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Als Pyrian am andern Morgen früh reisefertig aus seiner Thüre wollte, stieß er auf einen Mann, der seiner zu warten schien. Der hatte ein Zettelchen in der Hand, dasselbe Zettelchen, welches der Tuberkelburgherr schon zu wiederholten Malen an die Klingel hatte binden lassen, die zu des nunmehr seligen Beißerle hoher Wohnung reichte. Dieser Mann war Balthasar und also hub er an zu sprechen:
»Mein Herr, Sie haben ohne uns ein Sterbenswörtlein zu sagen, Miethe gekündigt; warum das? Beißerle ist todt aber Herr Vitus Weber lebt noch und wir haben triftige Gründe, da droben vor der Hand noch wohnen zu bleiben, vorausgesetzt, daß Sie nicht noch triftigere Gründe haben, uns hinaus zu schaffen. Jedenfalls aber ist die Wohnung bis Michaelis die unsere und von »sofort zu beziehen«, wie da aus dem Zettelchen zu lesen steht, kann keine Rede sein.«
190 »Was geht denn das Alles Sie an, wer sind Sie, was berechtigt Sie? –«
Balthasar unterbrach des Schmiedmeisters Rede, indem er ihm mit gravitätischer Ruhe die polizeiliche Beglaubigung, daß er in Veits Diensten stünde, unter die Nase hielt.
Pyrian im Vollgefühl seiner momentan den Staat und die bürgerliche Gesellschaft vertretenden Wichtigkeit ergriff die Gelegenheit, seine persönliche Bedeutung, wär's auch nur einem höchst zweifelhaften Menschen gegenüber in's Licht zu setzen und entgegnete achselzuckend und stirnrunzelnd:
»Ich kann mir jetzt mit derartigen Lappalien die kostbare Zeit nicht verderben lassen, ich muß zum Könige reisen, Herr Veit mag meinethalben bleiben wo er will, ich kann mich jetzt nicht damit befassen, denn wie gesagt, ich muß zu Sr. Majestät.«
Mit einer gnädig herablassenden Handbewegung ließ er den schmunzelnden Rothkopf stehen, der sofort den Ankündigungszettel in die nächste Gosse trat. Pyrian aber kam nicht weit, ohne angehalten zu werden. Noch ehe er die harrende Droschke erreichte, nahm ihn einer seiner geschäftigsten Freunde am Arm, versicherte ihn seines Mitgefühls und seiner Entrüstung und vertraute ihm ein entrüstendes Geheimniß. Den Umtrieben seiner Feinde war es, gestützt auf sein gestriges 191 Versäumniß bei der Parade, gelungen, die überwiegende Mehrzahl der Bürgermilizgrenadiere dahin zu stimmen, daß sie, undankbar wie alle Menschen, den stolzen Pyrian trotz seiner vielen Verdienste und staunenswerthen Aufopferungen für die grenadiererische Sache, bewegen wollten, sich von seinem Posten zurückzuziehen und höheren Ortes um seine Versetzung en retraite einzukommen. Bereits sei sein Nachfolger in Aussicht gestellt, Herr Pirzelberger, ein fetter Wachszieher, der unter ihm im Commando gestanden und im kriegerischen Wesen nicht den neunten Theil von Pyrians Wissen und Befähigung habe. Aber dieß sei noch nicht genug. Derselbe intrigante Wachszieher habe es durch Ränke und Beschwatzung dahin zu bringen gewußt, daß man ihn, Pirzelbergern, und nicht, wie allgemein gehofft worden, Pyrianen, den Redegewaltigen, imponirenden an die Spitze der Deputation wegen drohender Gewerbsbeeinträchtigung stellen, jener also die entscheidende Ansprache an die Majestät halten, und dafür das Lob in den Zeitungen, den Dank der Mitbürger und endlich am nächsten Neujahrstag den sicheren Orden erhalten werde.
