne seiner Bestrebungen aber versprach er sich von der Person Halidehs. Den Fanatikern seines türkischen Anhanges mußte eine Frau in männlicher Kleidung, ihr Heraustreten aus dem durch Gesetz und Sitte engumschriebenen Wirkungskreis des Harem, ihr öffentliches Beiseitewerfen aller Überlieferung als ein todeswürdiges Verbrechen erscheinen. Eine solche Unabhängigkeit griff an die Wurzeln des Familienrechtes. Es bedrohte die bisher vom Manne ausgeübte freie Verfügung über das eingebrachte Vermögen der Frau. Und diese Gefahr war besonders groß, eben weil dieses Verfügungsrecht rechtlich in weitestgehendem Maße der Frau selbst zustand, die nur durch ihre überlieferte Absperrung von der Außenwelt, durch ihre mit allen Mitteln geförderte Unkenntnis des Lebens und der tatsächlichen, wirtschaftlichen Verhältnisse in künstlicher Weise zur Ausübung dieser Rechte unfähig gemacht wurde.
Zwar waren die Einzelheiten dieser Gedankengänge Mehmed verschlossen. Er wußte nur von der einfachen Tatsache, daß die Frau hinter verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern ihr Leben zu verbringen habe. Von versiegelten Türen des Wissens und von gegen jeden geistigen Ausblick vermauerten Fenstern wußte er nichts.
Doch er wollte seinen Freunden, die er zu Mit-Richtern über die Gefangenen, zu Mit-Mördern ausersehen hatte, keine Kranken und Verletzten vorführen. Möglicherweise würde dies das Mitleid des einen oder des anderen erregt haben. Auch wohnten sie verstreut in der Umgebung. Mehmed hatte ihnen daher Boten gesandt und sie eingeladen, sich nach einem Monat mit ihm in wichtigen Dingen zu beraten. Die Gefangenen überließ er sich selbst. Sie würden schon sehen, wie sie wieder gesund würden. Nur den Körper des toten Sabri ließ er fortschaffen. Wasser wurde ihnen gebracht und etwas Brot, dazu hin und wieder etwas gekochtes Gemüse, eine Handvoll Reis, ein paar Zwiebeln. Die Gutmütigkeit der Posten fügte ein wenig Salz, etwas Tabak, eine Schachtel Streichhölzer hinzu.
So verging Woche auf Woche. Halideh hatte ihre frühere Beweglichkeit wiedergewonnen. Fahsli war gesund, ebenso wie Dschemal. Nur der Soldat Ahmed litt noch immer an heftigen Kopfschmerzen und lag meistens still in seiner Ecke. Des Abends aber begann er regelmäßig unverständliche Worte vor sich hinzumurmeln.
Halideh grübelte ständig über den Verlust der Pläne. In tausend Gedanken erwog sie alle Möglichkeiten, Ersatz zu schaffen. Ruhelos von einem Ende des Raumes zum andern schreitend, sann sie auf einen Ausweg, überlegte, wie sie Sadik von ihrer Gefangennahme benachrichtigen konnte, damit er andere Bilder, Abzüge der Negative durch jemand andern sende. Aber sie fand keine Lösung. Kein Weg bot sich, mit dem fernen Konstantinopel oder den türkischen Linien in Verbindung zu treten. Die Posten, die sie bewachten, waren alle Tscherkessen und in jeder Weise von Mehmed abhängig.
Sie hatte mit Dschemal endlose Gespräche geführt, damit er, der sich oft und lange mit den Posten unterhielt, einen davon bewegen sollte, eine Nachricht zu befördern. Doch stets war ihm entgegnet worden, daß sie selbst keine Möglichkeit einer Verbindung hätten.
Mehmed selbst hatte sich nicht wieder blicken lassen. Weshalb er sie so lange Zeit hindurch fütterte, war Halideh nicht recht erklärlich. Vielleicht, dachte sie, wollten die Griechen seine Forderungen nicht erfüllen, und die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Halideh verwünschte dies, denn von einem griechischen Gefängnis aus war es ihr sicherlich leichter möglich, jemanden für die Übermittlung von Nachrichten an ihre anatolischen Freunde zu gewinnen und so für die Zustellung der Pläne zu wirken, ehe man sie erschoß.
Nach und nach begann sich auch der Zustand Ahmeds zu bessern. Die Schmerzen ließen nach, und er saß schon hin und wieder mit Dschemal am Fenster und wechselte einige Worte mit den Tscherkessen, die sich auf der Tenne ein Zelt errichtet hatten.
Endlich, eines Abends, näherten sich die Schritte einer Anzahl Männer. Das Haus der Gefangenen, wie der ganze Ort Emed lagen schon im Dunkeln. Nur die fernen Berge im Osten, gegen Anatolien zu, leuchteten noch hell und weiß am Himmel.
