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6. Der Derwisch

Haidar Resched war langsam die Straße, die zum Tunnel führte, hinabgegangen. Um ihn drängte sich die Menge auf dem abendlichen Heimwege. Vollbesetzte Straßenbahnwagen rollten knirschend über die Krümmungen der Schienen. Soldaten johlten. Dirnen kreischten an den Eingängen der engen Seitenstraßen, aus deren Tiefen Gesang und Gelächter, das Schreien von Grammophonmaschinen und das Winseln verstimmter Klaviere durcheinandertönend drang.

Kraftwagen fuhren rücksichtslos durch die Schar der Fußgänger, die sehen mochten, wie sie aus dem Wege kamen.

Aus einem kleinen, stillen Friedhof, der an die Straße grenzte, blickten ernst und schweigend die weißen, aufrecht stehenden Steine der Grabmale unter ihren in Form eines Turbans auslaufenden Bekrönungen, in das seltsame, sinnlose Treiben, in diese Menschenmenge der Großen Perastraße, die vom Menschlichen kaum noch die Gestalt, höchstens die Kleidung zu haben schien, die, leer und tierisch, aller geistigen Interessen bar, stumpf und augenblicksgierig sich ihren dumpfen Höhlen zuwälzte, vom Licht der Schaufenster wie grünlich patiniert und fratzenhaft verzerrt.

Zischend kamen seltsame Laute aus ihren beweglichen Lippen; ein barbarisches Griechisch, dem alle Kiesel aller Meeresküsten auch im Munde eines Demosthenes nichts Geistiges hätten verleihen können; Französisch, das schleimig in süßlichem Brei goldplombierten Zähnen entströmte; Armenisch, hart und sich überstürzend, wie Steine in einem Sieb; Italienisch in seiner rohesten Form, voller Barbarismen und unbeholfen wie die Schifferknechte, die es verbreitet hatten; Spanisch, aus dem sechzehnten Jahrhundert, verderbt und aller Hoheit entkleidet; Englisch, das in kauenden Kehllauten gröhlte, so wie Bier und Stumpfsinn es der anglo-sächsischen Unterwelt angepaßt haben. Nur Russisch schwebte weich und träumerisch über diesem Gewirr fast tierischer Laute, vollständig fremdartig und verloren, wie das letzte Erinnern eines Geistes über den dunklen Wassern des Styx, todesbewußt, doch lächelnd, da alle Schrecken nun hinter ihm liegen und kein Grauen ihn mehr berühren kann.

Nur Türkisch wurde in den Straßen der alten Hauptstadt des Osmanischen Reiches nicht gesprochen. Ein Wille und eine Sehnsucht siegelten seine Lippen. Anatolien, Anatolien das verachtete, Anatolien, das seit Jahrhunderten alle Last des Reiches getragen, alle Kraft für die Stadt der Tausend Lügen am Bosporus hingegeben hatte; das schweigend und stumm in den brennenden Strahlen seiner unbarmherzigen Sonne, im eisigen Brausen seiner Winterstürme wie erstarrt, in der steinigen Ode seiner Hügel und Berge geduldig und mühselig die breiten Äcker seiner Ebenen bearbeitet hatte; damit die Stadt des Kalifen, damit Der sa'adet, die Stadt der Seligkeit, als Juwel der Welt, als Wunder der Erde im Rahmen seiner smaragdenen Meere, stolz und unnahbar, die zerfallenden Neste seiner unvergleichlichen Schönheit in Frieden zu Grabe tragen könne.

Haidar Resched winkte einem Wagen. In seinen Augen lag ein seltsamer Haß wie eine sichere Rache. Leise flüsterte er dem Kutscher seinen Befehl. Tief drückte er sich in das Wageninnere und schloß die Augen.

Erst als die Galatabrücke hinter ihm lag, öffnete er sie wieder. Über den Platz von Emin Eunü blitzten die Lichter der Scheinwerfer der fremden Kriegsschiffe, doch eine Biegung des Weges, die dunkle Durchfahrt neben der Sultan Walideh Moschee, ließ sie erlöschen. Der Wagen rollte die breite, mit Bäumen umsäumte Straße hinauf, die zur Hohen Pforte führt. Dunkel und stumm lagen die breiten Gebäude. Die Zweige der Bäume rauschten leise, und die Gummiräder des Wagens rollten lautlos über das holprige Pflaster, das unter den Hufschlägen der Pferde widerhallte. Stambul lag still und wie ausgestorben um ihn. Durch schweigende Straßen führte der Weg weiter, bis eine dunkle Seitengasse sich zur Linken öffnete. Haidar Resched ließ halten und entlohnte den Kutscher, der wendete und davonfuhr.

Haidar Resched blickte ihm einen Augenblick nach. Dann ging er die Gasse hinab. Vor einem großen, hohen, steinernen Gebäude blieb er stehen und klopfte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür. Der Einlaßbegehrende flüsterte einige Worte und trat ein.

Der Türflügel fiel ins Schloß, und die Straße lag wieder still und verlassen.

Eine buntfarbige Ampel erhellte matt den Vorraum, in dem sich Haidar Resched befand. Der Diener, der ihn eingelassen hatte, führte ihn in ein nebenan liegendes Empfangszimmer. Auch hier brannte eine Ampel an der Decke, deren Licht durch bunte, mit Öl gefüllte Gläser fiel, in denen ein kleiner brennender Docht schwamm, und die in kunstvoll getriebenen Kupferrahmen ruhten. Die Wände waren mit Teppichen verkleidet, die jetzt sogar die Fenster verdeckten. Einige Fayencen in Blau und Weiß und Gelb verkündeten, daß Gott barmherzig sei, und daß alle Sehnsucht und aller Zorn im Schatten Gottes ihren Frieden finden würden.

Ein Diener brachte eine Wasserpfeife. Haidar Resched hatte seine Schuhe ausgezogen und sich auf den breiten Diwan gesetzt.

