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Auch Veit war aller Freuden voll und konnte lange keinen Schlaf finden, als er nach jenem Abende seine einsame Kammer über vier Stiegen, drei Leitern und zwei Seilen erklommen hatte. Er lag im Fenster der Dachlucke und sah hinaus über die alten Giebel, die unter ihm lagen; zackige langgestreifte Wolken flogen langsamen Zuges um den Mond und warfen fleckige Schatten auf die bräunlich glänzenden schiefen Flächen. Die Wetterhähne wandten sich mit schrillem Knarren bald nach rechts bald nach links. Ein einsamer Kater schlich mit wellenförmigen Rückenbewegungen laut miauend über die Schindeln und ab und zu rollte ein losgegangenes Steinchen, mühsam durch die Fugen raschelnd, über's lange Dach bis in die zinkene Regenrinne, die leisen Klang gab.
»Ewig! ewig!« dachte Vitus in Einem fort und sprach das Wort mit leise bebenden Lippen in die Nacht hinaus und heilige Schauer durchrieselten ihm Leib und Seele. »Ewig! du Wort der Gläubigen, sonst sahst du mich an wie eine drohende Sphynx, die mir die Krallen an's Herzfleisch legen wollte, heute möcht' ich 27 untergehen in deiner wollüstigen Umarmung. Da ich ein kleiner Knabe war und zu denken anfing, da fragt' ich, da quält' ich meinen Wohlthäter, heiße bittere Thränen in den kindischen Augen, er sollte mir erklären, was die Ewigkeit sei und was denn man ewig hieße. Und er nannte mir die Zeit ohne Anfang und ohne Ende, die Zeit in der Gottes Wesen sei, und er meinte mich damit hoch zu erfreuen, wenn er mir sagte, daß auch die Seeligen, die guten Menschen nach dem Tode ein ewiges Leben führen würden, eine Glückseligkeit genießen, die ohne Ende, eine Zeit hinbringen, die ohne Grenzen sein würde. Ich fürchtete mich damals vor dem Aufhören, vor dem Tode, vor der Finsterniß und ich griff verlangend nach dem Dogma der lichten Ewigkeit, wie nach Rettung und Segen. Aber ich griff danach in kindischer Einfalt, ich griff danach wie die Säuglinge auf der Mutter Knieen mit winzigen ungelenken Fingerchen in die Luft greifen um nach den Sternen zu langen, die unermeßlich, unerreichbar über ihren stieren Augen am Sommernachthimmel funkeln. Und immer wieder griff ich nach dem unfaßbaren Gedanken einer Zeit ohne Ende; ich sah in die Luft mit brennenden Augen, ich sah eine Linie die immer lief und lief und die man nicht absehen konnte. Odemlos rannte sich mein Fassungsvermögen auf dieser unendlichen Linie. Tausend Jahre, eine Million Jahre 28 das hätte mir Gnade gedäucht, aber ohn' Ende! das wollte nicht in meinen kleinen Kopf. Eine überlange Pein, meint' ich, müßte durch Gewohnheit erträglich, eine überlang währende Glückseligkeit müßte widerwärtig werden – aber was ist das »ohne Ende! ewig!?« Ich sah in einen Abgrund der in einen Abgrund mündete, und dieser wieder in einen und so weiter, immer weiter bodenlose Tiefe und mir schwindelte und ich begann einen Haß gegen diese unmögliche in wirbelnden Kreisen sich in's Unabsehbare verlierende Vorstellung zu fassen, die keine Vorstellung mehr war; mir wurde stets ein peinigendes Gefühl leiblichen Unbehagens, so oft einer in meiner Gegenwart die Ewigkeit nannte. Mir war's alsdann immer als zöge mir einer mit heimtückischem Handumkehren den Boden unter den Sohlen weg und ich müßte hinabstürzen tiefer und immer tiefer, so wie man oft im Traum zu fallen meint.
»Als ich älter ward, da verlacht' ich es als kindische Thorheit, über unfaßbaren Gedanken sein armes Hirn zu zermartern und Fragen an sich und die Natur und die Wissenschaften zu stellen, für die menschliches Fleisch und Blut keine Antwort finden und hören kann. Ich lächelte mitleidig wo ich früher in Thränen mich gequält.
»Nun aber wühl' ich mich mit innigem Behagen in dieß gemiedene Wort, denn was kein Verstand in seiner 29 Gier ergrübeln kann, was der Stolz des sicheren Selbstbewußtseins in weiser Beschränkung vermeidet, die Liebe faßt es und versteht es mit einem heißen Pulsschlag ihres Seins und jedes andere Wort der reichen Sprache, es däuchte sie ganz unwürdig, ungenügend, um ihr erklärend zur Seite zu gehn; das eine Wort der wonneschaudernden Unermeßlichkeit allein kann ihres Dauerns, ihrer Tiefe Ausdruck sein. Ewig! Ewig!«
Als Vitus am andern Morgen erwachte, lag er noch immer im offenen Fenster seiner Dachlucke. Der kühle Frühwind spielte ernüchternd in seinem krausen Haar. Eine bunte Fülle wogender Gedanken stürmte an ihn heran. Er warf sich eiligst in seine Kleider, ließ selbst die Bücher unberührt bei Seite liegen und stürmte mit fliegenden Schritten der äußersten Vorstadt zu.
Nach langem Lauf und vielen Umwegen, veranlaßt durch das Absperren der größeren und für den Verkehr bedeutenderen Straßen durch Truppenabtheilungen, gelangte er endlich zu seinen Freunden. Hie und da hatte er an den Straßenecken die Reste eines großgedruckten Plakats mit gestrigem Datum kleben sehen, welches in den schwungvollen Phrasen des damaligen Demagogenjargons das zürnende Volk der Hauptstadt für den nunmehr verwichenen Abend zur Ruhe verwies, den Kriegsplan mit der maskirten Artillerie auf dem großen Platze (wie ihn Pyrian 30 arglosen Wichtigthuens vor dem Instructor seiner Söhne ausgekramt) in den schärfsten Bezeichnungen bekannt gab und für den äußersten Fall den Straßenkampf auf die winkligen Gassen der Vorstadt zu beschränken anordnete.
