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5. Die Beratung

Der kleine schmutzige Dampfer, der von den Süßen Wassern zur Galata-Brücke den Verkehr vermittelte, hatte Ejub verlassen. Die Sonne stand schon tief im Westen und ließ die Häuser in Kiasim Pascha und Pera glutrot leuchten. Glutrote Streifen lagen auch auf der glitzernden Oberfläche des Goldenen Horns, das der Dampfer stöhnend durchwühlte. Dichtgedrängt lagen an beiden Ufern schwerfällige Mahonen, deren nackte Masten wie ein entlaubter, toter Wald gegen den flimmernden Himmel standen.

Der Dampfer war nur spärlich besetzt, so daß Haidar Resched und Behaeddin allein für sich auf einer der Deckbänke saßen und sich ungestört und ohne Furcht, belauscht zu werden, unterhalten konnten. Vor zwei Stunden hatte Haidar eine dringende Nachricht von Halideh erhalten, sie noch am Abend in dem Hause Isset oghlu Omers, von dem aus sie zusammen mit Tahssin seit mehreren Tagen schon die Wohnung der Tänzerin Valera überwachte, aufzusuchen. Haidar hatte sich beeilt, Behaeddin zu benachrichtigen, der unweit von Ejub sich versteckt hielt, und zusammen strebten sie jetzt der Galata-Brücke zu, um dem Rufe des unerschrockenen Mädchens Folge zu leisten.

»Irgend etwas Besonderes muß vorgefallen sein«, bemerkte Behaeddin, eine Zigarettenschachtel hervorziehend.

»Wahrscheinlich werden sie etwas in der Wohnung der Tänzerin entdeckt haben, was zu schnellem Handeln zwingte«, erwiderte sein Begleiter, der mit den gelben Kugeln seines Tespich spielte.

»In dem Fall wird Halideh wohl schon einen ganzen Plan fertig haben. Ich kenne niemanden, der mit so großer Entschlossenheit und, ich möchte wohl sagen, untrügbarem Instinkt den einmal für richtig erkannten Weg verfolgt«, damit legte sich Behaeddin etwas zurück, um seine Zigarette in Brand zu stecken.

»Und doch, trotz ihres männlichen Auftretens bleibt Halideh doch immer die sorgende, türkische Frau, der nichts näher am Herzen liegt als ihre Angehörigen. Die mit großer Liebe an denen hängt, die sie einmal in ihr Herz geschlossen hat«, sagte Haidar Resched mit einem verstohlenen Seitenblick auf seinen Begleiter.

Behaeddin blickte nach dem nördlichen Ufer des langgestreckten Hafens, wo soeben die breiten, wuchtigen Gebäude der türkischen Admiralität aus dem Grün des sie umgebenden Gartens sichtbar wurden. Nach einiger Zeit sagte er, sich dem älteren Freund zuwendend:

»Du hast sicherlich recht. Jedoch ihr Charakter ist hart, und so leicht wird sie niemanden in ihr Herz schließen. In ihr Herz, das heute von einer verzehrenden Liebe für die türkische Sache, von einem brennenden Haß gegen unsere Unterdrücker bis zum Bersten gefüllt ist.«

»Bist du dessen so gewiß?« fragte Haidar Resched wie überrascht, Behaeddin voll ins Gesicht sehend.

Die Augen des Jüngeren senkten sich vor dem forschenden Blick seines Freundes. Er führte seine Zigarette an die Lippen und stieß eine dichte Rauchwolke auf, die der Wind schnell wie zornig zerriß. Eine Zeitlang gab er keine Antwort, dann sagte er, wie vor sich hinsprechend:

»Wie sollte ich das nicht wissen? Ich kenne sie seit über einem Jahr, und die Zeit, die verstrichen ist, bevor ich sie sah, ist wie aus meinem Gedächtnis gewischt. Sie ist für mich ein Erwecker und ein Führer geworden. In der Verzweiflung, in dem wortlosen Entsetzen, mit dem wir alle seinerzeit den plötzlichen Untergang aller unserer Hoffnungen erleben mußten, hat sie mich mit neuem Mut erfüllt. Mir und vielen andern hat sie den rechten Weg, den Weg des Kampfes, den Weg des Vergessens der eigenen Persönlichkeit gewiesen. Ein Stern ist sie mir und der Traum einer unerfüllbaren Sehnsucht.«

Die Stimme Behaeddins war leise geworden, fast ein Flüstern. Seine Blicke hatten sich erhoben und hingen nichtssehend an den goldenen Spitzen der Minarets, die die Moschee Solimans hoch oben auf den Hügeln Stambuls wie Lanzen umgeben.

»Und hast du ihr das nie gesagt?« fragte Haidar Resched.

Der andere streifte sein Gesicht mit einem schnellen Blick und stand auf:

»Sie hat mir geantwortet,« sagte er dann, »daß, solange sich noch ein feindlicher Soldat auf dem Boden Anatoliens befände, sie keine Zeit habe, sich mit wem auch immer zu beschäftigen. Sollte ich morgen erschossen werden oder in acht Tagen in irgendeinem Gefecht fallen, so würde in ihrem Gedächtnis auch nicht ein Gedanke an mich zurückbleiben.«

Haidar Resched erhob sich ebenfalls und legte seinen Arm in den des Jüngeren.

»Nichts ist so aller Wahrheit bar, als was eine Frau von sich selbst sagt. Glaube mir, in ihrem Herzen ist noch immer Platz, auch wenn ganz Anatolien darin geborgen liegt, denn das Herz einer Frau ist größer als die ganze Welt.«

Eine Zeitlang standen die beiden schweigend nebeneinander. Vor ihnen dehnte sich das Panorama der moscheenbekrönten Hügel Stambuls, die harmonisch in grünen Terrassen mit der Serailspitze ins Meer abfielen, um jenseits des Bosporus, auf dem asiatischen Ufer, scharf zu den dunklen Zypressen der Friedhöfe von Skutari wieder anzusteigen, während zur Linken sich das heiße, harte Häusermeer Peras türmte.

Der Dampfer näherte sich schon der Brücke, als Behaeddin sich seinem Freunde wieder zuwandte und sagte:

»Du glaubst also wirklich, daß für mich noch Hoffnung sei, das Herz Halidehs zu gewinnen?«

Ein Lächeln überflog die Züge Haidar Rescheds, als er, den Arm des andern drückend, erwiderte:

»Nichts würde mich mehr wundern, als später einmal feststellen zu müssen, daß du es heute noch nicht gewonnen hast.«

Knirschend legte der Dampfer an der Brücke an.

Schweigend folgten die beiden Freunde den Aussteigenden über den Laufsteg auf die schwimmende Landungsstelle und gingen die Treppe zur Brücke hinauf. Der in früheren Jahren enggedrängte Verkehr dieser wohl seltsamsten Brücke der Welt, die Stambul und Galata verbindet, war schon mit den Jahren des Krieges geringer geworden. Aber seit der Besetzung Konstantinopels zeigte er ständig größere Lücken in der auf den breiten Bürgersteigen dahineilenden Menge. Verschwunden waren die wehenden Kopfbedeckungen der Araber, verschwunden, die gewundenen Turbane der Gäste aus Indien. Die Schaffellmützen der Kirgisen und Tataren aus Innerasien fehlten, und nur selten schritt ein Perser in schwarzem Fes unter der Menge. Dagegen schienen die Hüte – Strohhüte, Filzhüte jeder Form und Sorte – einen früher ungeahnten Aufschwung genommen zu haben. Ihre Zahl erreichte fast die der roten Fes. Zwischen ihnen aber, überall sichtbar, die Käppis der französischen Offiziere, die runden weißen Mützen der französischen Marine, die der Alpenjäger. Dazwischen französische Soldaten aus Tunis, englische Abteilungen in ihren Khakiuniformen, hin und wieder ein Italiener.