Halideh, die am Boden gelegen hatte, stand auf und trat ans Fenster, wo Dschemal leise mit dem einen Posten sprach. Fahsli saß neben Ahmed am Boden im Dunkeln des Raumes.
Die Schritte der Männer kamen näher. Man rief den Posten etwas zu. Dann gingen die Herangekommenen am Fenster vorbei, auf die Tür zu. Einer von ihnen trug eine Laterne, die er anzündete. Halideh zählte acht Bewaffnete.
Also ist er mit den Griechen doch endlich handelseinig geworden. Gut. Jetzt besteht wieder Aussicht für die Pläne.
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, war die Tür geöffnet worden. Zwei der Männer traten über die Schwelle. Die anderen hielten sich schußbereit hinter ihnen.
»Kommt. Einer nach dem anderen«, sagte der größere der beiden Eingetretenen. »Wir werden jeden von euch binden und euch dann abführen.«
»Wohin?« fragte Halideh, auf den Mann zutretend.
»Nicht weit von hier. Ihr sollt zu Mehmed kommen. Er erwartet euch.«
Halideh drehte sich um, legte die Hände auf dem Rücken zusammen und ließ sich binden.
»Kommt!« rief sie den anderen zu. »Wir wollen keine Schwierigkeiten machen. Er führt uns zunächst nur in das Haus des Tscherkessen.«
Als alle gefesselt waren, zog man ihnen einen Strick durch die gefesselten Arme und band sie so aneinander. Umgeben von den Bewaffneten wurden die Gefangenen dann zum Gehöft Mehmeds geführt.
In einem niedrigen, die ganze Tiefe des Hauses einnehmenden Raume waren an dem einen Ende Teppiche und weiche Baumwolldecken auf den Fußboden gebreitet. Zwei verhängte Lampen standen an den Längsseiten des Zimmers auf niedrigen Tischen. Die Fenster waren mit dunklen Tüchern verhängt. An den Wänden hingen Kleidungsstücke, einige Waffen und ein paar Reihen getrockneter Zwiebeln.
Auf den Decken und Teppichen saßen eine Anzahl Männer. Einige von ihnen trugen Turban, andere hatten ihren Fes mit einem weißen oder grünen Tuch umwunden, in dem ihre toten Körper einstmals zur letzten Ruhe gebettet werden sollten. Ein paar Wasserpfeifen gurgelten. Vor fast einem jeden standen die ausgezogenen Schuhe. In Gruppen beieinander sitzend, unterhielten sie sich leise. An der Tür, in ihrem Rücken, warteten zwei Diener auf jeden Wink, füllten die Pfeifen, und setzten sie in Brand, brachten Kaffee, reichten Gläser mit Wasser und Sorbet, kleine Teller mit Süßigkeiten und Gebäck.
Mitten unter den Gruppen saß Mehmed in der vorderen Reihe. Er sprach wenig, sondern rauchte Zigaretten und hielt die Augen auf die gegenüberliegende Eingangstür gerichtet.
Endlich machten sich im Hofe Schritte bemerkbar. Die Tür wurde geöffnet, und die Gefangenen traten ein.
Überrascht blickte Halideh auf die seltsame Versammlung. Sie hatte erwartet, auf Wagen verpackt, auf ein Pferd gebunden, zu Fuß fortgetrieben zu werden, einem griechischen Gefängnis zu, irgendwo jenseits der Berge. Und statt dessen dieser erleuchtete Raum, diese halb feierliche, halb gesellige Versammlung! Erstaunt blickte sie in die Gesichter der ihr gegenüber befindlichen, am Boden sitzenden Männer, deren farbige Kopfbedeckungen in dem unsicheren Lichte der beiden Lampen stumpfbunte Flecken bildeten.
Die meisten trugen Bärte; weiße und braune, graue und schwarze, die weißen und schwarzen lang und fließend, die braunen und grauen kurz gehalten und spitz zulaufend. Die Augen der Versammelten schienen alle auf die ihren gerichtet, mit einem hier abwehrenden, dort mißtrauischen, haßerfüllten oder verächtlichen Ausdruck, in den sich bei allen aber eine gewisse neugierige Spannung, etwas unterdrückt Erwartungsvolles mischte.
Die Männer der Bewachung lösten die Stricke, die die vier Gefangenen aneinander fesselten und banden ihnen die Arme los. Dann bedeuteten sie ihnen, sich auf den Boden zu setzen und nahmen hinter und neben ihnen Platz. Seit dem Eintritt Halidehs und ihrer Mitgefangenen war kein Wort gesprochen worden. Die Diener an der Tür im Rücken der Versammelten standen ganz still und verfolgten mit den Blicken jede Bewegung der Eingetretenen. Hin und wieder gurgelte eine Wasserpfeife leise auf, verstummte aber sofort wieder, als fürchte der Raucher die Stille zu stören.