Er rauchte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. Kein Laut war zu hören. Nach einer halben Stunde öffneten sich die Falten des Teppichs, der die Tür vorstellte, und ein neuer Diener erschien. Er machte Haidar Resched ein Zeichen, ihm zu folgen. Haidar zog seine Schuhe wieder an und ging, gefolgt von dem Diener, über den Vorraum, die Treppe hinauf und durch ein großes, stilles Zimmer, in dem zwei Lampen auf kleinen Tischen brannten, bis zur teppichverhangenen Tür des anstoßenden Gemaches.

Der Diener öffnete, und Haidar Resched trat über die Schwelle. Das Zimmer war mäßig groß und wurde von einer niedrigen Lampe erhellt, die auf einem breiten, schwarzen Schreibtisch stand. Die Wände füllten Bücherschränke. Ein paar bequeme Lederstühle standen in den Ecken. Hier und da ein paar kleine Rauchtische. Ein dunkler Teppich bedeckte den Boden in seiner ganzen Ausdehnung, und ein dichter grüner Vorhang hing vor dem Fenster. Bei dem Eintritt Haidar Rescheds hatte sich aus einem der Lehnstühle neben dem Schreibtisch eine hohe Gestalt erhoben, ganz in ein langes, schwarzes, faltiges Gewand mit breiten Ärmeln gehüllt, das am Hals ein schmales, rotes Band abschloß. Eine hohe, konisch gestaltete Kopfbedeckung aus gelblich-grauem Filz ließ die Gestalt noch größer erscheinen, als sie war. Ein kurzer, grauer Bart umrahmte das schmale Gesicht, aus dem zwei kluge, dunkle Augen dem Eintretenden ruhig entgegensahen.

Es war der Vertreter aller Derwischorden, Halid Bey, vor dem Haidar Resched stand. Beide begrüßten sich höflich und schweigend. Dann lud Halid seinen Besucher durch eine Handbewegung ein, Platz auf einem, dem seinen gegenüber stehenden Sessel zu nehmen.

Ein Diener brachte Zigaretten und Kaffee und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war.

Als er gegangen war, verneigte sich Halid von neuem, und Haidar erwiderte seinen Gruß. Noch immer war kein Wort zwischen den beiden gewechselt worden.

Als Haidar sich eine Zigarette angezündet und seine Kaffeetasse an die Lippen geführt hatte, sagte Halid leise:

»Dein Besuch erfreut mich sehr. Die Nacht ist schon dunkel, und es ist ein weiter Weg von deiner Wohnung.«

»Der Weg wäre mir noch weiter erschienen, wenn er mich nicht zu dir geführt hätte, und dunkler die Nacht, wenn du mir nicht als Stern, als Mond geleuchtet hättest.«

»Ich bin dein Diener. Wenn ich dir helfen kann, dann soll es geschehen«, antwortete Halid mit seiner leisen Stimme, die Spitzen seiner Finger gegeneinanderlegend.

»Helfen kannst du mir. Und helfen wirst du mir, das weiß ich wohl. Doch ich muß erst Ruhe in mein stürmisches Herz bringen und von deinem Frieden sammeln, ehe ich dir die Worte sage, um derentwillen ich hierhergekommen bin.«

Haidar Resched sprach wie ermüdet, und seine Blicke folgten langsam dem Muster des Teppichs, der sich vor ihm ausbreitete.

»Was ich an Frieden habe, sei dein. Doch es ist wenig, das mir geblieben ist. Von allen Seiten reißt der Sturm an den Seilen meines Zeltes, und der Wind weht die Asche meines Feuers über die Teppiche.«

»Wohl weiß ich das. Wo ist es nicht so, Dschelebi Bey. Doch die Kraft unseres Körpers soll der Flamme des Geistes ein Schutz sein und ein Wall, damit kein Sturm sie erreichen kann, auf daß ihr Licht ruhig leuchte und uns in Frieden den Weg bedenken lasse, der allein der wahre ist, den Weg, auf dem allein uns Hilfe kommen kann. Und Hilfe tut uns not. Aller Unrat der Welt ist gegen uns in Aufruhr. Und das Tosen seines Übermutes ist wie das Brausen des Meeres im Sturm.«

Halid sah sein Gegenüber forschend an und ließ die Hände auf die Armlehnen seines Stuhles sinken. Er kannte Haidar Resched wohl und wußte genau, welchen großen Einfluß dieser Mann hatte, wie tausend Fäden in seiner Hand zusammenliefen, und wie tausend Willen sich dem seinen gern und willig beugten. Wenn er zu ihm kam, mußte es etwas sehr Wichtiges sein, etwas, an dem ihm sehr viel lag.

»Es geschieht nichts, es sei denn Befehl gegeben, daß es geschehe«, sagte er langsam. »Das weißt du so gut wie ich. Befehle sind gegeben worden, denn es geschieht viel. Seltsames ereignet sich, wie du weißt. Unruhe hat sich erhoben, dort wo früher stumpfer Tiersinn herrschte. Unbeholfenes Rufen dringt bis hierher aus dem Herzen unserer Heimat. In der Wüste wandelt ein Neues und doch Altes. Entscheidungen drängen ihrer Spitze zu. Wie solltest du, der du mitten im Leben und im Handeln stehst, nicht unruhig sein, Haidar Resched Bey? Und wenn du sagst, daß du meiner Hilfe gewiß bist, so werde ich deine Gewißheit nicht enttäuschen, wenn meine Kraft genügt, dir deinen Weg zu erleichtern.«

»Ich danke dir für deine Worte«, entgegnete Haidar Resched nach einer Weile, und legte seine Zigarette zur Seite. »Ich brauche deine Hilfe. In doppelter Form. Mir fehlt die Zeit, ein Werk auszuführen, das du schneller als ich anbefehlen kannst. Deshalb bin ich gekommen. Und dann sollst du meiner Blindheit helfen, sollst meinem Geist ein Licht zeigen, in dem ich sehen und verstehen kann, ob die Folgen meiner Handlung wohl die Handlung selbst nicht verurteilen und zunichte machen werden.«

»Beides ist, wie du wünschst«, entgegnete der andere einfach, langsam mit der rechten Hand über die blanke Fläche der schwarzen Tischplatte streichend.