Vitus lächelte im Stillen über die eitle Geschwätzigkeit Pyrians, aber dann fiel es ihm doch wieder auf, daß er heut anders über den Mann fühlte, als noch vor zwölf kurzen Stunden.
Das Militär war noch nicht in die Vorstadt vorgedrungen. Die Hauptzugänge waren durch Barrikaden gesperrt, bald mächtige festzusammengerammelte Aufrichtungen von Steinen, Erdwerk, Mobilien und Bettsäcken; bald zwecklos des eitlen Randalirens halber übereinander gestützte Trümmer, die auf den ersten Anprall gesprengt werden konnten. Einige wenige Häuser trugen Spuren von Beschädigung, das Pflaster war an den meisten Orten aufgerissen, selten daß man einen oder andern Menschen, den eben sein Geschäfte trieb, über die Straße huschen sah.
Es ward ein schwüler, unheimlicher Tag. Drohend von beiden Seiten gieng das Unwetter empor, aber es kam nicht zum Ausbruch, weil beide Theile ein versöhnliches Nachgeben der höchsten Staatsgewalt erwarten zu müssen meinten. Gegen Abend steigerte sich die Erbitterung durch einzelne Händel und Reibungen. Die Nacht war beängstigend still, alle Welt auf den Beinen, 31 einzelne Straßen in Folge eines Aufrufs des Volks beleuchtet. Die angesehensten Bürger der Residenz hatten sich wiederholt in stattlicher Audienz beim Landesfürsten anmelden lassen, jedoch ohne günstigen Bescheid zu erlangen.
Der andere Morgen endlich brachte Frieden und Freude, eine königliche Proklamation, die weitreichende, durchgreifende Veränderungen verhieß. Wir brauchen unsern Lesern nicht zu erzählen, was sie mehr oder minder selbst erlebt, gesehen oder doch schon gelesen und gehört haben von Augen- und Ohrenzeugen.
Da war des Jubels alles Land voll, und die Hauptstadt schmückte sich des Tags mit Wimpeln und Fahnen und Teppichen und Gewinden und des Nachts mit Lampen und Lichtern. Durch die Straßen wogten festliche Züge brüderlich sich umschlingender, freuderufender, geschmückter Menschen. Feinde, die jahrelang in Zwist und Hader sich gemieden, umarmten sich, im allgemeinen Jubel den persönlichen Groll versenkend; alte Freunde schworen aufs Neue sich Lieb' und Treue zu. Die verrosteten Angeln langjährig verriegelter Gefängnisse thaten sich auf und entließen die Opfer einer heimtückisch rückwärts drängenden Epoche. Männer und Jünglinge übten sich in Waffen und Wehr, die Frauen und Jungfrauen stickten Fahnen und Abzeichen; alle Stände verbrüderten sich, der Haß und Neid der Bekenntnisse verstummte. Der Name des Vaterlands und 32 der Freiheit schwebten wie heiligende Hostien auf den durch sie gereinigten Lippen der aufathmenden Menschen. Alt und Jung, wer nur einen Hut, einen Filz, eine Mütze trug, ließ sich von lieben Händen eine Kokarde aufstecken. Bunt und rührig war die Welt auf deutscher Erde.
Aber einig war sie auch damals nicht und die Kokarden waren nicht von gleichen Farben und Formen, und wer auch nur diejenigen, die gleiche Farbe trugen, hätte zusammenzählen wollen, der hätte gar bald sich auf argen Rechnungsfehlern ertappt.
Da war z. B. Helmtrost von der Schneppe, der selten mehr vom Pferde kam, und dann nur zum Essen oder Schlafen, oder um an aufmerksamen Orten etliche schwerwiegende Aeußerungen von Ausgleichung der Stände und Selbstregierung des Volkes fallen zu lassen. Seine Tracht war ausgesucht wie immer; aber niemals sah man ihn nunmehr ohne ein zierlich auffallend geknüpftes Halsband von rother Seide und ohne eine kleine schwarzrothgoldene Kokarde, welche er, wenn er den Hut abnahm, im Knopfloch seines Oberrockes zu tragen pflegte wie einen Orden. Die Kokarde war so winzig, so nett und doch so in die Augen fallend. Helmtrost hatte sich mehrere Dutzend aus Paris kommen lassen.
Dagegen trugen Pyrians Söhne über dem linken Ohr eine schwarzrothgoldene Kokarde von 33 Suppentellergröße aus Pappendeckel und Glanzpapier. Sie wollten dieselben anfangs sogar bei Tische auf dem Kopf behalten, denn sie wären gute Patrioten, wie sie dem Vater versicherten, trotz ihrer Jugend. Vater Pyrian aber gab jedem ein Paar Ohrfeigen und zwar jedem aus verschiedenen Gründen. Dem Sepperl, dieweil er die Kokarde zuerst auf der rechten Seite seiner Kopfbedeckung getragen, eine Ordonanzwidrigkeit, welche dem Sohne eines königlichen Bürgermilizgrenadierbataillonscommandanten nicht widerfahren sollte; dem Maxerl, sintemalen dieser sich weigerte, an die glanzpapierne Scheibe mit den Reichsfarben zwei Bänderzipfel in den Farben des engeren Vaterlandes, aschegrau-rosenblaß (wenn ich nicht irre) nähen zu lassen. Der alte Pyrian aber war nicht der Mann, Widerspruch zu dulden, zum allerwenigsten am Mittagstisch, und als die beiden Söhnlein mit ihren Holzgewehren, daran ein schwarzer Strich den Lauf versinnbildlichte, des Nachmittags auf den Exercierplatz ihres »Freicorps« marschirten, baumelte einem jeden eine mächtige aschegrau-rosenblasse Bandschleife, und zwar von der linken Seite herab über den weitausgeschlagenen Hemdkragen. Sepperl ließ sie sich munter um die Nase wehen und schielte dazwischen nach dem Haubenende, um sich zu vergewissern, daß die Zeichen des größern und kleinern Vaterlandes auch richtig über dem linken Ohr säßen; Maxerl aber, der 34 hartnäckige, strich sich die Bandzipfel hinter die Ohren und steckte ihre Enden zwischen Kragen und Hals, so daß man ihrer so wenig als möglich gewahr wurde.