Als die Gefangenen am Boden saßen, führte Mehmed seine Zigarette zum Munde und stieß eine dichte Rauchwolke aus, die sich langsam erhob, einen Augenblick vor seinem Gesicht schwebte, sich dann wie ein Schleier breitete und sich löste. Er hob die Hand.
»Meine Freunde«, begann er mit seiner harten Stimme. »Meine Freunde! Nicht allein wollte ich in dieser Sache handeln. Ihr selbst solltet euch überzeugen, daß die Feinde des Kalifen, diese Aufrührer und Abtrünnigen des Islam bis zu uns dringen und auch hier Unruhe und Verwirrung stiften wollen.«
»Ah!« dachte Halideh, »Feinde des Kalifen! Abtrünnige des Islam. Die Sache wird klarer!«
»Was haben sie hier zu suchen?« hörte sie Mehmed fortfahren. »Anatolien haben sie verwüstet und ins Unglück gestürzt. Wissen wir nicht, daß die Dörfer im Innern verwüstet sind, die Felder unbestellt, das Vieh fortgetrieben? Haben wir nicht gehört, wie den Kaufleuten die Hälfte ihrer Waren genommen wurde, um diese Räuber, die sich wider den Sultan erhoben haben, zu kleiden und zu ernähren? Ihre zusammengewürfelten Banden, geführt von Leuten ohne Besitz, habgierig und raubsüchtig, schlecht bewaffnet, ohne Munition oder Geschütze verlängern den hoffnungslosen Widerstand gegen die griechischen Armeen, die die Engländer mit allem im Überfluß versehen. Wenn diese Armeen nicht vorrücken, so wissen wir, weshalb. Die Bewegung dieser Aufständischen wird in sich selbst zusammenbrechen. Eines Tages werden die hungrigen Banden dieser Anatolier auseinanderlaufen. Ihre verblendeten Führer werden obdachlos durch die Lande streichen, bis man sie fängt. Dann wird die geheiligte Macht des Sultans wieder herrschen und seine Anhänger für ihre Treue in den Tagen des Unglückes belohnen.
»Und dieser Tag wird kommen. Wenn wir auch heute leiden und unter der Gewalt der Fremden uns beugen müssen, so wissen wir doch, daß die bewährte Klugheit der Ratgeber des Sultans für unsere Befreiung arbeitet. Unser seit Jahrzehnten in Kriegen verwüstetes Land liegt am Boden. Die Kraft unserer Waffen ist erschöpft. Doch unsere Geduld, kluge Mäßigung, weise Vorsicht wird der Kraft unseres Geistes zum Siege verhelfen. Wir müssen uns mit den Feinden verständigen, ihnen nachgeben und der Zeit und dem Geschick vertrauen, bis der Tag gekommen sein wird, an dem wir wieder stark sind, um die Fesseln zu zerreißen, die man uns heute aufzulegen sucht. Und was sind diese Fesseln? Hindern sie uns, unsere Äcker zu bestellen, unsere Pacht zu nehmen, unsere Waren zu verkaufen?
»Bei diesen Anatoliern aber herrscht nichts als Unordnung und Armut. Wer von diesen Bettlern kann etwas kaufen? Wer von ihnen Pacht zahlen? Hier im Rücken der griechischen Armeen und treu dem Sultan leben wir in stiller Ruhe, wenn auch nicht in Frieden, aber doch einer besseren Zukunft gewiß.«
Mehmed hatte mit ruhiger Stimme gesprochen, die jedes Wort hervorhob und betonte. Halideh sah, wie dieser und jener der Zuhörer am anderen Ende des Zimmers zustimmend den Kopf bewegte. Einige der Wasserpfeifen gurgelten in regelmäßigen Zügen, und sie suchte herauszufinden, welche der Raucher mit solchem Gleichmut den Worten Mehmeds folgten. Doch welchen Zweck mochte er mit seiner langen Rede verfolgen? Was wollte er? Weshalb hatte er sie und ihre Begleiter herbeigeholt? Sicherlich nicht, um seinen hohlen Redensarten zuzuhören. Doch schon die nächsten Worte Mehmeds sollten sie aufklären. Mit dunkler Stimme begann er:
»Diese Aufrührer aber bedrohen die Ruhe, in der wir leben. Sie schwächen die Macht, die dem Kalifen geblieben ist. Sie erschweren die Verhandlungen der Verständigung, des Friedens, den wir alle ersehnen. Darum müssen sie sterben, Aufrührer und Verräter, die sie am Sultan sind und an uns.