Haidar Resched schwieg und griff nach seiner Tasse, die er langsam leerte. Dann hielt er sie einen Augenblick in der Hand und betrachtete ihre Form, wie in Gedanken verloren. Endlich setzte er sie nieder und wandte sich Halid Bey zu.

»Es handelt sich darum, die Pläne der Stellungen der Griechen bei Afiun Karahissar in der morgigen Nacht zwischen zehn und zwölf Uhr zu erlangen«, und er gab einen kurzen Überblick über die Ereignisse, die dazu geführt hatten, ihm das Vorhandensein und das Versteck dieser Pläne in der Wohnung der Tänzerin Ines Valera bekanntzugeben.

»Die Pläne müssen bei Blitzlicht photographiert werden. Einer meiner Bekannten, Sadik Bey wird die Aufnahmen machen. Er steht mir jederzeit zur Verfügung, aber ich kann so schnell mir nicht die Verbindungen schaffen, um unbemerkt morgen abend in die Wohnung der Valera zu dringen.«

»Bist du sicher, daß weder sie noch jemand anders zu der angegebenen Zeit die Wohnung betreten wird?« fragte Halid ruhig.

»Aller Voraussicht nach kann ich das sein. Doch was heißt sicher? Unvorherzusehendes kann stets eintreten.«

Ein leises Lächeln flog über die schmalen Züge des Derwisches.

»Es ist meine Aufgabe, das Unvorherzusehende vorherzusehen. Du sollst die Pläne zu der angegebenen Zeit vorfinden, und dein Sadik soll sie photographieren. Ich kenne Psalty und die Valera, und ich kenne Saranti. Es wird für Saranti sein, daß der Grieche handelt. Doch das ist gleichgültig. Ich weiß, daß die Tage der Griechen gezählt, in diesem Lande gezählt sind. Der Geist ist erwacht, und wenn wir auch nur dunkel ahnen, was er erstrebt, daß er der Herrschaft des Tieres, das Europa großgezogen hat, entgegentreten wird, ist nicht zu bezweifeln. Der Fürst der Geister hat seine Sendboten gesandt. Überall klopfen sie an die Herzen. Und die Herzen werden unruhig, und die Ohren hören. Doch es ist nicht Friede, den er bringt. Zu groß ist die Macht des Tieres, zu tief verstrickt sind die Menschen in die Abkehr von allem Geistigen, als daß sie zu bewegen wären, der Stimme des Fürsten zu lauschen. Ihre Herzen sind tot, und die Dünste der Verwesung haben ihre Gehirne umnebelt. Deshalb ist es auch leicht, ihre törichten Anschläge zunichte zu machen, für den, der das Unvorherzusehende in den Kreis seiner Berechnungen zieht.«

»Und wie willst du dieses Unvorherzusehende, die Möglichkeit einer Rückkehr Psaltys oder der Valera in die Wohnung, morgen abend zwischen zehn und zwölf Uhr ausschalten?« fragte Haidar Resched.

»Es genügt, daß ich dies als Aufgabe kenne. Du darfst sicher sein, daß Sadik nicht gestört werden wird. Er soll sich um neun Uhr in das Haus der Valera begeben, dort die Hand an die Tür legen und mit den fünf Fingern, vom Daumen angefangen, anklopfen, ohne die Hand zu erheben. Man wird ihm sofort öffnen. Um neun Uhr, nicht erst um zehn.«

»Es ist gut. Er wird es tun. Und alles, dessen er bedarf, wird er mitbringen. Ich danke dir. Du leistest uns einen großen Dienst.«

Halid lehnte sich plötzlich vorwärts und legte beide Hände auf die Knie Haidar Rescheds.

»Mein Freund,« sagte er leise und eindringlich, »mein Freund, nicht um unsertwillen, nicht um deinet- oder meinetwillen, nicht um Anatolien und nicht um des Paschas willen, möge ihn Gott segnen, tue ich dies. Mein Freund, höre mir zu. Meine Worte sind wichtiger für dich als meine Taten. Um was du mich bittest, ist nichts. Daß du aber zu mir kommst, um mich zu bitten, das ist viel, ist seltsam und hat mich tief berührt.

»Du kämpfst, mein Freund, du kämpfst für Anatolien. Du tust gut und wohl und recht daran. Und ich danke dir. Auch ich kämpfe. Wie du, kämpfe auch ich für das gleiche Ziel. Doch, mein Freund, dieses Ziel ist für dich das Ziel. Für mich ist es ein Schritt, der nächste wohl, doch den übernächsten kenne ich nicht. Aber ich weiß, mehr, weit mehr ist in Bewegung.«

Er lehnte sich wieder zurück und strich sich mit der Hand über die Stirn, eine hohe, glatte Stirn und eine weiße, schmale, wohlgepflegte Hand. Haidar Resched sah ihm fest in die dunklen Augen:

»Ich bin nicht du, Dschelebi Bey. Ich bin nicht du. Einen Schritt kann ich tun. Einen. Den nächsten zu tun, werde ich zu seiner Zeit erfahren. Jetzt muß ich handeln.«

»Handeln ...! Handeln!« unterbrach ihn der Derwisch mit einer Handbewegung. »Wer von uns handelt? Dieses Handeln um der Handlungen willen führt in die Irre. Er allein handelt, er, der Fürst der Geister. Er weiß, wohin seine Handlungen führen. Er allein kennt das Ziel. Das Ziel, das verborgen, nur ihm offenbar ist. Wir, du, ich, alle ihr, die ihr handelt, die ihr Taten tut, handelt zur Erreichung irgendeines Zieles, das ihr euch selbst gesteckt habt, Freiheit, Macht, Reichtum und wie die niedrigen Ziele alle heißen mögen. Und doch! Ihr seht nicht, daß euer Glück nicht im Erreichten, sondern im Streben nach dem Erreichen liegt. Beuge dich ihm, dem Fürsten, der alle Dinge lenkt, ihm, der von neuem einen Schritt auf dem Wege der Rettung tut. Was wissen wir, wohin er uns führt, was wissen wir, ob wir, so wie wir sind, überhaupt für ihn in Betracht kommen. Immer tiefer, immer heftiger, immer entschiedener hat sich die Welt von ihm losgesagt, hat ihre eigenen Gesetze, ihr eigenes kümmerliches Denken zum Ziele aller ihrer Handlungen gemacht. Sie sind aufgestanden und haben alles Geistige in Acht und Bann getan. Was diese Blinden sehen können, was diese Tauben hören können, nur das glauben sie. Weil sie einige belanglose Gesetze der Mechanik entdeckt haben, glauben sie, des Geistes nicht mehr zu bedürfen. Sie, die die Elektrizität verwenden und nicht wissen, was sie ist, sie, die erbitterte Kämpfe um den Besitz der Petroleumlager der Erde führen und nicht wissen, was Petroleum ist!