Die meisten Schwierigkeiten hatte die Kokardenfrage für den alten Pyrian selbst. Er trug ihrer zweie von gleichem Umfang, von mäßiger Größe, die eine aschegrau-rosenblaß, die andere schwarz-roth-golden. Anfangs hatte er die letztere über die erstere gesetzt, wie es auch auf den Tschakko's, Helmen und Bärenmützen der Linie und Bürgermiliz reglementsmäßig geworden. Aber Pyrian las seit neuester Zeit alle Tage ein in diesem Jahre gegründetes Tagblättlein und alle Woche zwei lokale Witzblätter, welche gleichfalls der frühe Frühling ausgebrütet hatte. Davon ward ihm zuweilen ganz traurig im Herzen und wirblich im Kopf, und er gedieh eines Tags zu der staunenswerthen Ueberzeugung, daß ein Hut ja kein Helm und keine Bärenmütze sei. Alsdann steckte er die deutsche Kokarde um eine Handbreite unter die rosenblaß-aschgraue und glaubte beruhigt und sicher im Gewissen zu sein. Allein er war es nicht, denn er las immer wieder das Tagsblättlein und die satyrischen Wochenschriften und dazu noch eine oder andere der zahllosen illustrirten und nichtillustrirten Flugschriften, wie sie bald in Versen, bald in Prosa Tag für Tag von allen Pressen fielen und das eine stimmte nicht zum andern und jeder schien ihm Recht 35 zu haben, so lang er sich lesend bei dem einen aufhalten mußte. Und dann saß er oft da mit brennendem Kopf und strich sich den Schnurrbart, den sorglich gefärbten, und kehrte in seinen zweifelnden Händen den kokardenbesteckten Hut hin und her und wußte nicht, welche von beiden er zu oberst und welche zu unterst heften sollte.
Was ihm zuweilen alle Lust am Tage und zu Nacht einen Theil des Schlummers raubte, war das viele Redenhören von Wien und Berlin, ja selbst von kleineren Städten als diejenige war, welche ihm und den Seinigen seit Urzeiten her das Bürgerrecht schuldete. Er war gewohnt seit er denken konnte, seine Geburtsstadt für den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, das Bürgermilizgrenadierbataillon als den Mittelpunkt der Stadt und sich als den Mittelpunkt des genannten Grenadierbataillons. Nun sollte das Alles auf Einmal ganz und gar anders sein; man sprach von keiner Stadt mehr als von dem elenden Frankfurt, jener Krämer- und Judenstadt am Main, von der er sich hatte sagen lassen, daß es eitel Sachsenhausens, einer Vorstadt Vorstadt sei, und die nun mit ihrem Vor- und Reichs- und Rumpfparlament Kaisern und Königen von Gottes Gnaden sammt deren angestammten und pflichtschuldigst allemal in Treue ersterbenden Unterthanen alles Recht und Gesetz vorschreiben und zumessen wollte. Und noch mehr 36 als das ergrimmte sein Herz ob den vielen »Freicorps«; wie alle Welt, Künstler und Beamte, Studenten und Arbeiter, Leute, die kein Bürgerrecht hatten, ja solche, die nicht einmal ansäßig waren, mit Schieß- und Seitengewehren durch die Stadt zogen, sich auf den Feldern im Gebrauch der Waffen einübten, als ob sie dazu ein Recht hätten, und dann aus ihrer Bewegung ein Recht nahmen, des Abends über den Durst zu trinken und laute Reden zu halten. Dieß allgemeine Soldatenspielen (wie er es nannte), schadete den Soldaten von Beruf und Pflicht (damit meinte er die Bürgermilizgrenadiere) und wenn jeder Farbenklexer und Federfuchser auch ein Recht hätte zu präsentiren und Sturm zu laufen, was wär' es dann noch für eine sonderliche Auszeichnung für Vollbürger seines Gewichts, in Uniform zu Pferde zu sitzen und »Halt« und »Marsch« zu schreien u. a. m.
Ueber all diesen Gedanken peinigte ihn die Furcht, was denn aus diesem Zustand werden sollte und ob die Guten und das liebe Alte wieder zu Kraft gelangen würden oder am Ende doch die rothe Republik und der Communismus und die gottlose Freigeisterei die Oberhand erringen und allem göttlichen und menschlichen Recht den Garaus machen würden.
In solchem Wirrsal Trost und des bekümmerten Herzens Stärkung war ihm der Miethsmann unter der 37 Blitzstange, Beißerle der Professor, welchem er nun alles zu Liebe that, was sich mit seiner Würde als Mann, Vollbürger und Hausherr vertrug. Dafür mußte ihm jener jedesmal Auskunft geben, wenn er in Zeitungen, Flugblättern, Reden oder Proclamationen auf neue oder unverständliche Worte, historische Beziehungen, staatsrechtliche Deductionen stieß. Solches geschah alle Tage. Pyrian lauerte regelmäßig auf Beißerle's Heimkehr und dieser mußte wieder von guter Gewohnheit lassen und Rede und Antwort stehen, so oft er nach dem Gipfel der Tuberkelburg reisend auf dem Vorplatz des ersten Stockwerkes Halt machte.
Professor Beißerle war bei keinem Freicorps, er gieng seine Wege nach Lehrberuf und Geldgewinn heute wie vordem und trug nur eine Cocarde mäßiger Form in den Farben aschgrau-rosenblaß. Auch diese hatte er sich nicht im Anflug irgend einer patriotisch zu nennenden Stimmung gekauft, sondern er hatte sie einem seiner Schüler in der Lehrstunde »confiscirt« und sie dann über eine schadhaften Stelle seines alten Hutes genäht, um mit ihr das werdende Loch im brüchigen Pappendeckel zu verkleiden.