»Doch bin ich Richter? Bin ich Pascha? Bin ich allein? Eure Klugheit ist bekannt. Eure Treue gegen den Padischah ist über alle Zweifel erhaben. Eure Ergebenheit für die Sache der Regierung ist ihr eine Stütze und Hilfe in ihrer schweren Aufgabe, uns den Frieden zu sichern. Euer Ansehen gilt im Lande.
»Deshalb habe ich euch gebeten, mit mir den Urteilsspruch gegen diese Verräter zu fällen, damit niemand sagen kann, ich habe mich an Unschuldigen vergriffen, Schuldlose getötet.«
Mehmed schwieg und sah starr vor sich hin.
›Dies also ist es‹, dachte Halideh. ›Er will diese Leute in seine Tat verstricken. Unser Tod soll sie fest in seine Hand geben. Nicht allein will er die Verantwortung unseres Todes tragen. Er fürchtet den rächenden Arm des Pascha. Am Tage des Gerichtes will er Genossen haben. Das aber wird ihm nichts nützen. Doch auch ich kann sprechen. Trotz allem, was er sagt, ist er der Zukunft nicht sicher. Wenn es mir gelingt, auch nur einige dieser Männer zu gewinnen, ihnen die Sache Anatoliens ins Herz zu brennen, ihre Selbstsucht in türkischen Stolz und in Haß gegen die fremden Unterdrücker zurückzudrängen, und wenn ich andere auch nur mit etwas Besorgnis, vielleicht Furcht vor der Zukunft erfüllen kann, dann wird Uneinigkeit zwischen ihnen entstehen. Wir werden Zeit gewinnen. Und so lange ich lebe, kann ich für Anatolien arbeiten. Tot aber ...‹
»Und was ist ihre Schuld? Wer sind diese Leute?« fragte plötzlich einer aus den Versammelten.
Seine Worte hatten Halideh in ihren Gedanken unterbrochen. Schnell suchten ihre Blicke unter den ihr gegenüber Sitzenden. Der Sprecher war ein Mann in grauem Bart, dessen Fes das grüne Tuch der Mekkapilger trug.
»Das will ich dir sagen, Habib Effendi«, antwortete Mehmed. »Diese Leute sind in der Nacht in unser Tal gekommen, bewaffnet, aus dem Norden. Zwei davon sind Offiziere, die beiden anderen Soldaten der Aufrührer. Ihre Absicht ist klar. Sie gehören den Banden an, die dieser Pascha mit dem schwarzen Kalpak um sich gesammelt hat, um Anatolien zu verderben. Auch in dieses Land wollen sie den Aufruhr gegen den Kalifen tragen. Auch dieses Land wollen sie verwüsten. Fragt sie selbst, ob ich die Wahrheit spreche.«
Ein anderer der Männer mit einem Turban auf dem weißbärtigen Kopfe, fragte laut:
»Ihr habt gehört, was Mehmed Kara oghlu gesagt hat. Was habt ihr zu entgegnen?«
Halideh warf dem neben ihr sitzenden Fahsli einen Blick zu und sah zu den Soldaten hinüber, die hinter ihm Platz genommen hatten, und die ihrerseits sie ansahen.
Sich dem Fragenden zuwendend, rief Halideh laut:
»Er lügt, Baba. Er lügt.«
Mehmed beugte sich etwas vor. Dann sagte er:
»Es ist gut. Ich lüge. Doch wer bist du? In Männerkleidung bist du gekommen! Ist das Lüge? Du trägst Waffen, wie ein Mann! Doch das ist Lüge! Du gibst Befehle, wie ein Mann! Ist das auch Lüge? Du herrschst über deine Begleiter wie ein Mann! Eine neue Lüge! Wer bist du? Ich will es dir sagen. Du bist die lebendige, die wandelnde Lüge. Du bist ein Weib. Dein Platz ist nicht, wo du dich hingestellt hast. Wer wird für dich sprechen, wenn ich dich töten werde? Du wirst sterben und ausgelöscht sein, und dein vertrocknetes Gefäß wird toter Staub. Wo ist deine Seele, daß sie mich vor dem ewigen Richter der Lüge zeihe! Wie wagst du von Lüge zu sprechen, die du selbst die Lüge bist.«
Mehmed hatte lauter und lauter gesprochen, bis seine Stimme den Raum dröhnend erfüllte.
Plötzlich abbrechend, schwieg er einen Augenblick. Dann sagte er mit seiner gewöhnlichen Stimme:
»Doch damit sie mich nicht wieder der Lüge zeihe, bringt sie hierher. Reißt ihr die Kleider vom Leibe, damit jeder sehe, daß ich die Wahrheit spreche.«
Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, in der nur der Nachklang seiner harten Worte schwang.
Halideh war aufgesprungen. Wie im Fieber flogen ihre Augen über die Gesichter der Männer ihr gegenüber, die mit überraschten, fragenden, wie von einem plötzlichen inneren Feuer erfüllten Augen auf sie gerichtet waren. Doch sie sah keinen Haß. In den Blicken des einen und des andern las sie sogar etwas wie Mitleid.