»An Stelle des Herzens haben sie den Magen gesetzt. An Stelle des gläubigen Vertrauens in eine Macht, die größer ist als sie, die sie führt, für die sie nur ein Werkzeug sind, zu Zielen, die sie nicht kennen, für Ziele, die ihr jämmerliches Dasein unendlich an Wichtigkeit und Wert überragen, haben sie sich selbst und die Befriedigung ihrer kümmerlichen Gelüste gesetzt. Und in diesem Streben sind sie mächtig geworden untereinander. Die diese Ziele am tatkräftigsten, am folgerichtigsten, am grausamsten verfolgten, haben die, denen noch ein Rest, eine Spur des Geistes verblieben war, vernichtet und sind dabei, die Leichen für ihre Zwecke zu verwerten.

»Doch der Fürst des Geistes hat seine Botschaft gesandt. Langsam wird sie sich ausbreiten. Immer mehr werden sie hören, immer mehr werden sie verstehen. Die Zeit ist gekommen, daß wir uns bewußt in seine Dienste stellen. Daß du, mein Freund, daß du, Haidar Resched verstehst, daß der Pascha, daß Anatolien vor allem ein Werkzeug sind, das der Fürst des Geistes im Kampfe gegen die überhebliche Torheit dieser Verderber jedes Aufstieges benutzt. Der Pascha wird siegen. Anatolien wird siegen. Denn mit ihm ist der Wille, der Wille der Auflehnung gegen das Gemeine, gegen das Tierische all dieser westlichen Zivilisation, die in der Befriedigung des Magens, in der Befriedigung ihrer gemeinen tierischen Instinkte das Endziel all ihres Strebens sieht und sucht.

»Und solange, als der Wille dieser Auflehnung, der Wille des Kampfes, nicht für irgendwelche eigenen Ziele, sondern für den Sieg des Geistes, des Glaubens an eine höhere Weltordnung, denn die des mathematischen Verstandes, des Wissens um etwas Größeres, etwas Höheres, Umfassenderes, als es der menschliche Verstand ist, um etwas, das über und jenseits der menschlichen Vernunft steht, solange, als dieser Wille besteht, wird uns der Sieg bleiben.

»Untergehen werden alle die, die selbstgenügsam an die Vernunft, die reine oder die eigene glauben. Sie werden untergehen, wie alle untergegangen sind, die in der Vervollständigung ihrer eigenen Kultur, ihres eigenen Verstandes, ihrer eigenen Vernunft das Höchste sahen, wie die Babylonier und die Ägypter, die Griechen und die Römer, die Azteken und die Inkas untergegangen sind, und wie untergegangen sind,« setzte er flüsternd hinzu, »die Araber und die Perser, die Omajaden und die Sassaniden, und die ...,« er brach plötzlich ab und sah mit erschreckten Blicken, wie, als wache er aus einem Traume auf, vor sich hin.

»Und die Osmanen«, setzte Haidar Resched leise, fast unhörbar seine Worte fort.

Halid sprang auf. Mit der linken sich um den Hals greifend, hob er beschwörend die Rechte.

»Genug! Genug! Ich sehe den Untergang des Gewesenen. Doch das Aufsteigen des Werdenden sehe ich nicht. Das ist unsere Last. Das ist unser Fluch. Das ist der Stachel des Todes, den wir alle, die wir nicht im Tierischen versunken sind, fühlen. Und um dieses willen, nur um dieses willen wird uns der Fürst des Geistes nicht verwerfen. Wir sind bereit, ihm zu dienen. Wir sind bereit!«

Er ließ sich schwer auf seinen Sitz zurücksinken und legte die Hände in den Schoß, geradeaus, nichtssehend vor sich hinblickend.

In dem hohen, dunkel verhängten Gemach war es ganz still. Kein Laut drang aus der schlafenden Stadt, aus dem schweigenden Stambul in das Innere. Die Lampe warf einen kreisrunden Schein auf die schwarze Platte des Schreibtisches, und die dunklen Farben des Teppiches leuchteten in stumpfem Blau und Rot und Schwarz. Hinter den Glasscheiben der Bücherschränke glänzten die Einbände.

»Ich weiß, Dschelebi Bey,« sagte Haidar Resched nach einer Zeit des Schweigens, »ich weiß, daß wir für irgendeine unerkennbare Zukunft kämpfen. Wir geben ihr einen Inhalt und eine Gestalt, wie wir sie zu unserer Zeit ersehnen. Was wir heute erwünschen, legen wir, wie die Kinder, in das Kommende. Es ist das unser Trost. Es ist das unsere Hoffnung. Es ist das der letzte Grund unseres Handelns. Das Ziel ist die Ursache. Und doch ... Auch ich, der ich ein Handelnder um der Zukunft willen bin, auch ich weiß und fühle in meinem Herzen, in den stillen Stunden, wie jetzt in deiner Nähe, daß das Kommende nur das Gewesene, die Zukunft nur die Vergangenheit sein kann.«