Beißerle schillerte des Tags über in allen Farben, er fragte alle Leute mit welken Lippen lächelnd und die runzlichen Hände zusammentätschelnd um ihre Ansichten von der Lage der Dinge und dazu rief er mit 38 der immergleichen Miene der Anerkennung und Uebereinstimmung: »Ach, was Sie sagen!« oder: »Meinen Sie wirklich?« oder ähnliches dergleichen, und schließlich äußerte er mit jedesmal gleichmäßig zitternder Stimme seine große Angst über geschehenes oder noch zu fürchtendes Fallen der Papiere, was ihm bei den Besitzenden seiner Bekanntschaft zu dem Ansehen eines so vernünftigen als ehrlichen Mannes verhalf.
So er aber die Schwelle der Tuberkelburg wieder hinter sich hatte, da warf er die lächelnde Miene und die zahmen nichtssagenden Redensarten ab und es war ihm eine Wohlthat, dem rathlosen Meister Pyrian zwischen Thür und Angel die Zeitungsnachrichten auseinanderzusetzen. Er hatte seit der Vergewaltigung durch den erzwungenen Eintritt in den Verein für christliche Bürgerpflicht und Unterthanentreue einen stillnagenden Haß auf seinen Hausherrn. Zwar war der genannte Verein in dem ersten Schrecken der Märztage, nachdem mehreren der thätigen Mitglieder die Fensterscheiben eingeworfen, auf unbestimmte Zeit zur besseren persönlichen Sicherheit aufgelöst worden, aber eben daß er sich noch in der eilften Stunde als jüngstes Mitglied in eine Gesellschaft gesetzt fand, welche so reichlichen Stoff zum Gelächter gegeben hatte, das war es, was er dem groben eingebildeten Schmied nicht verzeihen konnte.
39 So sehr er nun jenen mit der Versicherung tröstete, daß all das revolutionäre, reichsstaatliche, parlamentarische Treiben purer Schwindel und über die längste Zeit seiner möglichen Dauer schon hinaus wäre, so wußte er doch jedesmal ihre Unterhaltung in einer Weise abzubrechen, daß in Pyrians Herzen ein empfindlich wühlender Stachel der Furcht oder des Aergernisses zurückblieb.
Entweder stellte er die Möglichkeit in Aussicht, daß die unterliegende Demokratie sich durch Uebergriffe in Recht und Eigenthum der Gegner selbst um ihre Geltung bringen, oder daß die Regierungen durch gewaltsame Unterdrückung derselben Handel und Wandel auf Jahre hinaus um Vertrauen und Rührigkeit bringen würden, oder er sprach von Kriegs- und Hungersnoth, oder er lachte über die Freicorps, deren Werth und Tüchtigkeit er aber noch weit über die der Bürgermilizgrenadiere, jetzt Nationalgardisten genannt, zu stellen wagte.
Pyrian half sich aber bei häufiger Wiederkehr dieser Fälle mit dem Einwurf, daß Beißerle Scherz triebe; im Grunde sei der Herr Professor, wie schon seiner engeren Landeskokarde abzusehen sei, ein braver rechtschaffener Mann, der es mit der alten Ordnung der Dinge, nicht mit den Freischärlern, Atheisten und Communisten hielt und wenn es Noth thäte, für den Glauben 40 an den alten Gott und die Treue für den angestammten König sein Greisenblut auf dem Altar des Vaterlandes verspritzen würde als Martyrer und Royaliste.
Alsdann aber ward Beißerle gröblich wie alle vorsichtigen Leute, wenn sie nach dauerndem Zwang sich einem sicheren Manne gegenüber finden, und er lispelte so brutal als möglich: »Lassen Sie mich doch mit solchen Dummheiten in Frieden. Was zuvörderst den Glauben anbelangt, so hat der weder Ihres noch meines Martyrerthums von Nöthen; was Sie aber mit Ihrem Royalismus wollen, das verstehe ich nicht. Wenn ein Knecht seinem Herrn, ein Gefolgsmann seinem Herzog, ein Krieger im Mittelalter seinem Fürsten nachläuft und sich für diesen todtschlagen läßt mir nichts Dir nichts und dabei selig wird, so hab' ich das nur zu loben – warum? weil jene Leute sich einmal dazu verpflichtet hatten und es zudem nicht gewußt, wie es denn anders in der Welt hätte sein sollen. Auch den schottischen Baron, der für einen Stuart den Hals bricht, den legitimistischen Marquis, der seinem Bourbon zu Liebe ins Exil geht, begreif' ich, denn einestheils ist ihr eigener Vortheil unauflöslich mit der Herrschaft des von ihnen verfochtenen Geschlechts als Lebensfrage verknüpft und sie verfechten in der des Hauptes nur ihre eigene Sache; anderntheils sind die traditionellen Anschauungen von Standespflicht und Standesehre in altadeligen Familien eingestandener 41 Maßen stärker, heiliger und achtungswerther als die gesunde Vernunft und das Einmaleins. Jeder hat seinen eigenen Geschmack und Vortheil eben. Aber was den Bürger eines modernen Staates, auch den ruhigsten und gemäßigtesten, bewegen sollte, für den angestammten König, wenn dessen Leben und Handlungsweise der Mehrzahl des von ihm mißhandelten oder auch nur nicht genug gewürdigten Volkes nicht entspricht, sein und der Seinigen Blut zu verspritzen, das kann mein beschränkter Unterthanenverstand nicht einsehen.