›Mit seinen eigenen Waffen will ich ihn schlagen‹, fuhr es ihr durch den Kopf. Fahsli war vor sie getreten und breitete wie schützend die Arme aus. Dschemal stand an ihrer Seite, und sogar Ahmed war aufgesprungen und legte ihr die Hand auf den Arm. Hinter ihr erhoben sich die Bewaffneten Mehmeds.
Halideh schüttelte Ahmed ab, schob Fahsli zur Seite und trat vor.
Ohne ein Wort zu sagen, begann sie, sich zu entkleiden. Es war ganz still im Zimmer. Niemand rührte sich. Nur das Fallen der Kleidungsstücke, die Halideh abwarf, unterbrach das Schweigen.
Als sie ganz nackt war, trat sie einen Schritt vor:
»Zu deiner Scham, du Schamloser, stehe ich hier; nicht zu der meinen. Mögen die Augen verflucht sein und erblinden, die mich sehen. Doch ihr sollt meine Antwort hören! Ich werde zu euch sprechen, wie man zu Kindern spricht. Ja, wie eure Mutter werde ich zu euch sprechen, ihr, die ihr Kinder seid, trotz eurer Bärte.«
Die Blicke der Männer vor ihr hatten sich gesenkt. Niemand wagte es, sie anzusehen.
In Halideh wogte eine seltsame Erregung. Ein ruhiges Feuer schien ihre Adern zu erfüllen. Anatolien lag vor ihr, arm, steinig, mit kargen Wassern und spärlichen Bäumen. Und die großen grauen Augen des Pascha unter dem schwarzen Kalpak blickten wie aus einem Nebel ernst und still in die ihren.
Sie kauerte sich nieder und schlang die Arme um die nackten Knie.
» Ewwel semanda ...« begann sie nach einer Weile mit dem Anfang aller türkischen Märchen.
» Ewwel semanda benim fikirleriming baghtscheside gesijor idim.« Sie sprach mit leiser Stimme, doch klar und mit dem schwingenden, silbernen Unterton, der dem Türkischen im Munde türkischer Frauen einen so anziehenden Wohllaut verleiht.
»Es war einmal, und vor kurzem,« sagte sie, »da wandelte ich wunschlos im Garten meiner Gedanken.«
Lautlose Stille lag über dem Raum. Halideh hielt einen Augenblick inne, wie als lausche sie dem Winde, der leise vor dem Fenster sang.
»Es war Abend in meinem Garten,« nahm sie ihre Worte wieder auf, »und hinter den hohen Zypressen meiner Furcht stand die Sonne. Schwarz hoben sie sich, still und ernst, vom schon goldgefärbten Abendhimmel ab. Sie warfen lange, dunkle Schatten über meinen Weg.
»Und den Weg umsäumten, dunkelgrün und glänzend, kleine Sträucher, in denen wie Granatäpfel die geschlossenen Träume meiner Kindheit als farbige Früchte sich wiegten. Und wie ich ging, neigten sich vor mir die hohen Blumen meiner Hoffart und meines Hochmutes. Goldengelb, und in hellem Blau standen sie auf ihren schlanken Stengeln, im Rahmen blaßgrüner Blätter, und verneigten sich grüßend. Ich winkte ihnen mit der Hand, denn ich liebte sie im geheimen mehr als alle anderen.«
Halideh hielt einen Atemzug lang inne und umfaßte mit dem Blick ihre Zuhörer. Doch nur einer sah sie an, ein braunbärtiger Mann im Fes. Irgendwie schien er ihr bekannt. Doch sein Auge sah sie nicht. Weit und abwesend blickte es in unsichtbare Fernen, in den Garten seiner eigenen Träume.
Und Halideh fuhr fort:
»Durchsichtig und wie gefüllt mit warmer Süße nickten in ihrem Rankengewirr die Rosen meines Mitleids, gelb und rot und purpurn und auch weiß. Ihre Köpfe waren wie müde zur Erde gebogen, müde und schwer von der Hitze des Tages.«
Die Stimme Halidehs war zu einem Flüstern gesunken und erfüllte doch den ganzen Raum.
»In den Gräsern zwischen den Blumen aber leuchteten leise und zart die Gedanken meiner Liebe! meiner Liebe für die Eltern und die Geschwister, meiner Liebe für die Armen, meiner Liebe für die Menschen, für das Pferd, das ich ritt, für die Waffen, die ich trug. Zahlreich waren die Blumen meiner Liebe, und sie leuchteten in einem Glanz, der wie ein Schleier den ganzen Boden des Gartens bedeckte. Sie aber neigten sich nicht. Still und unbeweglich sahen sie mich an, und ihr Glanz war kühlend. Der Teppich ihrer Sterne drängte bis auf den Weg, und umgab meine Füße, die weich und lautlos darauf hinschritten ...