Haidar Resched und Behaeddin wandten sich zur Linken und gingen langsam dem Brückenausgang nach Galata zu. Vor der Börse, einem niedrigen Gebäude, dessen Straßenfront aus nichts als kleinen Läden bestand, machten sie einen Augenblick halt, um eine Zeitung zu kaufen. Dabei trat ein Mann neben sie, der sie auf türkisch nach der Zeit fragte. Er trug einen Fes, doch seine harte Aussprache verriet, daß er ein Armenier war.

»Die Uhr ist hinter dir«, antwortete Haidar Resched schroff, auf die große öffentliche Uhr zeigend, die am Fahrdamm zur Brücke steht. –

Der Armenier warf ihm einen bösen Blick zu.

»Ich bin fremd hier und wußte nichts von dieser Uhr.«

»Aber du hast Augen. Gebrauche sie«, entgegnete Haidar und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen.

»Verlaß dich darauf, daß ich das tue«, gab der andere herausfordernd zur Antwort.

Behaeddin wandte sich nach ihm um, doch Haidar ging, die Worte des anderen unbeachtet lassend, weiter. Behaeddin sah noch, wie der Armenier die Hand mit einem spöttischen Grinsen zur Stirn führte, dann folgte er seinem Freunde.

Die steile Straße, die »Die hundert Stufen« heißt, emporsteigend, wandten die beiden sich zur Rechten, um in eine enge Seitenstraße einzubiegen, durch die sie das Haus, in dem Halideh sie erwartete, unbemerkt erreichen würden.

Nach einigen zwanzig Schritten hörten sie plötzlich jemanden hinter sich herkommen. Sich umwendend, sahen sie zwei Männer sich nähern, die ihnen Zeichen machten. Sie waren in Zivil und trugen weiche Filzhüte. Die Freunde blieben stehen, schon um durch ein Weitergehen nicht aufzufallen.

Als die Fremden sie erreicht hatten, hielten sie ihnen fast gleichzeitig Browningpistolen in das Gesicht, und der eine von ihnen sagte auf französisch:

»Sie sind verhaftet. Leisten Sie keinen Widerstand, sondern folgen Sie uns.«

Schon wollte Behaeddin vorspringen, doch Haidar Resched, der dies vorausgesehen hatte, hinderte ihn daran, indem er ihn am Arm ergriff und festhielt.

»Mach keine Dummheiten. Sei ruhig«, sagte er auf türkisch und, sich an die Fremden wendend, die immer noch mit der Waffe in der Hand vor ihnen standen, sagte er auf französisch:

»Darf ich Sie bitten, mir Ihren Ausweis zu zeigen?«

»Selbstverständlich, den sollt ihr schon zu sehen bekommen. Dort an der Ecke. Hier ist es ja zu dunkel, und hier genügt dies als Ausweis: Hier!« Damit schüttelte der Sprecher, der größere der beiden Zivilisten, seine Pistole. »Und nun vorwärts, marsch. Wir haben keine Zeit.« –

Widerstandslos folgten die beiden Türken der Aufforderung. An der Ecke der breiteren Straße zu Den hundert Stufen angekommen, fanden sie sich plötzlich dem Mann gegenüber, der sie vor zehn Minuten an der Börse nach der Uhrzeit gefragt hatte.

»Hier, dieser ist's, der jüngere«, sagte er, auf Behaeddin zeigend, und höhnisch setzte er, zu den beiden gewendet, hinzu:

»Wie ihr seht, habe ich meine Augen gebraucht. Danke für den guten Ratschlag.«

Haidar Resched warf ihm einen schnellen Blick zu, der in seiner entschlossenen Feindseligkeit den andern wie mit einem Schlag zum Schweigen brachte.

»Also dies ist der Kerl?« sagte der eine Zivilist, auf Behaeddin zutretend. »Und der andere?«

»Am besten ist's, Ihr nehmt ihn auch mit. Ich kenne ihn zwar nicht, aber er ist ein Freund dieses Rebellen, sicherlich auch ein Verräter.«

»Ach was, wir können doch nicht so aufs Geratewohl verhaften. Einer reicht. Wenn du denkst, daß du für zwei Verhaftete doppelt bezahlt wirst, so irrst du dich, du räudiges Aas. Hier, heidi, hol eine Patrouille, denkst du, ich werde stundenlang mit den Brüdern hier herumstehen?«

»Wie Sie wollen, Herr Hauptmann, wie Sie befehlen. Ich komme sofort mit der Patrouille«, und der Armenier lief schnell die Straße hinauf, um in der großen Perastraße einige Soldaten zu holen.

»Also dich brauchen wir nicht, troll dich«, fuhr der Franzose Haidar Resched an. »Den andern behalten wir vorläufig. Marsch, folge dem Armenier, und wenn du einen falschen Schritt machst, hast du eine Kugel im Leibe. Du galvanisierter Kadaver.«

Damit zwangen sie Behaeddin, die Straße hinaufzugehen, der verlangten Patrouille entgegen. Doch ehe er sich in Bewegung setzen konnte, hatte Haidar Resched sich vor ihn gestellt und umarmte ihn, ihn auf beide Wangen küssend.

»Sorge dich nicht, ich wache über dich«, sagte er auf arabisch. »Ich wache über dich«, wiederholte er, zurückbleibend.

In der Menge, die sich infolge des Vorgangs gebildet hatte, waren mehr Festräger vertreten als Hüte, weshalb die beiden französischen Agenten es vorzogen, dieser Verabschiedung der beiden kein Hindernis in den Weg zu legen.

Behaeddin schritt aus, gefolgt von den Agenten, die ihre Revolver schußbereit in der Hand trugen. Haidar Resched warf einen forschenden Blick um sich, der sich mit dem eines Lastträgers in der Menge kreuzte. Diesem Mann ein unmerkliches Zeichen machend, ging er in die Seitengasse zurück. Nach einigen Schritten holte ihn der Lastträger ein.

»Ich tue, was du willst«, flüsterte der Mann aus dem Volke.

»Ich danke dir, Bruder. Gehe hinter meinem Freunde her und stelle fest, wo man ihn hinbringt. Dann gib Nachricht an Isset oghlu Omer, im Hause an der Ecke der kleinen Brunnenstraße und der Sternengasse. Weißt du, wo das ist?«

»Ich weiß es. Ich werde tun, was du wünschest. Sei ohne Sorge.« –

Damit schritt der Lastträger schnell zurück und verschwand um die Ecke der Gasse.

Haidar Resched setzte seinen Weg fort. In den schlecht gepflasterten engen Straßen, denen er folgte, herrschte schon Halbdunkel. Die meisten Häuser lagen hinter ihren geschlossenen Fensterläden wie unbewohnt. Nur wenige Menschen begegneten ihm. Nach einer Viertelstunde langsamen und vorsichtigen Gehens führte der Weg in die Ruinenreste eines vor langen Jahren schon abgebrannten Viertels. In den Ecken, zwischen den Trümmern der Mauern waren seltsame Behausungen aus alten Kistenbrettern und verrosteten Blechstücken von unkundigen Händen roh zusammengebaut, niedrige Hütten, mehr vernachlässigten zerfallenen Ställen als menschlichen Wohnungen ähnlich. Hier hausten die Ärmsten der Armen, Menschen, deren schmutzige Körper von aufgelesenen Lumpen bedeckt waren, die nichts von Sauberkeit und reinlicher Kleidung wußten, die ihren Lebensunterhalt sich wie die herrenlosen Straßenhunde zusammensuchen mußten. Hier und da leuchtete ein kümmerliches Licht aus einer Türöffnung, schimmerte schwach durch die Ritzen der Bretterwände.