»Solange wir dieselben bleiben. Wir. Auf uns kommt es an«, griff Halid die Worte auf. »Wir müssen andere werden. Wir müßten oder wir sollten doch endlich gelernt haben, daß im Kreislauf des Geschehens nichts sich ändern kann, solange wir uns nicht selbst geändert haben. Mühselig sind wir emporgestiegen. Langsam, unendlich langsam für unser kurzes Leben ist die Ahnung erst, die Sehnsucht, der Begriff des Geistigen in unsere stumpfen Herzen gedrungen. Jahrtausende hindurch ist dieses Sehnen, ist dieser Begriff eins geworden mit uns. Und nun! Die Menschen, die Technik schlägt dieses Sehnen tot, überwuchert den Begriff des Geistes, vernichtet in den Herzen der Menschen jede Ahnung, die wir so viele Jahrtausende zu erwerben gebraucht haben. Sollte diese Zeit ein Gipfel gewesen sein, und sollten wir nun wieder hinabsinken, zum Tier, das Flugzeuge baut und die Elektrizität anwendet? Wie die Ameise die Kraft der Schwere, die Biene die Gesetze der Statik? Sollten die Errungenschaften der Technik, die Leistungen des Verstandes, die Ausbildung der Vernunft nur dazu dienen, um die tierischen Eigenschaften stärker zu machen, die Versklavung der Menschheit in ihre Lebensformen unlöslicher zu gestalten, härter, steinerner? Sollten wir wieder hinabsteigen zu den Zeiten der Finsternis, wo nichts war als Gier und Begierde, Kampf und Vernichtung? Sollte das das Rad sein, das Rad des Lebens, von dem man in Indien spricht! – Dann wäre es besser, nie geboren zu sein. Doch ich bin geboren. Ich erkenne diese Gefahr. Ich sträube mich dagegen. Hierin liegt die Unmöglichkeit, daß wir völlig wieder versinken. Und dies ist unsere Aufgabe. Dem Geiste dienen. Dem Kommen des Geistes, das uns so viele gepredigt haben. Glauben wir an sie und vertrauen wir dem Fürsten des Geistes, der da ist, wo immer er auch sei. Er wird uns helfen. Oder besser: seien wir bereit, daß er sich unserer bediene, seine Ziele, die wir nicht verstehen, und auch nicht verstehen können, zu fördern. Unser Kampf ist ein Kampf für die Ziele des Geistes. Und siehe, wie uns geholfen wird! Alles dient uns. Die Natur unserer Feinde, ihr eigener Charakter hilft uns. Solange unser Wille dem Willen des Geistes dient, wird er uns durch alle Gefahren hindurch tragen. Und dies ist meine Furcht: Ich fürchte, daß wir eines Tages des Geistes, der uns Kraft verleiht, vergessen, daß wir herabsinken können, unsere Begierden allem anderen voranzustellen. Dann werden wir sicherlich zugrunde gehen. Und um das zu verhindern, um an meinem geringen Teil daran mitzuarbeiten, daß das Bewußtsein, einen größeren Kampf zu führen, als den Kampf für Anatolien, um den Kampf zu führen für den Geist gegen die Gier der Welt, wie sie Europa und Amerika verkörpern, um dieses Bewußtsein in dir, Haidar Resched, mein Freund, zu stärken, deshalb habe ich dir dies gesagt, was du aus meinem Munde gehört hast.

»Wenn ich dich um eines Fingers Breite überzeugt habe, wenn es mir gelungen ist, für den Bruchteil einer Sekunde dir das Geheimnis des Fürsten des Geistes näher zu bringen, bin ich belohnt.

»Denn was auch immer du tust, niemals wirst du dann ganz wieder vergessen können, daß unser Kampf größer ist und weitertragend, als um Freiheit und Land der Türken. Für uns streitet der Fürst des Geistes, des bin ich gewiß. Viele Zeichen, die mir geworden sind, sprechen dafür. Asien erwacht. Asien, das den Kampf um den Fortschritt der Zivilisation träumerischen Blickes verfolgt hat, versunken in Willenlosigkeit und Schwäche, ein Spielball aller Fremden, Asien erwacht, und es sind die geistigen Kräfte Asiens, die am Werke sind. Sie stützen uns. Ihre Gebete sind mit uns, ihre Gedanken umgeben uns. Der Fürst des Geistes hat stets aus Asien seine Sendboten gesandt. So auch jetzt. Ich danke dir, daß du mir dein Ohr geliehen hast. Glaube mir, wir kämpfen für mehr, als uns sichtbar ist. Aber sehen wir zu, daß wir es nicht verlieren, noch es im Siege verraten. Das ist meine Botschaft, meine Botschaft an dich, mein Freund.«

»Ich glaube dir, Dschelebi, ich glaube dir. Was du sagst, habe ich wohl leise im Innern gefühlt. Doch du hast meinen Gefühlen Worte gegeben und hast Licht in meine Dunkelheit gebracht. Ich danke dir.«

»Deshalb will ich dir auch zu den Plänen verhelfen. Nicht, daß ich glaube, wir würden ohne sie nicht siegen. Mit uns ist der Fürst, der Fürst Asiens, der Herr der Welt, das Licht des Geistes. Doch es wäre unweise, Vorteile nicht wahrzunehmen, die uns in unserem Kampfe nützen können. Und der Kampf ist schwer. Er erfordert einen ganzen Mann. Er erfordert den Pascha selbst. Möge Gott ihn segnen und ihm Kraft geben, dieses schwere Werk ohne Schwanken durchzuführen. Doch er wird siegen. Er wird sicherlich siegen.«

Halid blickte mit weit geöffneten Augen vor sich hin.

Nur das leise Summen der Lampe auf dem Schreibtisch war hörbar. Haidar Resched saß, leicht vorgebeugt, dem andern gegenüber. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck schien er das Muster des Teppichs vor seinen Füßen zu verfolgen. Endlich blickte er auf und sagte:

»Kennst du Halideh? Deren unermüdliche Hingabe an die Sache Anatoliens uns auf den Weg zu diesen Plänen gebracht hat?«

Halids Gedanken schienen wie aus weiter Ferne zurückzukehren, als er sich seinem Besucher wieder zuwandte. Sich mit der Hand über die Stirn streichend und die gelbgraue Kopfbedeckung leicht zurückschiebend, sagte er langsam:

»Halideh! Wer ist Halideh? Nein, ich kenne sie nicht. Wo ist sie?«

Haidar Resched begann zu erklären. Er erzählte von ihrer Aufopferung im Dienste der Freiheit, von dem Vertrauen, das der Pascha in sie setze, von ihrer soldatischen Tüchtigkeit, von ihrer Unerschrockenheit und Klugheit, von ihrer gefahrvollen Tätigkeit im Mittelpunkt der feindlichen Kräfte.