»Und wie ich langsam und wunschlos ging, umgeben von meinen Gedanken des Stolzes, hoch und farbig, hinter denen die Rosen meines Mitleids in den Hecken glühten, der Weg umsäumt von den fahl glänzenden Träumen meiner Kindheit, geleitet und wie beschützt von den Blumen meiner Liebe zu meinen Füßen, im Schatten der Zypressen meiner Furcht, – da stand plötzlich vor mir, hoch und mit tausend brennenden Blüten bedeckt, – der Baum meines Hasses.
»Er beugte sich nicht. Seine dunklen Blätter bedeckten in dichter Schwere seine Zweige, zwischen denen gelbrot und seltsam große Blütenkelche standen, hart und unbiegsam.
»Auf dem Baum lag voll das Licht der scheidenden Sonne.
»Und ich verneigte mich.
»Dann hob ich meine Arme beschwörend ...«
Unvermittelt sprang Halideh auf, trat einen Schritt vor und streckte beide Arme aus. Ein Zucken ging durch ihre Zuhörer, die plötzlich wie erschreckt aufsahen. Aller Blicke lagen auf ihrem Gesicht, voller Erwartung.
»Beschwörend hob ich meine Arme, denn ich fühlte die Kraft meines Hasses mich wie feuriges Blut durchrieseln, und ich blieb stehen.«
In ihre Stimme war ein seltsames Zischen gekommen, eine unterdrückte, gebändigte Erregung.
»Und mein Haß leuchtete auf, wie in einer Flamme, die kerzengerade gen Himmel zeigte, so daß meine Augen geblendet den Schatten zu Füßen des lodernden Flammenbaumes suchten.«
Halideh ließ ihre Arme sinken und trat wieder einen Schritt zurück.
»Und dort fielen meine Blicke auf die Blumen meiner Liebe, der Liebe für mein Land, für Anatolien. Ihre Sterne leuchteten klar und hell, und ich sah ...«
Sie sank plötzlich wieder in sich zusammen und umfaßte ihre Knie.
»... und ich sah,« flüsterte sie wie beschwörend, »daß die Flamme, die den Baum meines Hasses umloderte, aus den stillen Blumen meiner Liebe für Anatolien wuchs, die dicht und eng gedrängt seinen Stamm umgaben.«
Gebannt hingen die Blicke ihrer Zuhörer an ihren Lippen. Tiefes Atmen erfüllte den Raum.
Langsam blickte Halideh von einem zum andern. Dann sagte sie mit veränderter Stimme, als spräche sie zu sich selbst:
»Im Garten murmelten leise die Wasser meiner Sehnsucht, die die Blumen meiner Gedanken nährten. Sie netzen die Steine der Freiheit und der Sicherheit aller, die Steine der Gerechtigkeit und des Wohlstandes, die Kiesel der Sitte und des Fortschrittes, der Ordnung und des Wissens.
»Und das Murmeln der Wasser meiner Sehnsucht wuchs an und erfüllte mein Ohr. Es gab meinem Herzen eine fremde, stolze Kraft.
»Die Sonne ging unter. Die Schatten der Bäume meiner Furcht versanken, und die hohen Blumen der Hoffart und des Stolzes verschwebten im Dunkel. Nur der Baum meines Hasses, umleuchtet von den Flammen meiner Liebe für Anatolien loderte gen Himmel: ernst, still, gerade, zwingend.«
Sie brach plötzlich ab und schwieg.
Dann stand sie langsam auf und blickte prüfend und hart von einem der Männer zum andern, unbeweglich.
»Für Anatolien, für uns, für euch, die ihr Türken seid, habe ich gehungert und gedürstet, habe ich gekämpft.
»Für Anatolien, für uns, für euch, die ihr Türken seid, habe ich Schmerzen ertragen, Gefahren und Unbilden aller Art auf mich genommen. Zwei Jahre hindurch. Für die Freiheit der Türkei vom Joch der Fremden; für die Freiheit der Türken vom Joch veralteter, erstickender, morscher, überlebter Einrichtungen.
»Aus Liebe zu Anatolien, zu euch, die ihr Türken seid!
»Und mich wollt ihr töten! Mich? Auf das Geheiß eines Fremden?
»Den Baum der Gedanken meines Hasses gegen alle und alles, was uns erniedrigt, den wollt ihr fällen? Ihr Anatolier, ihr Türken! Die brennenden Blumen meiner Liebe wollt ihr zertreten?«
Sie kreuzte die Arme über der nackten Brust und sah starr vor sich hin. –
Der Mann mit dem braunen Bart sprang plötzlich auf. Seine träumerischen Augen brannten in einem dunklen Feuer.