Die Straße, die durch diese Trümmerstätte führte, zeigte tiefe Löcher und Rinnen, die der Regen gezogen hatte. Lose Steine lagen umher, und vertrocknete Gräser brachen unter den Schritten des Fußgängers.

Dafür aber war die Aussicht von einem überwältigenden Zauber. Über die hohen Gebäude des Galataufers hinweg umfaßte der Blick die Reihen der vor Anker liegenden Schiffe, auf denen hier und da schon die elektrischen Lampen brannten. Dunkel und geheimnisvoll lag gerade gegenüber der Garten der Serailspitze, über dem die Kuppel der Hagia Sophia wuchtete. Links erhob sich der Turm des Leander, wie losgelöst von dem Leben der Jetztzeit, in dem Schaum des dort schnell fließenden Bosporus, und hinter ihm ragten die steilen Ufer von Haidar Pascha, gekrönt von den langgestreckten Vierecken der Kasernen. Zwischen beiden öffnete sich das Marmarameer, dunkel glänzend, und ganz in der Ferne, im Dunst verschwimmend, die Schattenumrisse der Prinzeninseln.

Doch Haidar Resched Bey hatte Augen weder für die Wüste, die ihn umgab, noch für die Pracht des sich vor ihm ausbreitenden Bildes. Schnell strebte er seinem Ziele, dem Hause Isset oghlu Omers, zu.

Nachdem er das Trümmerfeld durchquert hatte, bog er links ab, stieg eine enge, steile Gasse empor, die ihn in das winklichste Häuserviertel Peras brachte. Einige Windungen durch die schmalen Straßen, und er hatte die kleine Brunnenstraße erreicht, die, unweit der großen Perastraße gelegen, ziemlich belebt war.

Das Haus Isset oghlu Omers betretend, ging er, ohne jemanden zu fragen, die Treppe hinauf bis zum dritten Stockwerk. In dem Gang, auf den die Treppe mündete, brannte ein elektrisches Licht. Die Birne war alt und von Fliegen beschmutzt, so daß ihr Licht trübrot schimmerte. Der Gang lief quer zur Treppe, und Haidar Resched wendete sich, nach einem Blick auf die Nummer, die sich über der ersten Tür befand, zur Linken. Bei dem Zimmer siebenundfünfzig angekommen, öffnete er, wie Halideh ihm hatte aufgeben lassen, geräuschlos die Tür und trat ein.

Das Innere des Zimmers war dunkel. Durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden jedoch drang etwas Licht, gegen das sich die Umrisse zweier Gestalten abhoben, die in der Mitte des Raumes standen.

»Ich bin es; Haidar Resched«, sagte der Eintretende, im Rahmen der Tür stehenbleibend.

»Sei willkommen«, antwortete die Stimme Halidehs. »Ich werde sofort Licht machen.« –

Sehr bald flammte ein Streichholz auf. Halideh zündete eine kleine schirmlose Küchenlampe an, die sie auf den Fußboden stellte. Haidar schloß die Tür und trat näher.

Das Zimmer hatte außer einem Bett und einem eisernen Waschtisch nur einen niedrigen Diwan, der vor dem Fenster entlang lief. Ein abgetretener Teppich bedeckte den Boden, und ein einfacher Stuhl stand nahe der Tür.

Halideh schraubte die Lampe etwas höher und richtete sich auf. Zwischen ihr und dem Fenster stand Tahssin, unbeweglich und nachdenklich.

Haidar Resched nahm auf dem Diwan Platz. Halideh ließ sich auf den Teppich nieder, während Tahssin seine stehende Haltung beibehielt.

Die kleine Lampe leuchtete grell, ließ aber die Ecken des Zimmers im Dunkeln.

»Und wo sind Behaeddin und Sadik? Kommen sie noch?« fragte Tahssin nach einer Weile.

Haidar Resched hatte sein Tespich hervorgezogen und ließ dessen gelbe Kugeln langsam durch die Finger gleiten. Den Blick auf Halideh gerichtet, erwiderte er:

»Sadik habe ich noch nicht erreichen können. Es ist möglich, daß er noch kommt. Behaeddin ist von den Franzosen gefangengenommen worden.« –

»Behaeddin! Gefangen! Wie, wann, warum? Wo ist er?« rief Halideh, sich aufrichtend und Haidar bestürzt ansehend.

»Was sagst du? Wie ist das möglich?« fragte Tahssin, einen Schritt näher tretend und sich neben Haidar Resched auf den Diwan setzend.

Der Besucher erzählte kurz den Hergang der Verhaftung Behaeddins.

»Sende jetzt ein Wort an Isset oghlu Omer und laß ihm sagen, daß ein Mann kommen wird, um uns zu benachrichtigen, wo Behaeddin gefangen ist.« –

Halideh und Tahssin hatten ihn, ohne ihn zu unterbrechen, seine Worte beendigen lassen. Als er schwieg, stand Halideh auf und verließ das Zimmer.

Als sich die Tür hinter ihr schloß, sagte Tahssin leise:

»Man wird ihn sicherlich an die Engländer ausliefern, die kurzen Prozeß mit ihm machen werden, da er den englischen Offizier im Konak Fuad Alis niedergeschossen hat.« –

»Er muß befreit werden, bevor das möglich ist«, antwortete Haidar Resched ruhig.

Zweifelnd hob Tahssin den Kopf.

»Das wird schwerhalten, fürchte ich«, sagte er.

»Vielleicht. Wir werden sehen«, entgegnete der andere.

Sie schwiegen eine Zeitlang, bis Halideh zurückkam.

»Ich habe mit Isset gesprochen. Er wird die Botschaft in Empfang nehmen«, sagte sie, ihren früheren Platz wieder einnehmend. Eine Zigarette hervorziehend, zündete sie sie über der Lampe an und begann kurze Rauchwolken vor sich herzublasen.

»Haidar glaubt, Behaeddin befreien zu können«, bemerkte Tahssin nach einer Weile.

»Ich werde ihn befreien«, sagte Halideh kurz und bestimmt.

»Du? Wie willst du das tun?« fragte Tahssin erstaunt.

»Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich werde es aber tun. Haidar Resched Bey wird mir helfen.« –

»Darauf kannst du dich verlassen. Doch weshalb hast du mich aufgefordert, euch hier aufzusuchen?«

»Nicht ohne Grund, Bey, nicht ohne Grund«, antwortete Halideh schnell. »Wir brauchen deinen Rat, vielleicht deine Hilfe.«

»Beides ist euer, so weit ich euch von Nutzen sein kann.« –

»Hier gegenüber wohnt die Tänzerin Ines Valera. Sie ist eine Inselgriechin von Chios, doch durch ihren Vater Engländerin. Sie steht in engen Beziehungen zu einem gewissen Psalty, einem Griechen unbestimmter Herkunft. Beide nun waren mit englischen Offizieren zusammen, die, wie wir wissen, die Verbindungsabteilung mit London hier vorstellen, besonders ein gewisser Baring, der diese Abteilung unter sich hat. Der Name dieses Baring nun wurde in Briefen erwähnt, die ich einem Nihad Bey abnahm und die von dem Verräter Salim stammen. Baring wurde darin in Verbindung mit einem Armenier Varbetian gebracht, der in Smyrna ein Haus bewohnt. Dies Haus gehört dem jüdischen Grundbesitzer Saranti, Issa Saranti, hier, mit dem wieder Psalty in Verbindung steht. Es war dies Grund genug für uns, diesen Baring und die andern zu beobachten.