Der geschäftige Schwätzer gieng aufathmend von dannen und Pyrian, als er in den Wagen gestiegen war, hob drohend die Faust gegen die höchst gelegene 192 Mansarde der Tuberkelburg, zwischen den grollenden Zähnen die Worte zerknirschend:
»Schändlicher, du hast mein strategisches Geheimniß an die Demagogen verschleppt, du hast mein alterndes ehrwürdiges Haupt um den schönsten Schnurrbart in Linie und Bürgerwehr, um den Friseur der Garde gebracht, du hast mir die Tochter verführt zu hirnwüthiger Liebe und Widersetzlichkeit, du hast meinen Söhnen zeughausstürmerische blutrothrepublikanische Pestgrundsätze in die jungen widerstandslosen Herzen gesäet, du bist schuld daran, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben zu spät zu einer Parade gekommen bin, du bist schuld, daß ich zum en retraite gezwungen, daß ich um die Rede an den Fürsten, um den Dank des Vaterlandes, um den längst verdienten Orden gebracht werde. Ei du bist ja mein Unglück in leibhaftiger Person, du schnöder gottvergessener Bauernjunge! und könnt' ich dich wegtilgen aus den Athmenden, wie man einen Floh tilgt, der einem den Schlaf stört, unwillig, erbarmungslos, grausam und eiligst, ich thät' es mit wahrer Wollust und striche dann einen neuen Festtag an in meinem Kalender! –«
Während Pyrian in solchen Gedanken nach dem Bahnhof und dann auf der Eisenbahn dem Gebirge zufuhr, bewegte sich Beißerle's Sargwagen langsam 193 und traurig die steile Straße hinab und zum Thor hinaus auf den stillen Friedhof.
Es hatte kein Mensch von dem Ableben des alten Schulmannes Notiz genommen; auch Veit wußte noch nicht darum, da er noch immer nicht zurückgekehrt war, und so gieng Niemand hinter dem Sarge her, als der rothhaarige Balthasar, der ihn zum Tode geängstigt, der ihm die Augen zugedrückt auf der Landstraße und der sich's nun nicht hatte nehmen lassen, als treuer Diener Veits des Abwesenden Stelle hinter dem Sarge seines Lehrers zu vertreten.
Veit selbst kam erst spät am Nachmittag verstört und bleich in seiner Mansarde an. Als er da in kurzen Worten des Alten Tod und Begräbniß erfahren, schlich ein ödes bitteres Gefühl von Vereinsamung über ihn; das letzte Band, was ihn an diese Stadt gekettet, war jäh und unversehens zerrissen.
Er eilte hinaus auf den Gottesacker, um vom Sarge seines Lehrers Abschied zu nehmen.
Da stand er neben den aufgeworfenen Schollen und sah den Todtengräbern zu, die gleichgültig ihr Pfeifchen rauchten, während sie handwerksmäßig die Schaufeln über der Grube leerten und jeder Wurf mit hohlem Wiederhall aus der Tiefe antwortete.
Ein Glöcklein tönte über die Steine und Kreuze 194 her, es war Feierabend. Die Todtengräber warfen ihre Schaufeln hin und giengen davon.
Veit nahm eine Hand voll Erde und streute sie über dem Grab aus. »Friede Deiner Asche!« rief er, »Friede, Friede! Die Menschen nannten Dich böse, habsüchtig und geizig; mir warst Du nur streng und weise. Ich segne Dein Andenken, segne es dreifach, denn nimmer hätt' ich gedacht, daß Dein Scheiden von der Welt mich so einsam, so arm, so elend zurücklassen würde. Friede, Friede, Friede Deiner Asche!«
Es war Alles so feierlich, so sommerabendlich, so kirchhofsstille um ihn her. Zuweilen rieselte ein Steinchen von den aufgeworfenen Schollen in das Grab hinunter, erst langsam, dann immer schneller, bis es am Rand aufprallte und im Sprung in die Grube hinabfiel.
Der Wind schob leise die Blätter der Bäume übereinander. Es dunkelte bereits gar mächtig. Draußen auf einem Hügel hinter der Friedhofsmauer sah man drei frische blühende Bauernmädchen, ihre schweren Bütten auf dem Rücken, herabsteigen. Als sie hinter der Mauer verschwunden, hörte man sie noch munter plaudern und auf Einmal sangen sie selbdritt in treuherziger einfacher Melodie eine Strophe. 195
Ueber's Jahr um gleiche Zeit,
Wenn man wieder Trauben schneidt,
Komm' ich von der Höh zu Thal;
Grüß Dich Gott viel Tausendmal!