»Bei Gott und dem Propheten!« rief er so laut, daß alle zusammenzuckten und ihn ansahen. »Bei Gott dem Barmherzigen, ihre Worte sind die Worte einer Mutter. Sie spricht wahr, und sie spricht die Sprache unserer Kindheit. Ich will an dieser Schmach keinen Teil haben.«
Er riß eine Decke in die Höhe.
»Wer sie auch sei, sie ist meine Schwester«, und schnell auf Halideh zutretend, legte er die Decke um ihre Schultern.
Eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Plötzlich wußte Halideh, wo sie ihn gesehen hatte.
»Dere Köy ...?« sagte sie leise, fragend.
»Dere Köy«, antwortete der Mann bestätigend.
»Doch warum ...?«
»In unserem Steine sah ich dein Bild. Ich bin Derwisch. Auch kam ein Befehl. Fürchte dich nicht!«
Während dieser kurzen Worte war Mehmed langsam auf sie zugetreten und stand an seiner Seite. Laut und gemessen sagte er:
»Du vergißt, wo du bist, Sia Bey! Dies ist mein Haus, und dies sind meine Gefangenen. Mich betören so leicht keine Märchen und ...«
»Du hast uns hierhergerufen, über diese Gefangenen zu urteilen«, unterbrach ihn kurz der mit Sia Angeredete. »Wir haben deine Worte gehört und die Worte dieser Frau. Gut. So laß uns urteilen!«
Er trat schnell an Mehmed vorbei auf die anderen zu, von denen einige aufgestanden waren. Alle sprachen erregt untereinander.
»Effendiler!« rief Sia laut. »Ihr habt gehört, was uns Mehmed Bey gesagt hat. Und auch meine Worte werden euren Ohren nicht entgangen sein. Ihr seid Türken wie ich. Vielleicht sind wir anderer Meinung als die, die den schwarzen Kalpak tragen, über das, was der Türkei nottut. Hier aber sollen wir urteilen über Gefangene, die unsere Brüder sind, unsere Schwester. Die Worte dieser Frau haben an Verborgenes in meinem Herzen gerührt. Die verschütteten Quellen der Kindheit hat sie aufsprudeln lassen. Wer von uns wollte die Hand gegen sie erheben? Gegen sie, die aus Liebe haßt, die aus Liebe ihr Geschlecht vergißt, deren Sehnsucht unsere Sehnsucht ist?«
Er blickte blitzenden Auges um sich. Alle Gesichter hatten sich ihm zugewendet.
»Und was meinst du, Sia Bey, das wir tun sollen? Sollen wir auch den schwarzen Kalpak tragen?« fragte ein Mann in einem langen grauen Rock, der ihm bis auf die Füße fiel. Ein dichter, schwarzer Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichtes.
»Wer spricht davon, Tschakir Bey? Willst du diese Leute töten, weil ihre Art, die Türkei zu lieben, von der unseren abweicht?«
»Und was soll mit ihnen geschehen«, fragte der andere weiter. »Glaubst du der Sache des Kalifen zu dienen, wenn du dich auf die Seite der Aufrührer und Abtrünnigen stellst?«
»Woher kommt dir diese Weisheit, Tschakir Bey? Du irrst. Das tue ich nicht. Aber auf der Seite von Mördern wirst du mich nie finden. Und diese Leute zu töten, wäre Mord.«
Tschakir wandte sich Mehmed zu.
»Und du! Hast du nichts mehr zu sagen? Wes klagst du die Gefangenen an?«
»Das habe ich gesagt. Ihr alle habt es gehört. Das Märchen, mit dem diese Verworfene euch zu betören sucht, bestätigt es nur: sie sind Aufrührer gegen den Kalifen, Verräter am Sultan. Sie müssen sterben«, antwortete der Tscherkesse heftig.
»Wer seiner Meinung ist, der trete zu ihm«, rief Sia und ging einen Schritt zur Seite. »Wer aber mir zustimmt, der komme zu mir!«
In die Versammelten kam Bewegung. Sie riefen durcheinander. Die Meisten wandten sich Sia zu.
Nur ein alter, weißbärtiger Mann, der ruhig am Boden sitzengeblieben war, rührte sich nicht.
»Und du, Subhi? Gib uns deine Meinung«, hörte man Tschakir rufen, der auf den Sitzenden zutrat.
»Ja, hören wir, was Subhi denkt.«
»Sprich, Subhi Bey!«
»Deine Worte sind Weisheit!« riefen die anderen durcheinander.
Langsam trat Stille ein. Die Gruppen hatten sich verteilt und standen um Sia und Mehmed geschart, dem sitzenden Subhi gegenüber. Doch außer Tschakir hatten sich nur drei andere zu Mehmed gestellt. Der Rest stand auf Sias Seite.