»Wir fanden nun heraus, daß die Engländer in der Wohnung der Valera mit Psalty zusammentrafen, und deshalb überwachen wir die Zimmer der Tänzerin von hier aus. Hinter unsern geschlossenen Fensterläden können wir alle Räume ihrer Wohnung übersehen, und ein guter Feldstecher gestattet es sogar, die Vorgänge dort zu erkennen, wenn, was nicht immer der Fall ist, die dünnen Tüllvorhänge vorgezogen werden.

»Tahssin, dessen Zimmer hier nebenan ist,« und Halideh deutete zu ihrer Rechten, »konnte das Vorderzimmer und ich die beiden andern übersehen. Baring kam einige Male und ließ beim ersten Besuch ein flaches Paket zurück. Am nächsten Tage war Psalty an der Arbeit, auf einem Tisch Zeichnungen anzufertigen.

»Diese Zeichnungen brachten wir in Verbindung mit dem Paket des Baring und verdoppelten unsere Aufmerksamkeit. Es gelang uns aber nicht, festzustellen, was er denn nun eigentlich in Arbeit hatte.

»Vorgestern nachmittag aber sah ich, wie Psalty besondere Vorbereitungen traf. Er hing ein weißes Tuch an die Hinterwand des zweiten Zimmers, befestigte darauf eine große Zeichnung, und zwar mit Bändern, augenscheinlich, um sie nicht zu verletzen, und stellte dann neben dem ersten Fenster einen photographischen Apparat auf, den er dann einige Male spielen ließ, um ihn dann hinter einem Blumenstrauß zu verbergen.

»Später erschien Issa Saranti, der zunächst sich an den Arbeitstisch Psaltys setzte und dort etwas prüfte. Dann trat er mit einigen Blatt Papier in der Hand vor die Zeichnungen am Tuch an der Wand. Psalty war an die Kamera getreten und knipste plötzlich den stehenden Saranti, der sich schnell umwandte. Es entstand ein Streit zwischen den beiden. Saranti suchte den Apparat in die Hand zu bekommen, natürlich in der Absicht, das genommene Bild zu vernichten, doch Psalty hinderte ihn daran, und plötzlich trat die Valera ins Zimmer, nahm die Kamera an sich und verschwand.

»Darauf beruhigten sich die beiden, und nach einiger Zeit verließ Saranti das Haus, ohne aber etwas von den Papieren eingesteckt zu haben, oder sonst etwas mit sich fortzunehmen.«

Halideh hatte diese Darstellung kurz und mit einer Stimme gegeben, die zeigte, daß ihre Gedanken ganz woanders waren. Als sie schwieg, warf sie einen prüfenden Blick auf Haidar Resched und stand auf.

»Und was soll dies alles bedeuten?« fragte Haidar nach einigen Minuten des Nachdenkens.

»Wenn ich dir sage, um welchen Plan es sich handelt, wirst du unsere Unruhe verstehen«, begann jetzt Tahssin, während Halideh sich auf das Bett gesetzt hatte und zuhörte.

»Nun?« fragte Haidar Resched.

»Die Zeichnung, die Psalty an der Wand befestigt hatte, konnten wir durch die Gläser genau erkennen und sogar Teile der Schrift lesen. Es war der Generalstabsplan der griechischen Stellungen bei Afiun Karahissar!«

»Der Generalstabsplan der griechischen Stellungen bei Afiun Karahissar?« wiederholte Haidar Resched erstaunt. »Was soll Psalty oder Saranti damit zu schaffen haben?«

»Das ist es, was wir nicht verstehen können, und deshalb haben wir dich gebeten, uns aufzusuchen, da wir nicht selbst zu dir kommen können.«

»Psalty ist Grieche und Saranti Engländer. Mit uns stehen beide nicht in Verbindung. So ist es doch?«

»Allerdings! – Deshalb verstehen wir auch nicht recht, was die beiden so geheimnisvoll sich mit den griechisch-englischen Stellungsplänen, also ihren eigenen, zu schaffen machen«, sagte Tahssin.

»Es besteht aber eine Verbindung zwischen Saranti und diesem Varbetian in Smyrna. Daß Varbetian mit der griechischen Organisation gegen uns arbeitet, ging klar aus den aufgefangenen Briefen hervor«, warf Halideh von ihrem Sitz auf dem Bett her ein.

»Aber weshalb sollten diese Leute sich denn die fraglichen Pläne in so verstohlener Weise beschaffen. Sicherlich würden sie sie doch direkt vom griechischen Generalstab erhalten können, wenn sie sie brauchten«, entgegnete Tahssin bedächtig.

»Nun, das ist noch nicht so sicher. Soviel ich weiß, sind die griechischen Organisationen in Smyrna mehr für die Engländer, als für ihre eigenen Landsleute eingenommen. Das kann man ja auch verstehen. Daher werden sie versuchen müssen, sich über die hiesigen Stellen diese Plane zu beschaffen!« antwortete Haidar Resched.

»Aber wozu? Wozu mögen sie diese Pläne brauchen?« fragte Tahssin hartnäckig und mit leichter Ungeduld in der Stimme.

»Nun, diese Leute haben von militärischen Dingen doch gar keine Ahnung oder nur wenig. Sie mögen Interesse daran haben, um die Nachrichten, die sie über unsere Bewegungen erhalten, zu kontrollieren oder zu ergänzen oder zu verstehen«, antwortete Haidar ruhig.

»Mag sein. Vielleicht auch nicht«, warf Halideh ein und kam auf ihren Platz am Fußboden zurück. »Mir erscheint es vollständig gleichgültig, zu welchem Zweck diese Zeichnungen angefertigt worden sind, wenn es uns nur gelingt, ihrer habhaft zu werden. Das ist das einzige Interesse, das ich an der Sache habe. Tahssin zerbricht sich den Kopf ganz unnötigerweise, meine ich.«

»Du hast recht, Halideh«, antwortete ihr Begleiter. »Aber um uns der Pläne zu bemächtigen, müssen wir doch suchen festzustellen, für wen sie bestimmt sind, um sie abfangen zu können. Deshalb möchte ich dieses Rätsel lösen.«

»Trotzdem scheint mir Halideh recht zu haben. Wenn wir uns dieser Pläne bemächtigen können, so ist es ziemlich gleichgültig, für wen sie bestimmt sind. Es wäre also sicherlich das wichtigste, zunächst hierfür Mittel und Wege zu finden«, entgegnete Haidar Resched, Tahssin ansehend.

»Wenn wir aber wissen und erfahren könnten, an wen man die Zeichnungen weitergeben will, wäre es leichter, einen Plan zu fassen, wie man sich ihrer bemächtigen kann«, blieb Tahssin bei seiner Meinung.

»Auch dies ist richtig«, pflichtete Haidar Resched bei, »aber sollte der Besuch Issa Sarantis nicht einen Fingerzeig geben, für wen die Pläne bestimmt sind? Wenn ich Halideh richtig verstanden habe, steht er in Verbindung mit einem Armenier in Smyrna, der die Spionage gegen uns leitet oder an ihr beteiligt ist.«

»Varbetian, allerdings. Aber warum dann all diese Heimlichkeiten? Man hätte doch sicher Varbetian auch so Einblick in die Stellungspläne geben können. Wenigstens von seiten der Engländer«, erwiderte Halideh.