Trauter Schatz, bist Du bereit?
Ueber's Jahr um gleiche Zeit.
Vitus schlug die Hände vor's Gesicht, es war ihm so heiß, so heiß um das Herz. Er horchte – aber er hörte nichts als den resoluten Tritt der festen Bauernsohlen, unter denen der Kies ächzte. Er hätte aufschreien mögen, da setzten die drei frischen Stimmen von Neuem ein und sangen eine zweite Strophe, diese etwas langsamer und ausdrucksvoller als die vorige.
Ueber's Jahr um gleiche Zeit
Ach weiß Gott, wo weit wo weit
Ich verthan mein Gut und Hab
Und der Mond scheint auf mein Grab,
Weil ein andere Dich gefreit
Ueber's Jahr um gleiche Zeit!
Da sprang Veit auf, ein plötzlicher Entschluß schien sich seines gequälten Herzens zu erbarmen. Er eilte der Stadt zu und gerade als es neun Uhr schlug von allen Thürmen, langte er vor der Tuberkelburg an.
Vielleicht, daß sie dennoch kommt? sprach er laut vor sich hin und heftete die Augen auf die verschlossene Thüre des Hauses.
Da ward es plötzlich Licht im ersten Stock hinter den Fenstern der Wohnstube; ein Schatten bewegte sich 196 hinter den Vorhängen. Es war Fanny, die auf den Harrenden hinabsah.
Leise gieng das Fenster so weit auf, um eine schmale Hand hindurchzulassen, und das Pflaster der steilen Straße gab nahe vor Veits Füßen einen hellen Klang, wie wenn man ein Geldstück herabgeworfen hätte.
Der Mann bückte sich. Es war der Ring seiner Mutter, den er dereinst in seliger Stunde an Fanny's bebende Hand gesteckt. –
Veit stieg die Höhe der Tuberkelburg hinan, packte seinen alten Tornister und nahm all das Wenige mit sich, was von tragbarer Habe sein eigen war. Dann schrieb er an Balthasar folgende Zeilen:
»Sie sind nach kurzer Dienstzeit schon wieder entlassen. Ich reise noch in heutiger Nacht und wir sehen uns wahrscheinlich in diesem Leben nicht wieder. Bleiben Sie in der Wohnung, bis sie den Erben des Professors Beißerle an Büchern und Gerümpel überantwortet haben, was derselbe in seiner Wohnung hinterlassen hat. Für erwiesene Anhänglichkeit sowie für manchen guten Wink aus Ihrer Lebensgeschichte danke ich Ihnen beßtens, ich wünsche Ihnen alles Glück dafür. Ich selbst gehe nordwärts; was ich an Geld und Geldeswerth habe, reicht bis Rendsburg, wo ich Dienste gegen die Dänen nehmen werde. Die Härte schwerer Mannesarbeit ist mir nicht fremd. Ich werde als 197 Gemeiner womöglich bei der Artillerie in die regulären Truppen der Herzogthümer treten. Gott befohlen und leben Sie wohl.«
Diesen Zettel heftete er mit einem Nagel auf den Tisch, wo er dem heimkehrenden Bedienten auffallen mußte. Dann stieg er eilig die Leitern und Treppen hinab und gieng ohne umzusehen die steile gewundene Straße fort.
An der Ecke hielt er inne; ein Thränlein lief ihm über die Backe, er zerdrückte es und wandte das Haupt. Da lag es zu höchst auf der Straße das Haus Pyrian, eine finstere Steinmasse, die sich vom klaren Nachthimmel wirksam abhob. Kein Licht schimmerte hinter den stillen Fenstern, aber über dem Giebel der Tuberkelburg stand milde glänzend der Mond und leuchtete dem späten Wanderer auf den einsamen Weg. 198