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11. Der Kurdenscheich

Behaeddin war nach dem Innern aufgebrochen. Mit dem grausigen Ende der Tänzerin und ihres Begleiters schien das Geheimnis ihres Auftrages endgültig und für immer versiegelt. Ob sie die Pläne bei sich getragen hatte, oder ob tatsächlich bestimmte Vorschläge seitens der Engländer ihr zur Übermittlung anvertraut worden waren, ließ sich nicht mehr feststellen.

Wenn es sich aber um die Pläne gehandelt haben sollte, dann waren sie auch im Besitze Halidehs, und Halideh war auf dem Wege zum Pascha. In ihren Händen waren sie sicher. Das wichtigste schien daher durch den Tod der beiden nicht berührt worden zu sein, und Behaeddin ging seiner Aufgabe, die Sendboten des Großwesirs unschädlich zu machen, unbehindert durch das Geschehene nach.

In Amasia angekommen, verteilte Behaeddin seine Leute. Die Hälfte behielt er bei sich, während er die andere auf dem Wege nach Silleh vorschob und in kleinen Gruppen auf einige Dörfer verteilte.

Amasia, das im Schnittpunkte zweier schmaler Felstäler liegt, wird im Norden von den zerfallenen Resten einer ausgedehnten Burganlage überragt, in der Mithridates, der große König des Politischen Reiches residiert hat. In der wohl vierhundert Meter abstürzenden steilen Felswand des Burgberges sind große Grabanlagen ausgehauen worden. Andere finden sich in den Felsen des Tales verstreut, das, vom Ieschil Irmak durchströmt, dichte Gartenanlagen und Baumbestände zeigt und überall von den hohen, kahlen Abstürzen der Kalkberge eingefaßt wird.

Von hier hat Lucullus die Kirsche geholt und in Europa heimisch gemacht, und hier in Amasia, der uralten Stadt der Könige verschollener Völker, ist Strabo geboren. Heute ist die Stadt vergessen, trotzdem sie sicherlich die schönste aller anatolischen Städte genannt werden darf. Die Burg des großen Mithridates ist ein Trümmerhaufen, und in Trümmern liegt der größte Teil der Stadt zu ihren Füßen.

Am Schnittpunkte des von Norden kommenden Tales mit dem Tale des hier westöstlich verlaufenden Ieschil Irmak befindet sich an der östlichen Talwand eine in den Felsen gehauene Kammer. Ihr Eingang liegt einige Meter über dem Talboden. Sie besteht aus zwei übereinanderliegenden Räumen. Beide haben schmale Fensteröffnungen, von denen die untere genau auf den großen Turm der Burgruine zielt, die etwa drei Kilometer in gerader Linie entfernt ist.

Diese Felskammern gestatten, den Zugang des nördlichen Tales zu beobachten, was von der Burg selbst aus nicht möglich ist.

Behaeddin hatte seine Wohnung hoch auf der südlichen Talseite in Amasia, der Burg gegenüber, genommen. Unmittelbar hinter seinem Hause erhoben sich steile Felswände, während er nach Norden zu über die Dächer der Stadt den Blick frei bis zum Burgberg und den Resten der Burgruine schweifen lassen konnte.

Nach den Nachrichten, die ihm aus Silleh geworden waren, mußten dort schon zwei der Sendboten des Großwesirs, Saïni und Fethy Bey, eingetroffen sein. Die Scheichs der Gegend von Silleh statteten der Stadt immer häufigere Besuche ab. Sie sammelten ihre Leute in einzelnen der verstreut liegenden Anwesen der Umgebung. Auch wurde Behaeddin hinterbracht, daß zahlreiche neue Gewehre sich in den Händen der Leute von Silleh befänden. Doch noch waren die beiden anderen Abgesandten des Großwesirs, Edib und Veli Bey nicht eingetroffen.

Vieles sprach dafür, daß sie den Weg über Amasia nehmen würden. Auf jeden Fall beschloß Behaeddin, mit seinem Eingreifen zu warten, bis auch die beiden anderen Boten eingetroffen seien.

Da das von Norden kommende Tal der einzige Zugang nach Amasia war, ließ er es der Vorsicht halber überwachen. Eine am Talausgang aufgestellte Wache hatte Auftrag, alle verdächtig erscheinenden Wagen und Reisenden anzuhalten, ihre Papiere zu überprüfen und sie ihren Weg fortsetzen zu lassen. Sollte sich der Verdacht ergeben, daß die Erwarteten auf diesem Wege nach Silleh zu gelangen suchten, so hatte Behaeddin die aus vorgeschichtlichen Zeiten stammende Felskammer zu einer kleinen heliographischen Station ausgestaltet, die ihre Morsezeichen einem in dem Turm der Burgruine unter einer Wache aufgestellten Spiegel zuwarf, wo er selbst vom Fenster seiner Wohnung sie beobachten und abnehmen konnte. Dies gab ihm genügend Zeit, jeden Ankommenden an der einzigen Brücke zu erwarten, die nach der Stadt führte, und die in keiner Weise zu umgehen war; denn der Fluß ist auf eine lange Strecke hier zu tief und zu reißend zum Durchfurten.

Andere Beobachtungsposten hatte Behaeddin in Turchal und in Tokat im Osten und im Tale des Tschekerek Irmak im Südwesten von Silleh aufgestellt.