»Nun, du sagst doch, daß mit diesen Plänen in Verbindung stehende englische Offiziere bei der Tänzerin verkehren. Sollte die Sache sich dann nicht so verhalten, daß die Engländer Varbetian die Zeichnungen zugänglich machen, hinter dem Rücken der Griechen, und daß dieser Varbetian bei uns für die Griechen und bei den Griechen für die Engländer spioniert.« –

»Bravo! Das ist das Richtige. Du hast es gesagt. So wird es sich verhalten. Vielleicht steht dieser Varbetian gar nicht im Solde der Griechen, sondern in dem der Engländer. Das würde auch den Hinweis in einem der Briefe erklären, daß ein Paket kostbarer Steine an diesen Baring zu überbringen sei. Vielleicht, daß man es dort für gesicherter hält, als in der Nähe der Griechen.« Halideh hatte schnell und lebhaft gesprochen. Die Vermutungen Haidar Rescheds schien die Ergänzung gewisser Gedankengänge gewesen zu sein, die sie bisher nicht zu vereinigen gewußt hatte. –

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür, die sich auf den zustimmenden Ruf Halidehs öffnete und einen Angestellten des Hotels eintreten ließ, der ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier reichte. Sie überflog es rasch, um es dann nochmals aufmerksam durchzulesen. Als sie fertig war, gab sie es Haidar Resched und sagte:

»Ich werde hinuntergehen und selbst mit dem Mann sprechen.«

Haidar hob abwehrend die Hand, ohne im Lesen einzuhalten. Nachdem er ausgelesen hatte, gab er das Blatt Tahssin. Sich zu Halideh wendend, sagte er:

»Die Sache ist erledigt. Bitte, bemühe dich nicht«, und zu dem noch immer wartenden Hoteldiener gewendet, fügte er an: »Laß dem Manne einen Kaffee geben und sage ihm, daß sein Freund ihm danken läßt und gern weitere Nachrichten erwartet.«

Der Diener legte die Hand an die Stirn und ging. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, sprang Halideh auf.

»Es ist, wie ich fürchtete. Die Franzosen haben ihn den Engländern ausgeliefert. Wenn wir Behaeddin retten wollen, müssen wir schnell handeln.«

»Nur um etwas schneller als die Engländer. Vor morgen wird er nicht abgeurteilt werden. Das Urteil werde ich sofort erfahren«, sagte Haidar Resched bedächtig.

»Und dann wird er erschossen sein, ehe wir eingreifen können. Ich bitte, ich beschwöre dich, Bey, laß uns keine Zeit verlieren, sondern befreien wir ihn noch in dieser Nacht. Wenn wir schnell handeln, können wir das durchsetzen.«

Haidar Resched wiegte langsam den Kopf, Halideh, die vor ihm stehengeblieben war, ruhig ansehend:

»Mein Kind!« sagte er, »es handelt sich nicht um Behaeddin. Es handelt sich um Anatolien.«

»Aber Behaeddin ist notwendig für Anatolien. Wer kann ihn ersetzen?«

»Es gibt keinen Menschen, dessen Verlust nicht schnell, sehr schnell, viel schneller, als er es glaubt, ersetzt werden kann. Doch sorge dich nicht. Wir werden ihn nicht verlieren«, entgegnete Haidar, ohne eine Bewegung zu machen.

»Wenn sie ihn morgen verurteilen, werden sie ihn morgen abend erschießen. Und daß sie ihn nicht verurteilen werden, das kannst du doch wohl nicht glauben.«

»Nein, das glaube ich nicht. Aber sie werden ihn nicht erschießen. Ein Geheimbefehl des Oberkommissars ordnet an, daß hier nur die Voruntersuchung geführt wird, daß die Verurteilung aber durch ein griechisches Kriegsgericht in Eski Schehir in allen Fällen erfolgen soll, in denen es sich um Angehörige der kemalistischen Truppen handelt. Man will das Odium dieser Handlungen von sich ab- und den Griechen zuschieben.«

»Also würde man Behaeddin nach Eski Schehir transportieren? Weißt du das bestimmt?« fragte Halideh voller Erregung.

»Ich weiß das bestimmt.«

»Dann ist er gerettet. Ich selbst werde es tun.«

»Jawohl. In Anatolien werden wir ihn sicher retten können. Hier ist das nicht so leicht«, bestätigte Tahssin die Worte Halidehs.

»Und wie wirst du erfahren, was man über ihn beschließt?« fragte Halideh, ohne die Worte Tahssins aufzunehmen.

»Ich werde es erfahren und sofort erfahren, wie, ist nebensächlich. Wenn wir hier auch unter der Herrschaft dieser Fremden leben, noch gibt es Türken. Sorge dich nicht. Der Tag wird kommen ...«, antwortete Haidar bestimmt.

»Der Tag wird kommen«, wiederholten die anderen leise, wie eine heilige Formel.

»Doch wir müssen arbeiten. Sehen wir zu, wie wir die Pläne in unsere Hand bringen können. Das ist das Wichtigste jetzt«, fuhr Haidar Resched ruhig fort.

Die anderen schwiegen eine Weile. Endlich sagte Tahssin in seiner abwägenden Weise:

»Die Pläne müssen ihre Bestimmung, welche das auch immer sein mag, erreichen. Sie dürfen nicht verschwinden. Sonst würde man aufmerksam werden und die Anlagen abändern, die Stellungen verlegen und so weiter. Wir müssen sehen, die Pläne abzeichnen zu können, ohne daß es jemand bemerkt.«

»Das ist eine andere Schwierigkeit, an die ich nicht gedacht habe«, antwortete Haidar Resched. »Allerdings. Du hast recht. Ich verstehe das. Sind die Pläne sehr groß?«

»Ich habe sechs Blatt gezählt und die Übersichtskarte, sieben im ganzen.«

»Und welche Größe?« fragte Haidar.

»Je etwa einen Meter bei einem Meter zwanzig.« Halideh gab die Antwort wie abwesend. Sie rauchte langsam und in tiefen Zügen.

»Also handelt es sich doch um ein ganzes Paket und um eine Arbeit, die längere Zeit in Anspruch nimmt«, sagte Haidar, sich an Tahssin wendend.

»Allerdings. Doch wir können sie auch photographieren und später vergrößern. Das geht schneller. Weshalb das dieser Grieche nicht getan hat, verstehe ich nicht. Er hat mühselig Pausen davon anfertigen lassen.«

»Ich weiß das. Soviel ich erkennen konnte, waren die Originale in Englisch. Psalty ließ die ganzen Angaben in türkischer Schrift eintragen. Ich habe das einige Male genau beobachten können«, sagte Halideh.

»Was! Wie? In türkischer Schrift! Das ist doch ganz unverständlich. Griechisch wäre noch erklärlich«, bemerkte Haidar Resched erstaunt. »Du hast das bisher nicht erwähnt. Es wirft das meine Vermutungen ganz über den Haufen.«

»Doch nicht, Bey! Im Gegenteil, mir scheint es sie eher zu stützen. Wer sagt uns denn, daß dieser Varbetian, wie die meisten Armenier, nicht auch Türkisch lesen kann? Daß man sich die Mühe nimmt, sie ihm mit türkischen Erklärungen zu liefern, spricht dafür, daß er ihren Besitz den Griechen gegenüber nicht erwähnen soll. Deshalb wird man sie ihm abgezeichnet haben, da er wohl kaum in der Lage ist, Photographien ohne Aufsehen zu erregen oder ohne Schwierigkeiten vergrößern zu können«, sagte Tahssin bedächtig.

Haidar schwieg einen Augenblick. »Du magst recht haben«, antwortete er dann langsam.