»Der König eines civilisirten Volkes ist nichts weiter als ein ausgezeichnet gut besoldeter, des lieben Ansehens willen mit außerordentlichen Vorrechten und außerordentlichem Glanz ausgerüsteter Beamter, dessen Stellung von den besitzenden und arbeitenden Klassen im Interesse ihres Wohlseins und ungestörten Prosperirens aufrecht erhalten wird, weil sie die persönliche Verkörperung, das möglichst deutliche und dem allgemeinen Bewußtsein in die Augen springende Fleischgewordensein des Staatsbegriffs für Handel und Wandel, Wissenschaft und Verkehr, überhaupt für Blühen und Gedeihen des gemeinen Wesens für zweckdienlicher halten oder auch für sicherer gegen Gefahr von Außen oder Innen, als wenn dieser Staatsbegriff in einer vielköpfigen Mehrheit zur Erscheinung kommt, deren Bruchtheile weder im besondern noch zusammen sich mit jenem Nimbus umhüllen 42 können, welcher einem monarchischen Einzelnwesen so bequem ansteht. Sobald aber nun ein König meint, daß nicht er um des Staates wegen, sondern der Staat um seinetwegen auf der Welt sei, daß er sogenannte »angestammte« Rechte»von Gottes Gnaden habe, das Volk nach seinem Gutdünken zu maltraitiren oder überhaupt in seinem Gedeihen, ja auch nur in seinem rechtmäßigen Behagen zu stören, so gehört er auf die schnellste Weise bei Seite geschafft und durch einen Mann ganz entgegengesetzter Denkart oder wenn ein solcher nicht zu finden ist, durch eine andere Staatsverfassung ersetzt, welche das Wohl des Volkes nach dessen Bedürfnissen verwirklichen und gegen schädlichen Einfluß bewahren kann. Was heißt »angestammt?« was ist das Recht »von Gottes Gnaden?« Angestammt ist Eigenthum, ererbt wird Grund und Boden, Geld und Gut; wird der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, wird ein Volk von solchen Menschen, wird ein moderner Staat vererbt, wird ihm ein Besitzer oder gar ein Eigenthümer angestammt? die Krone, der Thron wird vererbt, diese sind dem modernen Herrscher aber keine Symbole des Eignens und Besitzens von Seelen und Ländern mehr, sondern nur die Insignien seines Amtes. Er erbt dieß Amt, weil er mit Kopf und Herz und Händen andere für sich arbeiten zu lassen und selbst nur zu repräsentiren, zu imponiren, dem Staatsbegriff zur Veranschaulichung 43 zu dienen hat, und vor Allem, weil man kein Avancement für dieses höchste Amt einrichten kann und sich die Wahlkönige als schlechte Erfindung bestätigt haben. Das ist die Gnade Gottes die solch einem Manne zu Theil wird und die in der Natur der Sache liegende Beschränkung seines Erbrechts.
»Man schreit immer über das Unrecht der Sklaverei. Ja, aber der Sklave ist das Eigenthum des Sklavenhalters, ein Theil seines rechtmäßigen Vermögens, das er durch Geld und Gut oder im Erbgang erworben. Der Unterthan, der Staat ist aber kein Vermögensbestandtheil, kein Eigenthum des Herrschers, sondern umgekehrt ist der Herrscher ein Eigenthum des Staates, welches dieser, sobald es schadhaft oder gar schädlich wird, verbessern und wenn es der Verbesserung nicht mehr fähig ist, verändern, beseitigen und ersetzen kann.
»Würden Sie einen Mann, der eine werthvolle schöne Uhr in seinem Hause stehen hat, wenn er das Triebrad des Werkes, sobald es schadhaft geworden ist, durch ein neues ersetzt, für gottlos halten, weil er sich dadurch an einem Besitzthum vergriffe, was er in allen, auch seinen schlechten Bestandtheilen unangetastet bestehen und somit verkommen und zerfallen lassen müßte. Bewahre, zum Uhrmacher mit dem alten Kasten, frische Räder, frische Züge, frischen Beleg und Politur! 44 Die Uhr soll zeigen, wie viel es geschlagen hat, und das Hauswesen in regelmäßige Zeit und Ordnung abtheilen, auf daß Kind und Kegel und Gesinde und Gäste auf sie sehen mit Freude und Dankbarkeit, obwohl die Uhr selbst nicht Hand anlegen, noch zum Werkzeug dienen kann im häuslichen Betrieb und selbst nur eine Verkörperung eines unsichtbaren Dinges ist, der Zeit.
»Wenn Sie mich aber Herr Pyrian fragen, warum ich dann doch diese Meinung für meine intime Freundschaft aufbewahre und keine tricolore Cocarde statt des alten Aschgrau-rosenblaß aufstecke, so sage ich Ihnen: weil ich zu den neuen Uhrmachern kein Körnchen Vertrauen haben kann, zu den Uhrmachern, die statt die zahnlückigen Räder und zerbrochenen Federn auszuheben und durch neue zu ersetzen, es mit ein wenig mitleidigem Einölen und Ausblasen gethan glauben und sich nun zu beiden Seiten an die Gewichter hängen, und da die Maschine nun erst recht nicht zeigen will, wie viel's geschlagen hat, auf die Räder schimpfen und auf den alten Kasten und auf sich selber, bis sie endlich abfallen und das Maul halten müssen und die angestammte Uhr zeigt und schlägt, was ihr von Gottes Gnaden einfällt.«
– Bei solcherlei Reden schlug Pyrian bald als Hausbesitzer und Familienvater die Hände über dem Kopf 45 zusammen, bald warf er sich als Royalist und Grenadier in die Brust; aber wenn Ehren-Beißerle mit innerlichem Hohnkichern ihm den vor Alter und Arbeit krummen Rücken wenden wollte, sagte er bittenden Ausdrucks in der sonst nur zu commandiren gewohnten Stimme:
»Um Gottes Willen, verbreiten Sie solche teuflischen Redensarten nicht weiter; das könnte eine Seuche anrichten, an der die Gesundesten sterben müßten. O du entsetzliche Zeit, was soll aus der Welt noch werden, wenn die, so man die Gutgesinnten nennt, solcherlei Grundsätze im Busen hehlen. Ich glaube noch alleweil, daß es Ihnen damit nicht Ernst ist und daß Sie mit mir zu scherzen lieben! Je nun, ich bin eben der jüngere Mann. Aber nehmen Sie mir's nicht übel, ich kann Sie niemals mehr in einem Vereine von gesinnungstüchtigen Royalisten zur Mitgliedschaft vorschlagen, so gerne ich auch möchte.«
Da schmunzelte Beißerle und stieg nach und nach hinan, über vier Stiegen, drei Leitern und zwei Seile, wo er dann Vitus, den Schüler, zu finden wußte, der emsige Mühe hatte, den berauschenden Gedanken an Fanny, den stürmischen Hoffnungen und Plänen eines jugendlichen Patriotismus soviel Raum in seinem Wesen abzustreiten, als für das nothwendige Blühen und Gedeihen seiner Studien angebaut werden müßte im Schweiße seines Angesichtes.