Am Felshang des Burgberges waren die Schatten schon zur halben Höhe emporgestiegen, als Behaeddin ein Besucher gemeldet wurde. Am offenen Fenster des niedrigen Holzzimmers sitzend, von dem er mühelos den Turm der jenseits des Tales liegenden Burgruine im Auge halten konnte, hatte sich Behaeddin mit dem Reinigen seines Mehrladers beschäftigt. Die einzelnen Stücke der zerlegten Waffe bildeten kleine schwarze Flecke auf dem weißen Leinwandbezug des einfachen Diwans, auf dem er saß.

Ohne seine Stellung zu ändern, ließ er den Angemeldeten eintreten. Ein bärtiger Mann in der Tracht der kurdischen Gebirgsbauern trat über die Schwelle. Die lose blaue, mit schwarzen Streifen benähte Weste stand über dem weißen Hemd offen. Ein breiter roter Tuchstreifen diente ihm als Gürtel und schloß die weiten faltigen Beinkleider nach oben ab, während weiche, schwarze Schaftstiefel seine Fußbekleidung bildeten. Ein weißes loses, um den Fes geschlungenes Tuch fiel ihm mit einem Zipfel über die linke Schulter und deckte nach Art einer arabischen Kefije, doch kürzer, den Nacken gegen die Sonne.

»Tritt näher«, sagte Behaeddin, nach den ersten Worten der Begrüßung. »Hier setze dich neben mich.«

Der Kurde kam langsam durch das Zimmer und nahm neben Behaeddin Platz, der ruhig in seiner Beschäftigung fortfuhr. Eine Zeitlang folgte er seinen Bewegungen mit aufmerksamen Blicken. Hin und wieder warf Behaeddin einen wachsamen Blick auf den stumm ragenden Turm des Mithridates. Endlich begann er langsam, Stück für Stück den Mehrlader wieder zusammenzusetzen. Als er den Lauf mit einem leichten Klick wieder einschnappen ließ, nickte der Besucher befriedigt mit dem Kopfe und sagte bedächtig:

»Ich sehe, deine Waffe liebt dich. Sie gehorcht dir willig in jedem Stück. Möge sie auch als Ganzes dich nicht im Stich lassen.«

Einer der Soldaten brachte Kaffee und stellte die Tassen zwischen die beiden auf das Kissen.

»Weshalb sollte sie das tun?« fragte Behaeddin lächelnd und schob den Ladestreifen an seinen Platz.

»Diese neuen Waffen haben manchmal seltsame Fehler und versagen, wenn man sie am nötigsten braucht«, antwortete der andere.

Behaeddin schloß die Ledertasche, in die er den Mehrlader hatte zurückgleiten lassen.

»Nein. Wenn man sie richtig pflegt, sind sie treu und zuverlässig, wie eine Art«, sagte er. »Doch was führt dich zu mir?« Damit hielt er dem anderen eine Schachtel Zigaretten hin.

Der Fremde bediente sich und nahm Feuer.

»Ich bin Hassan Scheich aus Silis. Mir gehört der ganze obere Teil der Silis Owa. Ich bin zu dir gekommen, um mit dir zu beraten.«

»Und woher kennst du mich?«

Hassan Scheich bewegte beschwichtigend den Kopf.

»Man hat mir gesagt, daß du erst vor einigen Tagen hier eingetroffen seist und aus Konstantinopel bist.«

»Wer hat dir das gesagt?« fragte Behaeddin ruhig.

»Einige Freunde. Im Basar spricht man davon«, antwortete der Scheich. »Ist es ein Unrecht, dich auf so unbestimmte Nachricht aufzusuchen?«

»Sicherlich nicht. Und du bist mir willkommen. Im Basar spricht man viel, und es ist mehr Streu dabei als auf einer Dreschtenne. Deshalb frage ich nach dem Namen dessen, der dir von mir berichtet hat.«

»Wie ich sehe, bist du ein vorsichtiger und kluger Mann, der den Dingen auf den Grund geht. Heute ist Vorsicht mehr denn je vonnöten, und Klugheit kann nie schaden. Und du kommst aus Konstantinopel?«

Behaeddin nahm seine Tasse auf und trank langsam. Sie niedersetzend, fragte er:

»Und wer hat dir das berichtet?«

Hassan Scheich lächelte.

»Niemand hat es mir berichtet. Doch einer der Soldaten, der mit dir gekommen ist, hat eine Nachricht an einen anderen gesandt, der vor kurzem in Turchal eintraf, und ihn von seiner Ankunft unterrichtet. Also werden wohl auch die Soldaten in Turchal unter deinem Befehl stehen. Vielleicht auch die in Tokat, und möglicherweise auch die, die das Tschekerektal heraufkommen.«

»Du erzählst mir viele Neuigkeiten. Ich danke dir. Aber noch weiß ich nicht, wer dich an mich gewiesen hat, noch worüber du meinen Rat erbittest.«

»Niemand hat mich an dich gewiesen. Ich habe dich aufgesucht, um mit dir zu sprechen. Wie es scheint, kann man dir vertrauen. Ich habe dir gesagt, wer ich bin. Wenn du der bist, für den ich dich halte, wirst du wissen, wer Hassan Scheich von Silis ist.«

Es war Behaeddin sehr wohl bekannt, daß unter diesem Namen ein Kurden-Scheich eine nicht unbeträchtliche Gefolgschaft in der Gegend von Silis, südlich von Silleh, hatte. Doch er wußte auch, daß gerade unter diesen Kurden die Sendboten des Großwesirs mit Gold und Versprechungen am eifrigsten wühlten.