Halideh sah plötzlich auf und sagte lebhaft:

»Nein, Bey, das ist es sicher nicht. An uns wird Varbetian diese Pläne sicher nicht geben. Das weiß ich bestimmt.« –

Haidar wendete sich ihr lächelnd zu.

»Woher weißt du, daß diese Gedanken mir durch den Kopf gingen?«

»Ich fühle es; doch aus den Briefen, die ich Nihad abnahm, geht klar hervor, daß Varbetian uns haßt. Er wird uns die Pläne nicht geben.«

»Nun! Und Geld! Wenn er sie uns verkaufen soll, würden wir ihn nicht gut bezahlen?« –

»Die Engländer zahlen sicher besser. Und ihm könnte es später doch so oder so teuer zu stehen kommen.«

»Gut. Auf jeden Fall müssen wir uns in den vorübergehenden Besitz der Pläne setzen und sie photographieren«, sagte Tahssin. »Irgend jemand wird sie nach Smyrna bringen. Vielleicht Psalty selbst. Vielleicht die Tänzerin. Da müssen wir eingreifen, sollte ich denken.«

»Zunächst müßten wir feststellen, wer die Pläne erhält. Ich nehme eher an, daß sie Saranti zur Beförderung übergeben werden«, warf Halideh ein.

»Warum? Warum soll nicht Psalty oder die Valera die Pläne nach Smyrna bringen, wenn man sie nach Smyrna zu bringen beabsichtigt?« fragte Haidar Resched ruhig, die Kugeln seines Tespich neben sich auf den Teppich des Diwans legend.

»Daß sie nach Smyrna gebracht werden sollen und zu diesem Varbetian, erscheint mir nach allem, was wir besprochen haben, die einzige Möglichkeit. Die Engländer wollen ihren Spion dort mit verläßlichen Unterlagen ausstatten, um es ihm zu gestatten, in genauer Kenntnis der Verhältnisse seine Berichte abzufassen. Daß sie dies nicht selbst tun, daß sie dies möglichst zu verdecken suchen, ist selbstverständlich. Sie bedienen sich der Valera und des Griechen Psalty, die eng zusammengehören, obgleich die Valera, oder vielleicht gerade weil sie die Geliebte des Baring ist, oder wenigstens sich als solche von ihm bezahlen läßt. Ich weiß das letztere aus dem Klatsch im Pavilion. Varbetian nun steht in engen Beziehungen zu Saranti. Saranti taucht bei der Valera auf, unzweifelhaft in Verbindung mit den Plänen. Psalty wird nicht nach Smyrna gehen, wenigstens nicht mit den Plänen, denn er ist ein vorsichtiger Mann, und sollten die Griechen sie bei ihm finden, mit türkischen Erklärungen, wäre sein Schicksal, und in einer für ihn unangenehmen Weise, entschieden. Die Valera wird hierbleiben, schon um die Gelder Barings sich nicht entgehen zu lassen. Auch das ist klar. Bleibt also nur noch Saranti, der in irgendeiner Weise die Beförderung übernehmen wird. So stellt sich der Sachverhalt mir klar dar, und so stimmt es auch mit dem, was wir besprochen haben, überein.« Halideh hatte diese Darlegungen schnell und bestimmt gegeben.

»Du meinst also, man müsse Saranti greifen! Wie soll man aber feststellen, ob er die Pläne im Augenblick bei sich hat?« sagte Tahssin.

»Das ist es eben, was wir feststellen müssen. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen und beobachten, ob er jemanden nach Smyrna sendet,« sagte Halideh, die neben ihr stehende Lampe höherschraubend.

»Das wird schwerhalten. Wir sind zu sehr in unserer Bewegungsfreiheit beschränkt. Auch muß Behaeddin befreit werden. Wir müssen einen anderen Weg suchen«, antwortete Tahssin unruhig. –

»Wo sind die Pläne jetzt? Wißt Ihr das?« fragte Haidar Resched, Halideh ansehend. –

»Ja, das wissen wir. Sie liegen in einem Fache des großen Schreibtisches im zweiten Zimmer der Valera, oben links; sowohl die englischen Originale, wie die mit türkischen Aufzeichnungen.«

»Könnt Ihr feststellen, wie lange sie noch dort liegen werden? Wenn ich recht verstanden habe, ist die Abzeichnung beendet«, fragte Haidar weiter.

Halideh warf Tahssin einen Blick zu, wie um seine Meinung zu erkennen.

»Ja und nein«, antwortete sie dann. »Daß die türkischen Pläne fertig sind, habe ich feststellen können, da alle sechs englischen Pläne, die voneinander durch die verschiedenen Darstellungen unterscheidbar waren, einer nach dem anderen bearbeitet worden sind. Nur der Gesamtplan, der an der Wand hing und mit dem zusammen Saranti von Psalty photographiert wurde, ist noch nicht abgezeichnet. Man kann sie daher jeden Augenblick fortnehmen.«

»Nicht ehe das letzte Blatt, das am schwierigsten ist, abgezeichnet und mit türkischen Anmerkungen versehen ist«, fiel Tahssin ein. »Dazu wird man noch wenigstens einen Tag brauchen, wenn nicht zwei. Ich glaube nicht, daß man die anderen Pläne vor morgen abend aus der Wohnung der Valera nehmen wird.«

»Morgen abend sicherlich nicht, denn ich weiß, daß Saranti mit seiner Frau für morgen abend einen Tisch im Kasino zu Bejkos belegt hat«, sagte Haidar Resched.

»Für wieviel Gäste?« fragte Halideh schnell.

»Darum habe ich mich nicht gekümmert. Ich weiß es nur aus den Mitteilungen, die mir regelmäßig über die Bewegungen unserer Feinde hier zugehen.«

»Sollte man da nicht die Pläne an ihn aushändigen wollen? In die Wohnung der Valera wird er hierfür nicht gern kommen, und zu Hause bei sich wird ihm das auch zu unsicher sein«, sagte Halideh mit einer zweifelnden Handbewegung.

»Allerdings. Du magst recht haben. Doch wie dem auch sei, auf jeden Fall wird man ihm nur die Abzeichnungen, nicht die englischen Originalkarten übergeben, die sicherlich bis übermorgen wenigstens noch bei der Valera liegenbleiben. Wir würden also morgen nacht – für diese ist es zu spät, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen – entweder beide Zeichnungen, auf jeden Fall aber noch die englischen in der Wohnung der Tänzerin finden können. Nur dort können wir sie unbemerkt photographieren, vorausgesetzt, es gelingt, einige Stunden ungestört arbeiten zu können. Wann hat die Valera im Pavilion zu tun, und wie lange?«

»Von neun bis zwölf Uhr regelmäßig. Oft bleibt sie länger«, sagte Halideh.

»Von zehn bis zwölf Uhr würde genügen. Doch wie steht es mit Psalty? Hat er Zutritt zu der Wohnung der Tänzerin auch in deren Abwesenheit?«

»Er verkehrt dort, wann und wie er will. Aller Wahrscheinlichkeit nach besitzt er die Wohnungsschlüssel.«

»Gut. In diesem Falle muß er also für die fraglichen Stunden ebenfalls unschädlich gemacht werden«, sagte Haidar Resched, aufstehend.

»Wieso? Was beabsichtigst du zu tun? Willst du selbst ...? Wir hatten nur um deinen Rat gebeten! Du darfst dich keiner Gefahr aussetzen.«

Halideh und Tahssin hatten sich ebenfalls schnell erhoben, und ihrer beiden Worte überstürzten sich.