»Ich bitte dich,« schloß er, »gib Auftrag, daß man ihr helfe, wo immer sie sei. Nimm sie ohne Wissen unter deinen Schutz. Sie ist uns wertvoll und von großem Nutzen. Ihr Verlust wäre mehr als schmerzlich, denn nur wenige, sehr wenige gibt es, die wie sie Verstand und Herz, Hingabe und Ausdauer, Klugheit und Selbstlosigkeit vereinigt besitzen.«

»Kannst du sie sehen? Kennst du sie gut genug, um dir ihr Bild klar vor die Augen zu stellen?« fragte Halid unvermittelt, als der andere schwieg.

»Ich kenne sie genau. Jeden Zug ihres Gesichtes, jede Linie ihrer Gestalt ist mir bekannt«, gab Haidar Resched erstaunt zur Antwort.

Halid stand, ohne ein Wort zu sagen, auf und ging quer über das Zimmer zu einem der Schränke, den er öffnete. Die spiegelnde Glasscheibe warf im Drehen einen hellen Blitz über den Teppich. Der Derwisch kam mit zwei Gegenständen in der Hand zurück, die er auf einen der niedrigen Tische legte und mit dem Tisch zusammen näher trug.

Vorsichtig stellte er das Ganze zwischen die Sessel. Dann schob er den seinen näher an den Haidar Rescheds heran, der unverstehend den Handlungen des anderen zusah. Auf dem runden niedrigen Tischchen lagen die Sachen, die Halid dem Schranke entnommen hatte. Eine konische Hülse aus dunklem Metall und ein unregelmäßig geformter Stein mit polierter Oberfläche, etwas größer als eine Hand, der er auch in der Form ähnelte.

Nachdem Halid das Tischchen für einen, Haidar Resched noch unbekannten Zweck zurechtgerückt hatte, nahm er die Metallhülse und verdeckte damit die Lampe, so daß das Zimmer vollständig verdunkelt wurde. Erst nach einigen Augenblicken bemerkte Haidar Resched, daß von dem durch die Schreibtischplatte zurückgeworfenen, zerstreuten Licht eine unbestimmte Helle das Zimmer erfüllte. Als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse der Dinge unschwer erkennen. Er sah, wie Halid den Stein auf dem Tischchen auf die schmale Seite stellte, so daß er aufrecht stand. Dann öffnete Halid, wie es schien, einen Schieber in der Lampenhülse, so daß ein schmaler Lichtstrahl ins Zimmer drang, ähnlich dem Lichtkegel eines Scheinwerfers. Nach einigen Drehungen der Hülse und einer leichten Veränderung in der Stellung des Steines lag dessen polierte Fläche hell beleuchtet und glänzend, während alles andere im Halbdunkel blieb.

Während dieser Vorbereitungen war kein Wort gefallen. Halid nahm seinen Platz wieder ein. Den Arm des jetzt nahe neben ihm Sitzenden mit der Hand berührend, sagte er ruhig, und mit seiner gewöhnlichen Stimme:

»Vergegenwärtige dir das Gesicht und die Gestalt dieser Halideh, von der du mir sprachst, und blicke dabei auf die beleuchtete Fläche des Steines, als ob du suchtest, ihr Bild dort zu erkennen. Je nach der Stärke der Konzentration deines Geistes wird das Bild sich dort schneller oder langsamer, schärfer oder schwächer zeigen, so daß auch ich es erkennen kann. Sobald ich es aber erkenne, werden sich auch die Gegenstände zeigen, unter denen das Mädchen sich in dem Augenblick befindet, in dem dein Gedächtnis sein Bild hier hervorruft, und dann ist deine Aufgabe beendet.«

Ohne ein Wort zu antworten, lehnte Haidar Resched sich ein wenig vor und begann auf der stumm leuchtenden Oberfläche des Steines die Gestalt Halidehs zu suchen.

Zuerst schienen leichte Schatten über die dunkel glänzende Fläche zu wehen, in Wellen und Kreisen, die sich nach und nach verdichteten und länger haften blieben. Endlich glaubte er einen Teil des Gesichtes Halidehs zu erkennen, einen Teil ihrer Gestalt, doch immer wieder verschwand das Gesehene wie ein in fließendem Wasser sich spiegelndes Bild. Aber Haidar Resched hatte vollstes Vertrauen in die Worte des Obersten der Derwische in Konstantinopel. Er fuhr ruhig fort, das Bild Halidehs auf der glatten Fläche des Steines zu suchen, und bald merkte er, daß stets nur der Teil zum Vorschein kam, an den er im Augenblick dachte. Daher bemühte er sich, ihre Gestalt wie aus einiger Entfernung gesehen sich vorzustellen, und plötzlich gelang es ihm, sie ganz zu erblicken, in scharfen Umrissen, aber klein und entfernt. Auch dieses Bild schwand wieder, doch er glaubte nun, auf dem richtigen Wege zu sein und zwang seine Erinnerung, ihm das Mädchen von neuem als auf ihn zukommend zu zeigen. Plötzlich erschien es wie plastisch auf der dunkel glänzenden Fläche und blieb. Jede ihrer Bewegungen war erkennbar. Langsam kam sie näher und näher, so daß ihre Züge immer klarer und deutlicher hervortraten. Fasziniert betrachtete Haidar Resched die leuchtenden Linien, die die Gestalt Halidehs ausmachten, und auf einmal sah er, wie sie sich veränderten.