»Ich weiß nicht, für wen du mich hältst«, erwiderte Behaeddin daher und sah den Scheich scharf an. »Deinen Namen habe ich wohl gehört. Dich selbst aber kenne ich nicht. Vielleicht findet sich in Amasia unter meinen Bekannten jemand, der mit dir befreundet ist.«

Hassan Scheich strich sich über den vollen, braunen Bart.

»Er steht vor der Tür. Midhad Bey, der dein Freund ist, kennt mich gut. Darf er eintreten?«

»Midhad!? Wo kommt er her?« rief Behaeddin erfreut und eilte zur Tür, die er öffnete.

Auf dem Flur saß ein jugendlicher Mann in Reisekleidung, der bei dem Anblick Behaeddins aufsprang und ihn umarmte. Beide hatten sich seit zwei Jahren nicht gesehen, nachdem sie als Schulkameraden und nahe Verwandte lange zusammen gewesen waren.

»Warum hältst du dich versteckt?« rief Behaeddin, den Freund ins Zimmer ziehend.

»Um diesem alten Fürsten der Bergbanditen einen Gefallen zu tun. Er wollte dich erst auf Herz und Nieren prüfen«, lachte der Neugekommene.

»Es ist also wirklich Scheich Hassan von Silis, der mich so lange aufgehalten hat?« fragte Behaeddin.

»Er ist es selbst. Ich habe ihm seine Wolle abgekauft; denn ich treibe jetzt Wollhandel. Wir machen Militärtuch. Das ist auch nötig zum Kriegführen«, sagte Midhad sich setzend.

Behaeddin sah zu seinem Turm hinauf, der sich hart und klar vom blauen Abendhimmel abhob und kein Zeichen gab.

»Und was willst du nun von mir, Hassan Scheich?« fragte er, seinen alten Platz wieder einnehmend.

»Ich kann jetzt wohl sprechen, ohne daß schwarzes Mißtrauen deinen Blick trübt«, antwortete der Kurde. »Du weißt, was man in Silleh betreibt. Du wirst auch wissen, daß die vier Männer aus Konstantinopel eingetroffen sind.«

»Vier sagst du?« unterbrach ihn Behaeddin. »Vier? Ich weiß nur von zwei. Wann sind die anderen gekommen?«

Der Kurde lachte:

»Man sagt, es seien nur zwei, weil sich nur zwei in der Öffentlichkeit zeigen. Sie sind zusammen gekommen. Ich habe selbst mit ihnen gesprochen.«

»Mit allen vier?« fragte Behaeddin, noch immer ungläubig.

»Mit allen vier. Saïni und Fethy Bey zeigen sich offen. Aber Edib Bey und Veli halten sich im verborgenen. Sie wohnen bei Asim Samy.«

»Ich danke dir für diese Nachricht. Sie haben sich gut zu verbergen gewußt. Doch sie haben auch allen Grund dazu.«

»Das mag wohl sein. Sie verfügen über viel Geld und haben schriftliche Vollmachten bei sich, auch Waffen und Munition.«

»Und was haben sie mit dir besprochen?«

Der Scheich warf Midhad einen fragenden Blick zu, den Midhad mit einem leichten Heben der Hände beantwortete, während er sagte: »Du hast jetzt meinen Freund Behaeddin kennengelernt. Du kannst selbst urteilen. Was soll ich dir sagen?«

»In der Tat, was sollst du mir sagen?« erwiderte der Kurde nach einer Weile. »Doch ich will sprechen. Ich habe Vertrauen zu deinem Freunde. Sage mir, Behaeddin Bey, werdet ihr siegen?«

»Wer siegen will, wird siegen. Und wir wollen siegen«, antwortete Behaeddin einfach und bestimmt.

»Das will ich nicht wissen. Ich will deine Ansicht wissen, was du denkst.«

»Ich denke, was ich gesagt habe. Ich bin überzeugt, daß wir siegen werden.«

»Gegen wen kämpft ihr aber? Gegen die Engländer, gegen die Franzosen, gegen den Sultan?«

»Ja, weißt du nicht, daß die Engländer die Griechen ins Land geschickt haben, daß die Franzosen uns halb Anatolien nehmen wollten, und daß der Sultan damit einverstanden war?«

»Das habe ich gehört. Doch man hört vieles. Die Boten des Großwesirs reden anders.«

»Wenn du ihnen glaubst, was kommst du zu mir?«

»Ich glaube dir mehr als ihnen. Das kann ich wohl sagen, jetzt, wo ich dich gesehen habe. Wenn aber diese Sendboten Erfolg haben, und der Aufstand um Silleh ausbricht, wenn man euch im Rücken angreift, wie könnt ihr dann siegen?«

»Was ist Silleh? Was ist dieser Ausstand? Zwei Flugzeuge und zehn Maschinengewehre werden seiner Herr. Es wird einen Monat dauern, vielleicht zwei, und dann werden die Aufständischen gehenkt werden. Das ist alles. Nicht ein Mann wird auch nur den Kisil Irmak erreichen.«

»Du sprichst Gedanken aus, die auch mir gekommen sind. Ich werde mich also diesem Aufstande nicht anschließen. Ich glaube, daß das, was du sagst, die Wahrheit ist. Doch wer wird mich belohnen? Was wird man mir geben?« antwortete der Kurde, Behaeddin gespannt ansehend.