46 Veit wußte gar wohl, wenn der Alte gegen Feierabend nach Hause kam, war er von wegen der Trümpfe, die er gegen Vater Pyrian den verhaßten ausgespielt, gar außerordentlich munter und dann gieng das Politisiren weiter, ob Vitus wollte oder nicht. Und er wollte nur allzusehr.
Gegen seinen Schüler hatte Beißerle wie immer die andere Seite seiner Ansichten herauszukehren.
»Was schwarz-roth-gold!« schrie er, »Kinderspiel und Feuerwerk, Dummheit und Faullenzerei! Es ist keine Kunst, sich ein Bändelchen aufstecken, Purzelbäume schlagen, Reden halten, sich betrinken, eingesperrt werden und dann zu lebenslänglichem Katzenjammer bei Wasser und Brod verurtheilt werden. War ich nicht selbst Sprecher bei der Leipziger Burschenschaft, hab ich nicht ein schwarzrothgoldenes Band auf der Brust herumgetragen, so breit wie meine Hand? Ich kenne das und was ich jetzt sehe, es ist nicht viel anders, es sind nur ihrer mehrere. Feuerwerk und Phrase, Schwindel und Commödie.«
»Nein,« rief alsdann Veit rothglühenden Angesichts: »es ist nicht Feuerwerk und Commödie, nicht Bänderspiel und Redensart, um endlich, wenn die Begeisterung verpufft und die Schwärmerei maulmüde geworden ist, unterzukriechen und gut zu thun. Wir haben Errungenschaften, welche wir vordem nie besessen und die wir 47 halten und vertheidigen werden gegen eine Welt von Reaction. Sie selbst, haben Sie nicht zugegeben, daß die deutsche Demokratie erwachsen und erstarkt ist und ein anderes Ansehen hat als in den Tagen Ihrer Jugend.«
»Ei ja ja,« entgegnete der eifernde Präceptor, »damals war die Demokratie ein ungezogenes Kind, das an buntem Kram Freude und Beschäftigung fand, Tag aus Tag ein dasselbe fromme Lied plärrte und dabei sich den Leuten in die Fensterscheiben setzte, bis man ihm die Ruthe gab und Carrenz diktirte. Jetzt hat die deutsche Demokratie ihre Flegeljahre. Einzelne merkwürdig gesunde Ansichten unter einem Wust von überflüssigem Geschnörkel, grobe Manieren dabei und doch eine Menge von Sentimentalität, welche sie, sobald sie Händel angefangen, versöhnlich, zutraulich, arglos, faul, schläfrig und gedankenlos werden läßt. Sie weiß zuweilen, was sie will, niemals aber, wie sie es erreichen muß, vielleicht nicht einmal, wie sie das, was sie im ersten Anlauf genommen, sich bewahren soll. Es wird dießmal mit Ruthe und Carrenz nicht abzuthun sein, denn der Schlingel ist gewachsen; man wird mehr als einen Gendarmen nothwendig haben, um ihn zur Ruhe zu setzen; man wird ihm auch einige Errungenschaften lassen müssen, eine Tabackspfeife und ein Lesecabinet, ungehinderten Wirthshausbesuch u. dgl. m. Aber seine Wünsche von gestern wird er unterwegs verlieren, er 48 wird einsehen, daß er noch wachsen und lernen muß, vieles lernen. Die Demokratie kommt mir vor, wie Sie selber, lieber Vitus. Nachdem sie ihren Lehrer mißhandelt, ist sie aus der Schule gelaufen und treibt sich eine Weile zwischen Wind und Wellen um, bis ihr endlich das Bedürfniß kommt, ihre Studien fortzusetzen.
»Da lernt sie denn eifrig drauf los und probirt nebenbei anzuwenden, was sie gelernt hat. Aber es ist noch nicht genug; die Humaniora hat sie durch, das langt nicht, praktische Wissenschaften müssen herbei, wenn ihre Anwendung auch zuweilen ganz inhuman aussieht.
»Sie brauchen sich deßhalb, lieber Vitus, noch lange für keine symbolische Figur zu halten. Pflegen Sie Fleisch und Blut und lassen Sie ihren Geist nicht rasten, nicht fasten. Dann sind Sie vielleicht ein gestandener Herr, wenn die deutsche Demokratie ins jugendliche Mannesalter tritt, aber lassen Sie sich's bis dahin groß hinter's Ohr geschrieben sein: die Politik ist eine Sache der Männer, eine Arbeit für reife Kraft, denn die Fragen, die sie behandelt, sind Machtfragen. Wer die Macht nicht hat, der muß sie dem andern mit Gewalt wegnehmen oder mit List entschmeicheln, wer aber gemüthlich spielend sich dem andern an die Macht drängt und ihm in versöhnungsbrünstiger Ehrlichkeit begreiflich machen will, daß er, der so viel hat, dem andern doch 49 billigerweise die Hälfte abtreten könne, der wird nichts bezwecken, als daß sich der andere vor ihm in Acht nimmt sorgfältigst, wenn er ihn nicht gar gleich unschädlich machen kann.
»So ist der Lauf der Welt, Vitus. Die Demokratie ist noch keine ausgewachsene Kraft, die Macht ist bei den aschegrau-rosenblassen Leuten verblieben, darum trag' ich alter Mann, der ich den enfant terrible, welchen Ihr als euren Heiland ausschreit, schwerlich mehr in seiner Volljährigkeit erleben werde, der ich außerdem weder Zeit noch Lust fühle, tauben Ohren zu predigen, und dafür bestraft zu werden von denen, welche nun doch vor der Hand die Macht nicht hergeben werden, – darum trag' ich aschegrau-rosenblaß auf meinem gebrechlichen Filzdeckel, auf daß die Leute, wenn der nächst bevorstehende Umschwung sich vollzogen haben wird, sagen können: Sehet, das ist der Professor Beißerle, ein weiser Mann, der sich nicht vom Schwindel bethören lassen und an die heilige Reaction geglaubt hat, als Naturnothwendigkeit. Was ich mir im Stillen denke, das sag' ich nicht; die Leute wollen es auch nicht wissen, aber sie werden Vertrauen in meine Einsicht und Voraussehergaben fassen, mit mir Actiengeschäfte machen und meine Geldspeculationen unterstützen und dann werd' ich endlich meine Schuld für Hellas abbezahlen können. Ich weiß 50 nicht, ob sie von meiner griechischen Schuld genau unterrichtet sind?«
Damit war der alte Geizhals wieder bei seinem Geld und seinen Sorgen, bei seiner Heimtückerei und bei seinem Abendkaffee angelangt. Vitus versicherte ihm, daß er ihm die Geschichte von der griechischen Schuld schon neunhundertneunundneunzig Mal erzählt habe, und verließ den Präceptor traurig und in sich gekehrt.