Nicht mehr war es die Gestalt Halidehs, so wie sie in seiner Erinnerung haftete, sondern Halideh in ihrer Verkleidung als Blumenverkäuferin. Ein buntes, schleierartiges Tuch bedeckte ihr Haar. Das leichte, einfache Kleid nach europäischem Schnitt ließ ihr Hals und Arme frei. Eine weiße Schürze fiel ihr bis über die Knie. Sie stand im vollen Licht einer elektrischen Lampe. Fremde Menschen, die Haidar Resched nie gesehen hatte, gingen neben und hinter ihr auf und ab. Am Arm trug sie einen ovalen Korb mit Blumen. Hin und wieder sprach sie einen der Vorübergehenden an, hielt ihm die Blumen hin, heftete ihm einen Zweig ins Knopfloch, gab ihm einen Strauß, und Haidar Resched sah, wie sie Geld in Empfang nahm, Geld herausgab, die Hand in die Tasche ihrer Schürze steckte.

Plötzlich erlosch das elektrische Licht. Halideh stand im Dunkeln. Hinter ihr leuchtete schwach ein Streifen Lichts, in dem Gestalten sich bewegten. Dann ging auch Halideh, Haidar Resched gut erkennbar, den verdunkelten Gang hinab, der im Innern des »Pavilion« sein mußte. Hin und wieder öffnete sie einen Vorhang, der für kurze Zeit einen hellen Fleck vor ihr aufspringen ließ und sie klar beleuchtete: die Eingänge der Logen, wo sie ihre Blumen anbot. Endlich blieb sie stehen. Eine andere Gestalt trat zu ihr, mit der sie angelegentlich sprach. Ein Junge im Fes. Sie gab ihm Geld, und der Junge verschwand. Sie selbst schritt den Gang zurück, schlug einen Vorhang zur Seite und stand, hell von einer über ihr hängenden Lampe beleuchtet, vor einer Treppe, die sie langsam hinabschritt. Sie blickte aufmerksam um sich, doch sie schien allein. Haidar Resched konnte die Falten des Vorhanges, die abgenutzten Stellen desselben, vor dem sie stand, das Holz der Treppenstufen, unterscheiden.

Plötzlich verschwand das Bild wie hinter einer Wolke. Die Umrisse zerflossen, wogten einen Augenblick ineinander, und die dunkle Fläche des Steines lag wieder glatt und glänzend, leer vor ihm.

»Ich danke dir. Dein Gedächtnis und deine Konzentrationskraft sind ungewöhnlich. Nur wenigen gelingt es, die Bilder ihrer Erinnerung so klar zu denken, und selten sind die, die zwischen Erinnerung und dem gegenwärtigen Geschehen Fäden zu binden verstehen.«

»Das habe ich auch nicht getan. Was ich sah, überraschte mich selbst«, antwortete Haidar Resched leise.

»Es ist gut, mein Freund. Ich danke dir. Wir haben gesehen, wo Halideh sich soeben befindet, und daß sie anscheinend an der Arbeit ist. Kennst du den Ort, wo wir sie sahen?«

»Es muß das Innere der › Pavilion Bar‹, einer Unterhaltungsstätte in Pera, gewesen sein, wo sie, als Russin auftretend, Blumen verkauft.«

»Ich dachte mir das. Ich kenne den Ort. Nun lehne dich zurück, und ich werde das Bild, das du mir gezeigt hast, benutzen und sehen, wie die Zukunft Halidehs sich gestaltet. Folge den Bildern, die die Fläche des Steines spiegeln wird.«

Halid lehnte sich zurück und legte die Hand wieder leicht auf den Arm Haidar Rescheds.

Eine Zeitlang blieb der Stein leer und glänzend. Trotz des leichten Schimmers, der das Zimmer erfüllte, schien er die einzig leuchtende Fläche. Plötzlich sah Haidar, wie Halideh von neuem auftauchte. Diesmal stand sie aufrecht, im Dunkeln, und trug türkische Frauenkleidung. Hinter ihr leuchtete ein schwaches Licht. Die Umrisse wurden schärfer und schärfer, und Haidar unterschied die Form eines Bootes, das, nach dem es umgebenden schnellfließenden Wasser zu schließen, eilig durch die Wellen glitt. Es schwankte leise. Halideh schien angestrengt in die Dunkelheit zu spähen. Dann schwankte das Boot auf einmal heftig. Halideh fiel zu Boden, sprang aber sogleich wieder auf, und das Bild war verschwunden. Dunkel leuchtete der glatte Stein. Alles war still. Nur die Lampe summte auf dem Schreibtisch.

Jetzt bildete sich von neuem ein heller Fleck auf der polierten Fläche. Klar und deutlich trat das Gesicht Halidehs hervor, hart von der Sonne beschienen. Sie trug einen schwarzen Kalpak, und ihre am Boden liegende Gestalt, die von den Schultern im Schatten war, zeigte die Kleidung eines Offiziers der nationalen Truppen. Vor ihr streckte sich eine lange, gerade, abfallende Straße. Sie wandte den Kopf und hob ein Fernglas vor die Augen. Aus der Straße zeigte sich in der Ferne ein dunkler Punkt der rasch näher kam. Er wuchs und wuchs und nahm bald das ganze beleuchtete Feld des weißen Straßenbandes ein: ein Kraftwagen, der in voller Fahrt herannahte. Halideh legte das Glas zur Seite und hob die Hand. Während sie aufsprang, verschwand das Bild wie in einem Nebel, Staubwolken schienen über die Fläche des Steines zu gleiten. Doch schon begann ein neues Bild Gestalt anzunehmen.

Eine Quelle warf blitzende Lichter unter Bäumen. Halideh lag am Ufer mit mehreren Männern. Von einer Seite kam helles Licht. Plötzlich erhob sich Halideh hastig, erschreckt. Von der dunklen Seite kamen andere Männer auf sie zu und standen still. Ein Gespräch schien im Gange. Dann gingen die aus dem Dunkel getretenen Männer an ihr vorbei und verschwanden. Bärtige Gestalten. Halideh setzte sich wieder auf den Boden. Plötzlich leuchtete es hinter ihr wie von Schüssen auf. Sie warf sich empor, rang mit jemandem und lag still. Das Licht erlosch, und der Stein lag dunkel glänzend, stumm.