»Wofür soll man dich belohnen? Daß du es ablehnst, an einem Aufstand teilzunehmen, der allen Beteiligten Verderben bringen wird? Was soll man dir dafür geben, daß du es vorziehst, nicht gehenkt zu werden?« fragte Behaeddin mit freundlichem Lächeln.

»Von den Sendboten des Großwesirs erhalte ich zweitausend Goldpfund und zwei Goldpfund für jeden Mann, den ich stelle«, bemerkte der Scheich wie beiläufig.

»Sie werden dir sehr viel nützen, wenn du mit den Füßen in der Luft am Galgen schwebst«, antwortete Behaeddin gleichmütig.

»Ihr werdet mir also nichts geben, wenn ich mich ruhig verhalte?«

»Nicht einen Para, Hassan Scheich, nicht einen Para. Du wirst nur deine Pflicht tun gegenüber der Nationalversammlung.«

»Ich kenne diese Versammlung nicht. Es sind viele Leute dabei, aus ganz Anatolien. Sie wollen das Land unter sich aufteilen«, sagte der Scheich zögernd.

»Nein, das wollen sie nicht. Sie wollen das Land von seinen Feinden befreien. Das wollen sie. Siegen wollen sie. Laß dich doch auch in die Nationalversammlung wählen, dann wirst du besser sehen, worum es sich handelt.«

»Ist das möglich? Würdet ihr mich in die Nationalversammlung wählen, wenn ich mich an dem Aufstande nicht beteilige?«

»Wir können dich nicht wählen. Aber du kannst in einem Wahlkreis aufgestellt werden und dort gewählt werden.«

»In welchem? Kann ich in Silleh gewählt werden? Ich habe dort viele Freunde!«

»Sicherlich kannst du das, wenn niemand anderes gewählt ist.«

»Gut. Dann werde ich mich in Silleh wählen lassen, und man wird mich in Angora in die Nationalversammlung aufnehmen?«

»Wenn du gewählt bist, ist das dein gutes Recht, Hassan Scheich. Niemand wird dich daran hindern können, an den Beratungen der Nationalversammlung teilzunehmen.«

»Gut. Dann werde ich also nicht an diesem Aufstand teilnehmen, sondern mich zum Abgeordneten von Silleh wählen lassen. Doch ich will mehr tun. Wenn du willst, werde ich dir helfen, den Aufstand zu unterdrücken.«

Behaeddin lächelte. Doch er erinnerte sich, daß niemals irgend jemand irgend etwas für die Bildung der Kurden getan hatte. Für Juden, Türken, Armenier, Christen aller möglichen Sekten und Bekenntnisse, für Griechen, Perser und Araber hatten die sogenannten zivilisierten Völker Schulen und Krankenhäuser aller Art gebaut, eingerichtet und unterhalten. An dem armen Kurden der Berge war ein jeder gleichgültig vorbeigegangen. Daher war das naive Unverständnis Hassan Scheichs nur zu verständlich. Woher sollte ihm der Begriff eines Staatswesens kommen, in dem ein jeder an seinem Teile für das Wohl des Ganzen tätig ist?

Der Scheich hatte das Lächeln Behaeddins wohl gesehen. Er bezog es aber auf etwas anderes.

»Ich weiß, der Aufstand ist noch nicht ausgebrochen«, sagte er schnell. »Das aber ist nur eine Frage der Zeit, eine Frage von Wochen, vielleicht von Tagen.«

»Sieh, der Turm brennt,« unterbrach plötzlich Midhad die Unterhaltung, »oder sollte jemand ein Feuer in ihm angezündet haben?«

Schnell wandte Behaeddin seinen Blick dem Burgfelsen zu. In dem offenen, oberen Raume des Wachtturmes, in dem er den Spiegel unter dem Schutze zweier Soldaten angebracht hatte, leuchtete er in regelmäßigen Zwischenräumen auf, bald kurz, bald länger anhaltend. Aufmerksam verfolgte er die Morsezeichen, ein Blatt Papier zur Hand nehmend, auf dem er die Buchstaben niederschrieb. Jede Meldung war dreimal zu wiederholen. Den Anfang hatte er durch seine Unachtsamkeit übersehen. Er mußte also die Wiederholung abwarten. Die meisten Worte konnte er ohne weiteres ablesen. Ein Reiter war durchgekommen, auf einem Schimmel. Er wollte nach Turchal. Auf einem Brief jedoch, den er bei sich getragen hatte, befand sich der Name Fethy Beys. Der Ausweis des Mannes war in Trapezunt ausgestellt und lautete auf den Namen Musli.

Behaeddin sprang auf.

»Ihr bleibt hier«, sagte er zu Midhad und Hassan Scheich. »In einer halben Stunde bin ich wieder zurück.«

Die beiden hatten sein Tun mit verwunderten Blicken beobachtet, besonders der Kurde, der so saß, daß er den Turm und die aufblitzenden Zeichen nicht sehen konnte. Midhad aber hatte nach den ersten Worten, und als er die Aufmerksamkeit sah, mit der Behaeddin den Turm beobachtete, geschwiegen. Daß irgendein Zusammenhang zwischen dem Aufleuchten im Turm und dem Tun seines Freundes bestand, war ihm sofort klar geworden.