Haidar Resched hob abwehrend die Hand. Mit einem leichten Lächeln sagte er:

»Nein. Ich selbst werde nichts tun. Doch ich werde tun lassen, was Ihr nicht ausführen könnt. Bleibt hier und wartet auf Nachricht von mir, die morgen nachmittag kommen wird.« Damit wandte er sich zum Gehen. Doch ehe er noch die Tür erreicht hatte, verlöschte plötzlich das Licht der Lampe. Halideh hatte sie ausgeblasen. Erstaunt wendete sich Haidar Resched.

»Komm. Sieh selbst! Soeben sind sie gekommen«, hörte er die Stimme des Mädchens. Durch die Spalte der geschlossenen Fensterjalousien drang Licht aus der gegenüberliegenden Wohnung. Haidar wurde gewahr, wie die ausgelöschte Lampe aufgenommen und zur Seite gestellt wurde.

»Komm«, vernahm er im Dunkeln die Stimme Halideh's, die seine Hand ergriffen hatte und ihn an eines der Fenster führte. Er fühlte, wie sie ihm ein Fernglas gab und wartete.

In den beiden, nur um ein weniges niedriger liegenden Zimmern der Wohnung Ines Valeras brannte das elektrische Licht. Im vorderen Zimmer stand ihr breites Bett. Ein bis zum Fußboden reichender Spiegel an der gleichen Wand gestattete, den ganzen Raum sowie einen Teil des anstoßenden Wohnzimmers durch die geöffnete Tür zu überblicken. Weiße Vorhänge vor den Fenstern machten das Innere dem bloßen Auge nur undeutlich erkennbar, aber das Glas vergrößerte die Öffnungen der Maschen und gestattete, jede Einzelheit zu unterscheiden.

Die Valera stand im Straßenkleide neben ihrem Bett, auf das sie Hut und Handschuhe geworfen hatte. Psalty stand hinter ihr, die Hände an ihre Hüften gelegt und lächelte. Die Valera bog den Kopf zurück, und beide küßten sich fest und lange. Dann machte die Tänzerin sich los und schob ihn, lachende Worte sprechend, in das Wohnzimmer. Während sie wieder in das Schlafzimmer zurücktrat, schritt Psalty an einen großen Schreibtisch, der vor dem Fenster stand, und öffnete das linke obere Fach, dem er ein Bündel zusammengefalteter Papiere entnahm.

»Die Pläne«, flüsterte Halideh Haidar Resched zu, der, das Glas vor den Augen, den Vorgängen gegenüber gespannt folgte. Tahssin stand am anderen Fenster, ebenfalls mit einem Fernglas bewaffnet.

Die Papiere eins nach dem andern entfaltend, legte Psalty sie vor sich auf die Schreibtischplatte, immer zu zweit.

»Je ein Original und eine Abzeichnung«, bemerkte Halideh, die, trotzdem sie die Bewegungen des Griechen nur undeutlich unterscheiden konnte, doch von ihren früheren Beobachtungen her erriet, worum es sich handeln mußte.

Sorgsam verglich Psalty ein Blatt mit dem andern und legte es dann zur Seite. Haidar zählte sechs Blätter. Als er fertig war, machte er zwei Bündel. Zu einem derselben fügte er ein siebentes Blatt und legte das Ganze wieder in das Fach zurück. Das andere tat er in einen Umschlag, den er verschloß und ebenfalls wieder in den Schreibtisch zurücklegte. Nachdem er das Fach wieder zurückgeschoben hatte, öffnete er ein anderes und entnahm ihm eine Anzahl kleiner Papierblätter, die er vor sich auf den Tisch breitete und ordnete. Sie paßten aneinander und ergaben einen Streifen von vier Blatt, der in der Mitte und zu seiner rechten Hand zwei Blatt tief lag, im ganzen also ebenfalls wieder sechs Blatt umfaßte. Jedes Blatt umwendend, versah Psalty es im Rücken mit einer Ziffer. Ein siebentes Blatt betrachtete er länger und legte es dann lachend zur Seite, während er ein achtes aufgriff, das er den übrigen zugesellte.

Haidar sah wohl, daß es sich um Photographien handelte, konnte aber trotz des Glases nicht erkennen, was sie vorstellen mochten. Zum Schluß wickelte Psalty die zusammen liegenden Lichtbilder in Papier und umschnürte das Ganze mit einem Faden. Die achte Photographie steckte er sorgfältig in das Innere seiner Brieftasche und schloß die anderen wieder in ihr Fach ein. Sich in dem Stuhl, in dem er saß, zurücklehnend, zündete er sich eine Zigarette an und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

Im Nebenzimmer hatte sich inzwischen die Valera umgekleidet. Sie trug jetzt ein leichtausgeschnittenes, rotes Seidenkleid und trat durch die offene Tür in das Wohnzimmer, wo sie sich auf einen der Stühle setzte, doch so, daß ihre Gestalt nur in dem Spiegel des Schlafzimmers sichtbar blieb. Beide unterhielten sich eine Zeitlang, wie an den Bewegungen ihrer Lippen und an ihrem Mienenspiel erkennbar wurde. Psalty zeigte mehrmals auf das Fach, in dem er die Lichtbilder verschlossen hatte. Das andere Fach nochmals öffnend, nahm der Grieche die beiden Bündel wieder heraus und wies der Tänzerin erst das eine und dann das andere, um sie darauf beide wieder zurückzulegen und das Fach zu schließen.

Endlich erhoben sich beide. Die Valera holte ihren Hut und kam fertig zum Ausgehen wieder zurück. Das Licht wurde ausgedreht, und das lautlose Schauspiel fand ein Ende.

»Wie günstig, daß ich dies gesehen habe. Ich weiß jetzt besser Bescheid«, sagte Haidar Resched, noch immer leise, als fürchte er, belauscht zu werden, und gab das Glas der neben ihm stehenden Halideh zurück.

Tahssin hatte die Lampe wieder angezündet. In ihrem Licht schienen die Gesichter der drei Personen abgespannt, wie ermüdet, als hätten sie eine lange, angreifende Arbeit hinter sich.

»Was soll das aber alles bedeuten?« fragte Tahssin nach einiger Zeit, während der sie still und nachdenklich, jeder an seinem Platze, stehengeblieben waren.

Haidar Resched blickte auf und ging auf seinen alten Sitz auf dem Diwan wieder zu, wo er sich hinsetzte.

»Was Ihr mir erzählt habt, habe ich jetzt mit eigenen Augen gesehen. Das ist mir sehr wertvoll und kommt mir zustatten«, sagte er, aufblickend.

Halideh und Tahssin sahen einander an.

»Was denkst du davon?« fragte Halideh nach einiger Zeit eindringlich.

»Das Blatt, das er gesondert einsteckte, ist das mit dem Bild Sarantis und dem Gesamtplan, nehme ich an. Aber wann und wo hat er die anderen Lichtbilder angefertigt? Ich habe nichts davon bemerkt!«

»Ich auch nicht. Das beunruhigt mich. Doch es müssen Lichtbilder der Pläne gewesen sein. Was sonst?« antwortete Halideh. »Er hat sie aber alle eingesteckt! Was glaubst du, daß dies bedeuten soll?«

Beide schienen die Anwesenheit Haidar Rescheds vergessen zu haben.

»Ich weiß es nicht. Wenn er die Pläne photographiert hat, weshalb soll er sie dann noch abgezeichnet haben?« Halideh sprach unruhig, mit einem gewissen Suchen in der Stimme.

»Auf jeden Fall hat er aber die Originale und die Nachzeichnungen zurückgelassen. Nur die Lichtbilder hat er eingesteckt«, sagte Tahssin, wie beruhigend.