Er fühlte in seinem Inneren einen heftigen Zwiespalt; die glühende gläubige Begeisterung seiner Jünglingsseele kämpfte für ihre Lichtgestalten gegen die nüchtern wiederholende Verständigkeit, welche ehrerbietig vor gereifter Weisheit und Lebenserfahrung zurückstehen zu müssen meinte. Wahres und Falsches zu trennen, das Gute und Aechte von den Schlacken zu reinigen und rein und leuchtend in sein eigen Gold zu fassen – das vermochte er noch nicht. Er glaubte und zweifelte, er litt; doch unbewußt vollzog sich in ihm, wenn auch langsam und allmählig, die Läuterung, deren sein wildes, vorwärts stürmendes Wesen bedurfte.
Er hatte rüstig mit Hand angelegt, so oft es den Mann zu stehen gegolten, aber auf seinem Hute trug er keine Kokarde und wenn ihn die Leute, die nicht seines Vertrauens waren, um seine Meinungen fragten, so 51 entschuldigte er sich damit, daß er ja noch ein Schuljunge sei, – wenn auch keiner von den jüngsten.
So rein und ganz die Freude gewesen, mit welcher Vitus sich anfangs seiner Wiederkehr in die mit seinen Jahren so wenig als mit seiner ziemlich starken Corpulenz übereinstimmenden Schulbänke eingezwängt hatte, so peinlich lastete jetzt auf seiner ehrgeizigen, thatendurstigen Seele das Bewußtsein, daß der formelle Mangel seiner Bildung ihn von allen selbständigen Aeußerungen ausschloß. In Deutschland wird der Mensch für die Gesellschaft erst durch das Abiturientenexamen geboren.
Während Vitus mitansehen mußte, wie Handwerker, Kaufleute, Techniker und andere, die an Jahren und Bildung weit hinter ihm zurückstanden, ihre Weisheit und Dummheit in Volksversammlungen, bei Wahl- und Vereinsfesten nach Belieben auskramten, mußte er seine geistige Mitwirkung auf Zuhorchen und etwa auf halblaute Bemerkungen für die nächsten Nachbarn beschränken. Einmal hatte er, von den mit Anerkennung überschütteten Thorheiten eines Vorredners gepeinigt, in einer Versammlung, welche man zu Ehren einiger Landtagsdeputirten hielt, sein Stillehalten nicht länger verwinden können, war auf die Rednerbühne getreten und hatte mit einer durch Kenntniß und kühne Begeisterung ausgezeichneten Widerlegung einen Beifall errungen, wie er zu stürmischer Wucht nur in jener Zeit gedieh. Die 52 überwiegende Mehrheit fühlte sich für die von Vitus verfochtene Anficht geneigt, da fragte man nach dem Namen und Stande des Redners –»Gymnasiast,« murmelte gluthübergossenen Angesichts der noch vor kurzem so unerschrockene Sprecher – und der Fluch der Lächerlichkeit hatte sofort den guten Eindruck seines Vortrags und die Begeisterung für die gute Sache vernichtet.
Während man ihn höflichst ersuchte, sich vor die Thüre zu packen, bestieg der Vorredner, ein graumelirter Biedermann, welchen Schicksal und Neigung zu lebenslänglichem Buchhalterdienst in einem Kurzwaarengeschäfte verpflichteten, neuerdings die Rednerbühne, und indem er die Personalia seines Gegners mit ungramatikalischen Redensarten ins Lächerliche zog, regnete es Ausdrücke wie »Bubenweisheit,« »Schuljungenpolitik,« »grasgrüne Frechheit« und Aergeres.
Veit wollte der Thüre immer näher geschoben, entgegnen, aber allgemeiner Unwille verwies ihn zur Ruhe. »Hinaus! hinaus! und schwatzen Sie Ihren Herrn Lehrer an, wenn Sie der Ruthe bedürfen, wir brauchen keine ABCschützen!« ertönte es von allen Seiten; der Gekränkte konnte dem auf der Rednerbühne noch eine Faust weisen und dann war er auf die Straße gesetzt.
Seit jenem Tag umfaßte eine bittere Verstimmung sein ganzes Wesen.
53 Kleinliche Nergeleien verschlimmerten diesen Zustand. So zwang man ihn, obwohl er bald fünfundzwanzig Jahre alt war, den aus der Seemannszeit ihm werth gewordenen Backenbart dem Schulreglement zu opfern und sperrte ihn mehrmals in den Carcer, weil er auf der Straße rauchend befunden worden war und weil er Wirthshäuser besucht hatte.
Auch an ernsterem Leidwesen, seine Verstimmung zu erhalten, fehlte es nicht, je weiter man in den Herbst des »tollen Jahres« gedieh; die Mißgeschicke zu Frankfurt, die gewaltsamen Auftritte zu Wien und Berlin, der Lärm in Baden und der Rheinpfalz huben nach und nach an; von allen Seiten reckten die im Trüben lauernden Anhänger der Reaction nun immer höher und kecker die schadenfrohen Häupter und die rührigen Hände. Pyrian hatte die schwarz-roth-goldene Kokarde schon ganz abgenommen, Beißerle kam jeden Abend mit gesteigerter Schadenfreude nach Hause, breitete mit wackelnden Händen die Zeitung auf den dreibeinigen Tisch aus und kreischte: »Na was hab' ich gesagt, da sehen Sie's, da hören Sie's.«
Veit saß dann oft stundenlang über den jüngsten Blättern, das heiße Haupt in beiden Händen pressend. Während die Hoffnungen der liberalen Parteien noch hoch giengen, sah er den leise tretenden Scharfrichtergeist, der manchem noch unkenntlich, schon hinter all 54 dem Thun und Treiben der jungen ungelenken Freiheit auf Schritt und Tritte lauernd folgte.