Behaeddin verließ das Zimmer und bestieg sein im Hofe gesattelt stehendes Pferd. Den Weg von seinem Hause zur Brücke konnte er bequem in fünf Minuten zurücklegen. Auf der anderen Seite des Flusses angelangt, stieg er ab und übergab sein Tier einem der Soldaten der dort aufgestellten Wache, während er dem Posten befahl, einen Reiter anzuhalten, der in ganz kurzer Zeit auf einem weißen Pferde angeritten kommen würde. Er selbst begab sich in die Wachtstube und wartete. Nach kaum zehn Minuten erschien der erwartete Reiter an der Wegbiegung und wurde von dem Posten angehalten.

Sein auf den Namen Musli ausgestellter Ausweis war in Ordnung und trug die Unterschrift der Behörde in Samsun, die ihn zu einer Reise nach Turchal, Tokat und Siwas berechtigte, zwecks Aufkaufs von Wolle. Da die Schur um diese Jahreszeit verkauft wurde, hatte eine derartige Reise nichts Auffälliges, und niemand würde auf den Gedanken gekommen sein, ihn anzuhalten, wenn der Unteroffizier des ersten Überwachungspostens nicht zufälligerweise den Namen Fethy Beys auf einem Briefe in der Brieftasche des Reiters bemerkt hätte.

Behaeddin stellte einige Fragen an Musli, während er die Ausweise prüfte und stempelte. Der Mann war noch jung und zweifellos ein Türke von der Küste, anscheinend ein Lase. Während er mit ihm sprach, hatte Behaeddin seinen Plan gefaßt.

»Du wirst heute nacht doch nicht weiter reiten. Ich muß diesen Ausweis erst nach der Gendarmerie senden. Dort kannst du ihn morgen früh abholen. Wo wirst du hier übernachten?«

»Im Han Mehmed aghas«, antwortete der Mann ohne Zögern.

Behaeddin machte eine Eintragung in das Polizeibuch.

»Es ist gut. Morgen früh kannst du deine Papiere holen.«

Der Mann schwang sich auf sein Pferd und ritt schnell über die Brücke in die Stadt.

Behaeddin steckte den Ausweis Muslis zu sich und kehrte zu seinen Freunden zurück. Als er sein Zimmer wieder betreten hatte, fand er Midhad im Gespräch mit dem Scheich. Er setzte sich auf seinen Platz und ließ von neuem Kaffee bringen. Jetzt war die Sonne so tief gesunken, daß der ganze, hohe Burgberg im Schatten lag. In einigen Minuten würde es dunkel sein.

Nachdem er einige Zeit der Unterhaltung der beiden anderen zugehört hatte, die von den Mengen der verschiedenen Wollen sprachen, die in der Gegend von Josgad in diesem Jahre zum Verkauf ständen, sagte er:

»Du sprachst davon, Hassan Scheich, mir helfen zu wollen, die erwarteten Unruhen in Silleh am Ausbruch zu verhindern. Wie steht es damit? Die Wollpreise würden dadurch nur gewinnen.«

»Das ist noch eine Frage. Vielleicht werden sie dadurch sinken. Doch ich habe meine Schur verkauft. Ich will dir schon helfen, jetzt, wo du sagst, mich in der Nationalversammlung aufzunehmen.«

»Dann höre zu. Es ist heute abend ein gewisser Musli aus Trapezunt hier eingetroffen. Er wird bei Mehmed agha absteigen. Morgen früh will er nach Turchal weiterreiten. Willst du dich ihm zugesellen? Er behauptet, Wolle kaufen zu wollen, trägt aber einen Brief an Fethy Bey bei sich.«

»An Fethy Bey! Warum hast du ihm den nicht abgenommen?« fragte der Scheich sofort.

»Er hat ihn mir nicht vorgewiesen und ich kann nicht ohne weiteres die Brieftaschen der Reisenden, die ordnungsmäßige Ausweispapiere haben, untersuchen.«

»Nun, ich hätte das getan. Ihr scheint doch nicht so stark zu sein, wie ihr vorgebt«, antwortete der Kurde abfällig.

»Wie achten die Freiheit eines jeden. Ohne ausreichende Verdachtsgründe können wir doch die Menschen nicht festnehmen.«

»Der Sultan handelte anders. Er war mächtiger als ihr.«

»Aber alle anderen waren schwächer, als sie jetzt es sind. Doch lassen wir das. Willst du dich mit diesem Musli in Verbindung setzen?«

»Das ist leicht. Meine Pferde stehen auch bei Mehmed agha, und ich will ebenfalls morgen früh nach Turchal reiten.«

»Gut, dann schließe dich diesem Musli an. Er reitet einen Schimmel. Kein schlechtes Tier.«

»Und was soll ich mit ihm tun?«

»In Turchal werdet ihr von einem Posten angehalten werden. Reitet nun dieser Musli nach Tokat weiter, so geht er nicht nach Silleh. Reitet er aber nach Silleh, so folge ihm und nimm ihn mit Gewalt fest. Benachrichtige den Posten in Turchal, für den ich dir einen Befehl mitgeben werde und laß mich wissen, wo ich dich mit diesem Musli finden kann.«

»Das wird nicht schwer sein. Wie aber, wenn dieser Mann schon hinter Kara Tschai die Straße über die Berge nach Silleh einschlägt? Er kann ja von Silleh nach Turchal zurückreiten.«

»Dann nimm ihn erst recht fest und bringe ihn hierher zurück. Ich werde zwei Soldaten hinter dir hersenden, mit Befehl, dir zu gehorchen.«

»Ich sehe, ihr seid ebenso mächtig wie der Sultan, nur vorsichtiger, und das ist gut. Doch ich brauche deine Soldaten nicht. Mich begleiten zehn meiner Leute«, entgegnete der Scheich.