Subhi blickte ruhig und wie unbeteiligt vor sich hin. In der Hand hielt er das Mundstück seiner Wasserpfeife. Langsam hob er die Spitze und zeigte auf die beiden Gruppen.
»Ihr habt schon entschieden. Und ihr könnt mich Sia Bey zugesellen. Was sollen wir weiter sprechen? Diese Leute aus Anatolien haben nichts getan, das uns, die wir auch Anatolier sind, gestattet, sie zu töten. Man sende sie zu denen zurück, die gleichen Sinnes mit ihnen sind. Ob wir recht haben und der Kalif, oder der Pascha mit dem schwarzen Kalpak, das wird Allah entscheiden!«
Niemand antwortete. Mehmed sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Sein Ziel, die Versammelten durch gemeinsames Handeln unlöslich an sich zu fesseln, ließ sich nicht mehr erreichen, jetzt wo auch Subhi Effendi, der Einflußreichste unter ihnen, sich gegen ihn entschieden hatte. Endlich griff er in die Tasche seines Rockes.
Seine Brieftasche hervorholend, entfaltete er ein Blatt Papier.
»Ich beuge mich eurer Entscheidung. Ich werde nichts gegen die Gefangenen unternehmen. Doch den Vorschlag Subhi Effendis auszuführen, – dem vermag ich nicht zuzustimmen. Vier unserer Freunde sind in der Gewalt des Paschas. Und der Pascha ist Märchen nicht so leicht zugänglich wie die Mehrzahl von uns. Sein Herz ist hart. Hier schreibt man mir aus Der sa'adet«: – und er reichte das Blatt Subhi hin – »daß wir meine Gefangenen so lange in Gewahrsam halten sollen, bis sich das Schicksal Fethy Beys und seiner drei Freunde entschieden hat. Sie sind vor das Kriegsgericht in Amasia gestellt worden. Solange sie leben, werden auch diese Gefangenen leben. Verurteilt man sie zum Tode, dann müssen auch diese hier sterben.«
Verwunderung, und zum Schluß Bestürzung zeigte sich auf den Gesichtern der Gruppe um Sia Bey. Subhi, der den Brief langsam gelesen hatte, ließ die Hand sinken.
»Es ist, wie du sagst. Und was du sagst, ist nicht zu widerlegen. Leben für Leben. Ein altes Gesetz. Doch vielleicht, daß auch alte Gesetze veralten! Gott ist groß! Möge er uns in seiner Barmherzigkeit zum Frieden führen.«
Schweigend traten die Gruppen auseinander. Halideh war zu ihren Mitgefangenen zurückgekehrt und hatte ihre Kleidung wieder angelegt.
Auf einen Befehl Mehmeds wurden sie in das Haus, das ihnen als Gefängnis diente, zurückgeführt.
Undurchdringlich lag die Nacht über Anatolien. Dunkel und verborgen war die Zukunft. Halideh stand am Fenster und blickte in die stille, nur undeutlich erkennbare Landschaft.
So hatte Behaeddin seine Aufgabe erfüllt. Es war ihm gelungen, die Sendboten des Großwesirs unschädlich zu machen. Er wenigstens hatte Erfolg gehabt – und mit seinem Erfolg war ihr eigener Mißerfolg in seltsamer Wechselwirkung verstrickt. Wenn man die von ihm Gefangenen zum Tode verurteilte, mußte sie sterben! Wußte das Behaeddin? Sie sah sein energisches Gesicht mit dem leicht mädchenhaften, gütigen Lächeln vor sich. Es war besser, er wußte es nicht. Der Gedanke konnte ihm die Freude an seinem Erfolge trüben. Und sein Erfolg diente Anatolien, diente dem Siege.
Doch sie, Halideh, hatte ihre Aufgabe nicht erfüllt, hatte die Pläne nicht abgeliefert. War es da nicht besser, zu sterben!
Plötzlich ging hinter einer Kuppe im Osten der Sirius auf. Sein glänzendes, grünliches Licht überstrahlte die anderen Sterne. Langsam und stolz stieg er höher und höher.
»Suria!« rief Halideh. »Suria! der Stern der Unverzagtheit.«
Und ihre Gedanken flogen zurück zu Suria Bey und der Schlacht im Pursaktale. Wer hatte mehr Recht, den Namen dieses Sternes zu tragen, als der Major des 34. Regimentes? Mit Stolz dachte Halideh an jene Tage zurück und an die stets gleichbleibende Ruhe jenes einsamen Mannes, der heute das Regiment führte, ihr Regiment. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Ihn und Behaeddin?
Dunkel lag die Nacht über Anatolien. Verborgen die Zukunft. Doch der Stern der Unverzagtheit leuchtete höher und höher am Himmel, am Himmel des Sonnenaufganges.