»Das ist es doch, was mich beunruhigt. Warum das? Für wen sind die Lichtbilder? Als teures Andenken wird er sie nicht bei sich tragen. Es könnte ihm den Kopf kosten. Dazu ist er zu klug.«

»Ist es nicht gleichgültig, für wen er sie bei sich trägt?« ließ sich plötzlich Haidar Resched vernehmen. »Für uns kommt es darauf an, die Pläne oder ihre Bilder in unseren Besitz zu bringen, ohne daß man es bemerkt. Da er sie in der Schublade des Schreibtisches zurückgelassen hat, wird er sie auch morgen noch dort behalten, weil der Gesamtplan noch nicht fertig ist. Darum allein handelt es sich. Das andere ist gleichgültig.«

»Nein, Bey. Das andere verstehe ich nicht. Und nichts ist, nichts darf mir gleichgültig sein, was ich nicht verstehe. Ich werde heute abend Blumen verkaufen gehen!«

»Und wenn man dich festnimmt? Wenn man dich erkennt? Tue das nicht«, kam es beschwörend von Tahssin.

»Man wird mich nicht erkennen. Und man wird mich nicht festnehmen. Doch ich muß erfahren, ob Psalty die Lichtbilder bei sich behält, oder wem er sie geben wird. Wir arbeiten bisher doch nur auf Grund von Vermutungen.«

»Nein, mein Kind. Wir arbeiten auf Grund der dort drüben liegenden Pläne. Die wollen, die müssen wir erlangen. Wem Psalty sonst noch Abzüge davon gibt, ist uns gleichgültig. Wert haben sie nur für uns, für Anatolien. Wer weiß, ob dieser Grieche sie nicht ebenfalls an uns verkaufen will und auf beiden Seiten verdienen? Wenn wir die Pläne erlangen können, würden wir uns die Ausgaben für seine Mithilfe ersparen, und sparsam müssen wir sein, sehr sparsam.«

»Allerdings. Das ist eine Möglichkeit, an die ich nicht gedacht habe«, antwortete Halideh lebhaft. »In der Tat, einem Griechen ist alles zuzutrauen. Wer soll ihm Geld für die Pläne geben, wenn nicht wir, es sei denn ...«, und sie hielt plötzlich inne.

»Nun?« fragte Haidar Resched nach einer Weile. »Es sei denn ...«

»Es sei denn, er wolle sie den Franzosen verkaufen, die sie uns wieder in Teilen zugänglich machen würden, nur in Teilen, damit wir ja keinen vollen, durchgreifenden, entscheidenden Erfolg erzielen! Alle sind sie Verräter, Feiglinge, Hunde. Alle, alle.« Und Halideh stampfte mit dem Fuß auf, durch ihre Sorge ganz aus ihrer gewöhnlichen Ruhe gebracht.

»Auch das wäre gleichgültig, solange als wir die Pläne selbst besitzen. Beruhige dich, Kind. Ich werde euch morgen mitteilen, was zu tun ist. Bleibt beide hier. Ich liefere euch Lichtbilder der Pläne, wenn sie sich morgen nacht noch in der Wohnung der Tänzerin befinden. Darauf achtet. Sollten sie fortgenommen werden, so ruft sogleich Stambul 385 an und sagt, daß Senije sich soeben auf den Weg gemacht habe, mich aufzusuchen. Ich werde dann sofort hierherkommen. Verstanden!« Damit erhob sich Haidar Resched und schickte sich an, zu gehen.

»Gut. Du magst recht haben. Du hast recht. Immerhin, wenn ich Psalty verfolgen könnte! Jetzt, wo er die Lichtbilder bei sich hat, ist jede seiner Bewegungen von Interesse! Und wenn die Sache in der Wohnung der Valera fehlschlägt, könnte man immer noch auf ihn zurückgreifen«, sagte Halideh mit erneut wachsender Erregung.

»Das ist durchaus richtig. Warum glaubst du aber, dies im Pavilion feststellen zu können? Weißt du, daß er dort hinkommt?«

»Nein. Aber jetzt ißt er mit der Valera zusammen im Restaurant › d'Or‹. Dort verkauft ein anderes, mir ergebenes Mädchen Blumen. Sie kommt später auch in den Pavilion und wird mir Nachricht geben können, wohin Psalty sich gewandt hat. Dann kann ich auch aus der Valera noch etwas erfahren, obwohl sie mir als Russin, die ich dort vorstelle, nicht wohl will. Alle diese Griechen hassen die Russen. Auch habe ich dort im Pavilion andere Beziehungen, zu den Schuhputzern und zu verschiedenen. Ich werde sicherlich auf Psaltys Spur kommen. Nur zur Beruhigung, als Rückversicherung, sollte dein Versuch fehlschlagen, Haidar Resched Bey. Bedenke, wie wichtig die Pläne für uns, für Anatolien sind!« Halideh hatte eindringlich, wenn auch mit leiser Stimme, gesprochen.

Haidar Resched hob abwehrend die Hand.

»Es wird geschehen, was für uns gut ist. Wenn Allah will, werden wir die uneinnehmbaren Stellungen auch ohne Pläne nehmen. Wenn nicht, nützen uns alle Pläne nichts. Nur der Wille, nur unser Wille, mein Kind, zählt. Tapfer ergeben dem Willen, der hinter uns steht. Geduldig verbunden dem Willen Allahs, der nicht nur barmherzig, sondern der groß und gewaltig ist. Ruhen wir in ihm, und zweifeln wir nicht, daß er bereit ist, unsern Willen zu stählen, wenn wir nur selbst bereit sind, ihn im Feuer des Unglücks zur höchsten Härte glühen zu lassen. Möge sein Name gelobt sein und sein Segen uns nicht verlassen.«

Die Gestalt Haidars schien plötzlich gewachsen. Sein Schatten nahm das ganze Zimmer ein. Und wie Kinder beugten sich die beiden anderen seinem erhobenen Arm. Er schwieg. Es war ganz still. Für einen Augenblick schien sogar der von der Straße undeutlich heraufdringende Lärm gestorben.

Tahssin und Halideh legten wie unter einem Befehl beide Hände an die Stirn und beugten den Kopf.

Haidar Resched ließ den Arm sinken.

Mit seiner gewöhnlichen Stimme sagte er:

»Geh und verkaufe deine Blumen. Doch sei vorsichtig. Kehre hierher zurück, solange die Straßen noch Leben zeigen. Suche zu erfahren, wo Psalty ist, aber fliehe von aller und jeder Gefahr.«

Ohne ein Wort zu erwidern, blickten die beiden ihm nach, als er langsam zur Tür schritt und auf den Gang hinaustrat.

Von der Straße dröhnte von neuem lautes Kreischen der Straßenbahnen, das Schreien der fliegenden Händler und der ganze Lärm des Verkehrs dieser lebhaften Abendstunden.

Schweigend machte auch Halideh sich zum Ausbruch fertig. Niemand würde in dem ärmlich gekleideten Mädchen mit dem Korb unter einem Tuch einen Offizier der kemalistischen Armee vermutet haben, die in Not und Hunger und Entbehrungen aller Art England im Herzen Kleinasiens hartnäckig die Spitze bot, geführt und begeistert von einem einzigen Mann, dessen Wille bis zum letzten, jüngsten, einfachsten Soldaten ausstrahlte.

»Denke an Behaeddin!« flüsterte Tahssin, als Halideh sich anschickte, das Zimmer zu verlassen.

Sie gab keine Antwort. Lautlos schloß sie die Tür hinter sich.

Tahssin löschte das Licht und nahm seinen Beobachtungsplatz an einem der Fenster wieder ein.


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