»Um so besser. Wenn wir so festgestellt haben, daß dieser Musli verdächtig ist, weil er sich von dem Reisewege seines Ausweises entfernt, können wir ihn untersuchen, ihn und seine Brieftasche.«

»Ganz richtig. Ihr achtet die Freiheit eines jeden. Ich sehe das jetzt ein. Und es ist ebenfalls ganz richtig: Wer heute von Amasia nach Turchal über Silleh reitet, der ist verdächtig; und noch mehr, wenn er von Turchal nach Silleh reitet und vorgibt, nach Tokat zu wollen. Darum hast du vollkommen recht. Ich werde mir also diesen Musli aus Trapezunt näher ansehen, und meine Leute werden ihn ganz gern festnehmen. Darauf kannst du dich verlassen«, sagte der Scheich, bedächtig seinen Bart streichend.

»Achte aber darauf, daß er die Brieftasche oder den Brief an Fethy nicht fortwirft oder vernichtet. Das wäre schade.«

»Ohne Zweifel. Wenn ich ihn festnehme, werde ich ihm die Hände auf den Rücken binden und die Brieftasche werde ich selbst an mich nehmen.«

»Tue das. Ich sehe, du hast Erfahrung in solchen Sachen.«

»In meinem Tale bin ich Sultan, bin ich Polizei und Richter, General und Minister zugleich. Wie sollte ich da keine Erfahrung in solchen Dingen haben? Auch bei mir gibt es Leute, die Briefe befördern, deren Inhalt gegen mich gerichtet ist«, lachte der Scheich.

Ein Diener brachte eine Lampe und setzte eine Platte mit einem Imbiß auf einen der niedrigen Tische, den er an den Diwan rückte. Behaeddin lud seine Besucher ein, zuzulangen. Nach dem Essen verabschiedete sich der Scheich.

»Und wenn dieser Mann nun tatsächlich von Turchal nach Tokat reitet? Was dann?« fragte er im Aufstehen.

»Dann hat er keinen Brief für Fethy Bey bei sich oder doch keinen wichtigen«, antwortete Behaeddin.

»Und ich? Wie soll ich dir dann helfen?«

»Wenn die Zeit gekommen sein wird, werde ich dir nach Silis Nachricht senden«, entgegnete der Offizier, dem Scheich die Hand reichend.

»Gut. Ich werde deine Boten erwarten«, und der Scheich verließ das Zimmer, die Freunde allein lassend.

Als am nächsten Morgen die große Sonnenuhr, die der Burgfelsen Amasias mit seinen ab und auf steigenden Schatten bildet, die sechste Stunde nach Sonnenaufgang zeigte, kam ein Reiter auf schweißtriefendem Pferde die Straße, die zu Behaeddins Haus führte, hinaufgejagt und hielt vor der offenen Tür. Dem dort sitzenden Soldaten reichte er ein beschriebenes Blatt Papier.

»Gib dies sogleich dem Jüsbaschi«, sagte er befehlend, ohne aus dem Sattel zu steigen.

»Er ist wohl dein Bruder?« fragte der Soldat aufstehend.

»Tue, was ich dir sage. Dies ist wichtig!« antwortete der Reiter.

»Nach dem Schweiße deines Pferdes zu urteilen, muß es das wohl sein.«

»Ja. Und es wird dich auch schwitzen machen, du fauler Esel.«

Behaeddin, der die Unterhaltung vom Fenster aus gehört hatte, beugte sich heraus.

»Was gibt es?«

Doch der Soldat war schon die Treppe hinaufgesprungen und trat ins Zimmer.

»Ein Befehl des Kurden, der unten wartet«, sagte er so unschuldig wie möglich.

Behaeddin griff nach dem Papier. Es enthielt nur wenige Zeilen: »Ich warte mit Musli unter den Bäumen von Kara Kaja. Seinen Brief habe ich in den Händen.«

Die Mitteilung war ohne Unterschrift. Doch sie mußte von Hassan Scheich stammen.

»Begleite mich«, befahl Behaeddin, das Papier in die Tasche steckend, und verließ das Zimmer.

Gefolgt von dem Soldaten und dem kurdischen Reiter, ritt er schnell dem Ausgang der Stadt zu.

Unter einigen Bäumen am Ufer des Flusses fand er den Scheich auf einem Teppich sitzen. Seine Leute standen und saßen um ihn herum und hielten die Pferde. Zur Linken der Straße öffnete sich ein kahles, geröllbesätes Tal. Zur Rechten wand sich der Jeschil Irmak durch die hart und trocken in der Sonne liegenden Hügel, die zu den Klippen und Felsen der nördlichen Berge aufstiegen.

Als Behaeddin die Gruppe erreicht hatte, saß er ab. Sein Soldat führte sein Pferd zur Seite, während er selbst auf Hassan Scheich zuschritt, der, eine Zigarette rauchend, im Schatten auf ihn wartete. Behaeddin setzte sich zu ihm.

»Ich danke dir für deine Mitteilung. Du hast schnell Erfolg gehabt«, begrüßte er ihn. »Wo ist der Mann?«

»Ich habe ihn hinter die Bäume führen lassen. Er kann uns nicht sehen. Zwei meiner Leute bewachen ihn. Aus Trapezunt ist er nicht, und von Wolle versteht er nichts«, antwortete der Kurde.

»Das hast du alles schon festgestellt?« fragte Behaeddin lächelnd.