»Sie ist tot. Das ist ihr Ende!« fuhr es Haidar Resched durch den Sinn, der sich vorbeugte, wie um besser zu sehen.

Ein Druck auf seinen Arm rief ihn in die Wirklichkeit zurück.

Ein neues Bild zeigte sich. Das Gesicht Halidehs trat wie aus einem Schleier hervor. Dann zeichneten sich die Umrisse ihrer ganzen Gestalt, vollständig nackt, gegen einen dunklen Hintergrund ab. Vor ihr saßen eine Menge Männer auf dem Boden, wie Richter. Ein Schein, wie von einem brennenden Feuer, übergoß das Bild mit zitternden Lichtern. Unsichtbar brannte irgendwo eine Laterne. Halideh schien zu sprechen. Ihre Lippen bewegten sich. Sie hob die Arme und trat einen Schritt vorwärts, und das Bild versank, um sofort einem neuen Platz zu geben.

Halideh lag unter weit auseinander stehenden Bäumen, die ganz ohne Unterholz standen. Sie schrieb. Vor ihr lagen Blätter weißen Papiers. Männer, Soldaten kamen und gingen. Hin und wieder schien sie einen Befehl zu geben. Es war ganz hell um sie her. Sonnenstrahlen lagen auf dem mit vertrocknetem Gras bedeckten Boden. Nach einiger Zeit stand sie auf. Ein Pferd wurde vorgeführt, und sie schwang sich in den Sattel. Sie ritt durch die Bäume davon, und mit ihr verging das Bild langsam.

»Das waren die Pläne. Sicherlich waren das die Pläne. Sie lebt. Sie wird sie dem Pascha überbringen«, dachte Haidar Resched, wie erleichtert aufatmend, und lehnte sich zurück, den Blick gespannt auf die Fläche des Steines gerichtet.

Einen Augenblick sah er das Gesicht Halidehs von neuem, den schwarzen Kalpak auf dem Kopf. Sie schien zu stehen. Doch ehe das Bild noch Form und Umrisse angenommen hatte, stand Halid plötzlich auf, griff nach dem Stein und legte ihn ins Dunkle auf die Platte des Tisches.

»Es ist genug«, sagte er leise. »Wir wissen genug. Sie wird ihr Ziel erreichen. Unser Ziel.«

Vorsichtig nahm er die Metallhülse von der Lampe und trug sie, zusammen mit dem Steine, in den noch immer offen stehenden Schrank zurück, den er behutsam schloß. Dann kam er an seinen Platz zurück und setzte sich. Sein Gesicht war bleich, und leichte Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Ein seidenes Tuch hervorziehend, wischte er sie ab.

»Und was ist es, das wir gesehen haben?« fragte Haidar Resched.

»Die Zukunft. Die Zukunft Halidehs, die meinen Namen trägt. Wie du siehst, wird sie am Leben bleiben und ihr Ziel erreichen. Sie wird kaum meiner Hilfe bedürfen. Der Fürst des Geistes ist mit ihr. Ihr Herz ist rein und ohne Selbstsucht. Daher wird es ihr gelingen. Meine Gedanken werden oft bei ihr weilen. Vielleicht, daß sie ihr ihre Aufgabe erleichtern.«

Halid hatte leise und wie ermüdet gesprochen. Er saß ganz still in seinem Sessel, die Hände in den Schoß seines weiten Gewandes gelegt.

Die Seltsamkeit des Gesehenen berührte Haidar Resched nicht weiter. Er wußte, daß die Derwische über geheimnisvolle Kraft verfügten, daß sie Kenntnisse besaßen, die sonst niemandem zugänglich sind, und daß sie mit einem stillen Lächeln die gerühmte Wissenschaft des Westens ablehnen, wenn sie mit ihren rohen Meßinstrumenten, ihren Tiegeln und Retorten und Formeln Dinge untersuchen will, die jenseits und außerhalb des materiell Erkennbaren liegen.

Was er gesehen hatte, nahm Haidar als selbstverständliche Tatsache hin.

»Ich danke dir in ihrem Namen, Dschelebi. Und morgen abend um neun Uhr wirst du Sadik Einlaß in die Wohnung der Tänzerin verschaffen!«

»Meine Brüder werden ihn dort erwarten. Es wird alles für ihn bereit sein. Sollte ich dir Mitteilungen zu machen haben, so werde ich dir im Laufe des Nachmittags Nachricht nach Ejub senden«, antwortete der Derwisch ruhig.

»Dann gestatte mir, mich entfernen zu dürfen. Schon über Gebühr habe ich deine Zeit in Anspruch genommen«, und Haidar Resched stand auf.

Halid klatschte leicht in die Hände. Ein Diener erschien.

»Ich danke dir, daß du mich aufgesucht hast. Du kannst stets auf meine Hilfe zählen«, antwortete er, dem anderen die Hand reichend. Er stand auf und ging mit Haidar Resched bis zur Tür, deren Vorhang der Diener emporgehoben hatte.

»Lebe wohl, mein Freund. Möge der Schatten Gottes dich behüten und sein Frieden dich geleiten.«

Haidar Resched verneigte sich vor der hohen Gestalt Halids und berührte grüßend Brust und Stirn mit der Hand.

Dann verließ er das Zimmer und folgte dem Diener, der ihn zur Haustür führte.

Dunkel und still lag die Straße. Nur an der Ecke brannte eine Laterne. Nichts rührte sich. Schweigend lagen die Häuser Stambuls in der Nacht.

In Gedanken versunken verfolgte Haidar Resched seinen Weg. Er hatte erreicht, was er gehofft hatte. Morgen würden die Pläne der griechischen Stellungen in türkischen Händen sein. Damit war der Sieg entschieden, wenigstens waren damit die Leben Tausender türkischer Soldaten gerettet.

»Und Halideh wird ihr Ziel erreichen! Anatolien wird frei sein«, dachte er, und schritt schneller aus.


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