»Ich traf schon gestern abend mit ihm zusammen. Sein Pferd hatte sich losgerissen und biß sich mit einem von meinen Tieren. Ich kenne viele Leute in Trapezunt, da ich einige Male dort war. Dieser Musli hat von keinem von ihnen eine Ahnung, wenn er auch vorgibt, mit ihnen bekannt zu sein. Und er kann kaum gewaschene Wolle von ungewaschener unterscheiden. Er ist sicherlich ein Lügner. Das habe ich schon gestern abend festgestellt. Heute morgen ritt ich zur gleichen Zeit mit ihm fort. Meine Leute folgten mir in einer kurzen Entfernung. Er hatte mir gesagt, daß er nach Turchal reite. Verschiedentlich machte er Anstalten, mich abzuschütteln. Er hatte seinen Futtersack vergessen und ritt zurück. Ich erwartete ihn. Dann behauptete er, sein Sattelgurt sei gerissen, und er müsse ihn ausbessern lassen, was er in Kara Tschai machen lassen wollte. Ich rief einen meiner Leute, diese Arbeit auszuführen. Doch der Gurt war in Ordnung. Dort, wo der Weg nach Turchal links abbiegt, ritt Musli geradeaus, nach Silleh zu. Ich blieb halten und rief ihm zu, daß er auf dem falschen Wege sei. Doch er hörte nicht. Da sandte ich zwei meiner Reiter hinter ihm her, die ihn zurückbrachten. Sie hielten sein Pferd am Zügel. Als ich ihm sagte, daß er den falschen Weg eingeschlagen habe, fragte er, ob ich wisse, wo er Geschäfte habe. So gab ein Wort das andere, und ich ließ ihn vom Pferde nehmen und durchsuchte ihn und seine Satteltaschen. Dabei fand ich diesen Brief, der in der Tat an Fethy Bey gerichtet ist. Geöffnet habe ich ihn nicht.« Damit hielt der Scheich Behaeddin den Brief hin.

Neben dem Teppich, auf dem Behaeddin und der Scheich saßen, brannte ein kleines Holzfeuer, auf dem einer der Leute Hassans Kaffee bereitete. Behaeddin wog den Brief in der Hand, der in einem gewöhnlichen Umschlag steckte. Aufstehend ging er an das Feuer und hielt die Rückseite des Briefes vorsichtig über den Dampf. Der Verschluß löste sich sehr schnell, und Behaeddin zog den Inhalt, ein engbeschriebenes Blatt, hervor.

Behaeddin kehrte an seinen Platz zurück und legte den Umschlag in die Sonne, mit einem Stein beschwert. Dann begann er zu lesen. Der Brief war ohne Unterschrift, trug nur eine Nummer und enthielt weder Datum noch Ort.

Er gab Nachricht über einige Waffensendungen, die unterwegs seien. Behaeddin notierte sich dies sorgfältig. Dann aber sah Hassan Scheich ihn stutzen und eine Stelle des Briefes zweimal lesen. Behaeddin schrieb einen Namen in sein Taschenbuch und ging das Schreiben nochmals durch. Dann faltete er den Brief vorsichtig zusammen, holte den Umschlag, der trocken geworden war, und steckte das Blatt Papier wieder hinein. Den Verschluß sorgfältig wieder anfeuchtend, drückte er ihn fest und ließ ihn trocknen.

Der Scheich hatte die ganze Zeit schweigend zugesehen.

Behaeddin steckte sein Taschenbuch wieder zu sich und zündete sich eine Zigarette an. Eine Zeitlang rauchte er nachdenklich vor sich hin. In den Bäumen rauschte der heiße Mittagswind. Die Pferde des Kurden stampften und fraßen an den grünen Zweigen der Büsche, die zwischen den Bäumen am abfallenden, tief eingeschnittenen Ufer des Flusses standen. Über der kahlen Talseite flimmerte die erhitzte Luft.

»Hast du diesen Mann so weit fortbringen lassen, daß er uns nicht hören kann?« fragte Behaeddin unvermittelt.

»Er befindet sich zwischen einigen Steinen, wohl fünfzig Schritt und mehr von hier. Auch rauscht der Fluß dort so stark, daß er kaum verstehen kann, was in seiner Nähe gesprochen wird«, antwortete der Scheich.

»Du hast mit großem Vorbedacht gehandelt. Ich danke dir. Willst du in der vierten Nacht von heute die Höhen im Süden und Westen von Silleh besetzen?«

»Wozu, Bey?«

»Das werde ich dir gleich sagen. Willst du das tun?«

»Ich muß wissen, wozu du das wünschst; denn ich kann mich nicht unnütz bloßstellen. Ich bin nicht allein. Andere sind gegen mich. Ich muß des Erfolges sicher sein«, antwortete Hassan bedächtig.

»Das verstehe ich. Wieviel Leute könntest du aufbringen?« fragte Behaeddin ruhig.

»Ich kann zweihundert junge Reiter stellen, dazu siebzig ältere, die auch beritten sind. Diese haben alle Gewehre. Wenn es unbedingt erforderlich ist, würde ich noch weitere hundert Mann senden können, die aber weder beritten noch bewaffnet sind. Sie würden nur Beile haben.«

»Das wären im ganzen dreihundertundsiebzig Mann. Glaubst du, mit dieser Zahl Silleh gegen Mittag und gegen Abend so einschließen zu können, daß niemand die Stadt verlassen kann? Ich würde dir zwei Maschinengewehre und vier Mann zu einem jeden geben.«

»Ich soll also nur verhindern, daß jemand die Stadt während der Nacht verläßt, auf diesen beiden Seiten verläßt? Weiter nichts?«

»Nein, weiter nichts.«

»Du verlangst nicht von mir, daß ich angreifen soll?«

Behaeddin dachte nach.

»Hundert von deinen jungen Leuten müßten so aufgestellt sein, daß sie auf ein Zeichen von mir binnen einer halben Stunde in den Straßen von Silleh sein könnten. Ob ich sie brauche, kann ich noch nicht sagen.«

»Du willst die Stadt also überfallen?« fragte der Scheich.

»Das nicht. Ich will nur eine Unterredung mit den Boten des Großwesirs herbeiführen, mich aber gegen einen möglichen Anschlag von ihrer Seite decken«, entgegnete Behaeddin.

»Du willst also mit ihnen verhandeln! Soll ich das nicht lieber für dich tun?« fragte der Scheich.

Behaeddin sah ihn einen Augenblick forschend an. Dann sagte er lächelnd:

»Ich danke dir für dein Anerbieten. Ich möchte aber keine weitere Zeit verlieren. Auch glaube ich, über größere Überredungsgründe zu verfügen als du und so die Verhandlungen beschleunigen zu können.«

»Maschinengewehre zum Beispiel«, bemerkte Hassan Scheich, eine Rauchwolke ausstoßend. »Da hast du allerdings recht. Die besitze ich nicht.«

»Gut, willst du nun meinem Vorschlag nachkommen und mir Hilfe leisten? Wie du gestern in Aussicht stelltest?«

»Du willst also schnell handeln? In der vierten Nacht?«

»In der vierten Nacht von heute.«

Der Scheich sah unbeweglich vor sich hin. Die braunen Augen halb geschlossen, schien er die Rauchwolken seiner Zigarette zu verfolgen. Einer seiner Leute brachte Kaffee in Tassen und setzte sie zwischen ihn und Behaeddin auf den Teppich.

»Wenn deine Verhandlungen zu nichts führen, was soll dann geschehen?«

»Dann werde ich auf deinen Vorschlag zurückkommen und dich bitten, sie weiterzuführen«, entgegnete Behaeddin, eine Tasse aufnehmend.

»Ich soll also dann zwischen dir und diesen Leuten vermitteln? Ich habe zwar keine Maschinengewehre, aber mein Einfluß ist nicht unbeträchtlich. Andere warten auf meine Entscheidung. Was ich tun werde, tun sie auch.«

»So ist es. Kann ich auf dich zählen?«

»In der vierten Nacht von heute werde ich alle Wege von Silleh nach Mittag und nach Abend besetzen. Deine Maschinengewehre brauche ich nicht. Niemand braucht zu wissen, daß ich mit dir zusammen handele. Die Wege kann ich auch allein halten.«

»Vom vierten Sonnenuntergang bis zum nächsten Morgen wirst du also niemanden über die südlichen und westlichen Höhen von Silleh lassen. Wer es versucht, den halte fest und bringe ihn im Laufe des Tages nach Silleh.«

»Und dort?«

»Dort übergib diese Leute mir. Wenn ich nicht in Silleh sein sollte, so laß sie frei.«

»Ich werde tun, wie du sagst. Und soll ich diesen Musli erschießen?«

»Sicherlich nicht. Gibt ihm seine Sachen zurück und besonders seinen Brief. Laß ihn nach Turchal, auf welchem Wege es ihm beliebt, gehen.«

Der Scheich warf einen Blick auf den Brief, der unweit des Teppichs in der Sonne lag.

»Er soll ihn also Fethy Bey aushändigen?« fragte er. »Die nördlichen Höhen und das Tal wirst du besetzen?«

»Wenn es nötig sein sollte. Doch ich glaube es nicht. Meine Verhandlungen werden zum Ziel führen, und du wirst als Abgeordneter nach Angora reisen.«

»Dann werde ich den Pascha besuchen und ihm von dir und deiner Klugheit berichten«, antwortete der Kurde, Behaeddin ansehend.

»Der Pascha wird sich freuen, einen so tatkräftigen Mann wie dich in der Nationalversammlung zu wissen«, antwortete Behaeddin mit einer verbindlichen Handbewegung.

»Glaubst du das wirklich? Der Sultan hat mich nicht eingeladen, ihn aufzusuchen«, bemerkte der Kurde nachdenklich.

Behaeddin gab keine Antwort, sondern stand auf.

»Gestatte, bitte, daß ich nach Amasia zurückkehre. Bis zur vierten Nacht habe ich noch viel zu tun.«

»Das Haus in Silleh, das Haus Asim Samys, steht in einem geschlossenen Hof. Seine Rückseite bildet ein Garten. In der Gartenmauer befindet sich nur eine kleine Tür, die sich auf eine schmale Gasse öffnet. Diese Gasse führt im Bogen um das ganze Grundstück herum«, bemerkte Hassan Scheich, mit der Hand einen Halbkreis beschreibend.

Auf einen Wink Behaeddins hatte der Soldat das Pferd vorgeführt.

»Ich danke dir. Deine Worte sind mir sehr wertvoll.« Damit reichte er dem Kurden, der neben ihn getreten war, die Hand.

»Reite mit Gott!« antwortete der Scheich, die Hand an die Stirn legend.

Behaeddin stieg in den Sattel und ritt, ohne sich umzuwenden, langsam in die Stadt zurück.


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