All das hatte ihm in Augenblicken die Ruhe des Geistes, die Lust am Studium rauben wollen, aber Veits tüchtiger Seemannswille hatte die widerstrebende Laune im Keim erdrückt. Wenn ihm die Dinge, welche seine Präceptoren Allotria schelten durften, die Stunden des Tages verkürzten, so holte er in den Nächten das Versäumte nach und gegen Ende des Hochsommers, also in nächster Zeit war der bedeutendere, der schriftliche Theil seines Abiturientenexamens zu bestehen und er durfte sich ohne Selbstüberschätzung sagen, daß er den meisten seiner Mitschüler nicht nur an Jahren, sondern auch an Wissen vorausgeeilt sei.
Mit Ueberraschung, mit Rührung hatte er sehen müssen, wie Beißerle, je näher es an das Examen gieng, sein Gebahren gegen ihn veränderte. Der alte Mann brach sich vom Schlaf ab, er vernachlässigte seine übrigen Zöglinge, nur um Veit nicht aus den Augen zu lassen; dann lief er von einem Examinator zum andern, mehrere Male zum Regierungscommissär und wußte sie sämmtlich durch schlaue Reden so günstig für seinen Clienten zu stimmen, daß Veit von Allen mit auszeichnender Achtung behandelt wurde.
Die letzte Woche vor Beginn des Examens hatte Veit auf des weisen Beißerles Rath hin bloß der ruhigen 55 Erholung und geistigen Sammlung geweiht. Er athmete auf, die halbe Last war ja bald abgeschüttelt; das mündliche Examen, was dann nach einer knappen Ferienzeit von drei bis vier Wochen anheben sollte, durfte ihn leicht wie ein Kinderspiel dünken; er war seiner Sache gewiß. So trieb er denn Politik und Geschichte aus Leibeskräften und holte im Hause Pyrian mit behaglicher Freigebigkeit die Lehrstunden nach, welche er während der letzten Vorbereitungen auf seine Prüfungszeit verkürzt hatte.
Ich weiß nicht, was die Söhne des Tuberkelburgherrn unter Veits Leitung in der Zucht der Alten für Fortschritte gemacht; ihr späteres Leben hat ihnen dieß zu erproben wenig Gelegenheit gegeben. Aber für den Lehrer war der Abend der Lichtpunkt des ganzen Tages. Je mehr er sich die übrige Zeit in Eifer und Anstrengung abmühte, je empfindlicher ihm Mißgunst und Trübsal an die Seele gerührt, um so inbrünstiger sehnte er sich dem Augenblick entgegen, der alle peinigenden, kränkenden, niederdrückenden Gedanken wie mit einer erquickenden Springfluth seliger Quellen von seiner Seele spülte. Zerfallen mit dem weltordnenden Geschick, verzweifelnd an seinen Idealen, angeeckelt von kleinlichem Zwang, athemlos in der Hast der Studien, – wenn er des Abends nach Pyrians Klingel die Hand ausstreckte, fuhr alles Trübselige, alles Quälende von 56 ihm aus; ein anderer, ein reiner, unbeirrter Mensch stand er da. Die Stirne hob sich, Freude gieng aus seinen Augen und höher schlug die glückliche Brust.
Wenn Fanny ihm dann die Thüre öffnete, und kaum daß er die Schwelle mit einem Fuß überschritten, lachend, schmollend, glückselig an seinen Hals flog – was war die ganze Welt noch werth?
Nun war die Lehrstunde auch gar anders eingerichtet worden. Mit dem Rücken gegen die Thüre saßen die Pyrianssöhne; hinter ihnen auf einem Antritt am Fenster ihre Schwester am Nähtischchen. Sie stach sich oft in den Finger, dann führte Sie den Finger an den Mund und sah von der Arbeit auf und in des kanzelnden Instructors Angesicht und beide lachten leise und liebevoll und Fanny warf ihm über den Rücken ihrer classisch gequälten Brüder Kußhände und unausgesprochene Worte der Liebe von ungeduldigen Lippen zu. Oder sie neckte ihn durch scheinbare Kälte, indem sie so wenig als thunlich von der Arbeit aufzusehen schien oder dergleichen that, als interessirte sie ein Vorübergehender auf der Straße – aber bald hatten Veit's Augen wieder die ihrigen ertappt, wie sie flüchtig unter der Nadel weg nach ihm schielten. Dann lachten sie wieder im Stillen oder Veit gab dem einen oder dem anderen seiner Schüler einen doppelsinnigen Verweis in lauten 57 Worten, die am Nähtisch besser verstanden wurden als in nächster Nähe des Tintenfasses.
Niemalen waren indessen Maxerl und Sepperl so bis in die tiefste Seele hinein mit einem ihrer Lehrer zufrieden gewesen, wie mit Veiten in dieser Zeit. Das gieng Alles so glatt und friedlich ab, und mit viel mehr Geschwindigkeit, ohne allzu gründliche Wiederholungen; begriffen sie etwas nicht auf's dritte Mal, so gab's noch immer keine Prügel, keine Püffe, sondern der Herr Instructor empfahl ihnen stummes, reifliches Nachdenken, ließ sie eine Viertelstunde sitzen und gieng derweilen hinter ihrem Rücken auf und ab. Wenn sie einmal zu spät oder auch gar nicht zur Stunde kamen, so war die Ruthe nicht empfindlich und durch leichtes Bitten errangen sie die Zusage, daß dem Vater ihr Versäumniß nicht hinterbracht werden würde. Außerdem hielten sie den Lehrer für ihren Gesinnungs- und Parteigenossen, denn sie schwärmten noch immer für die zeughausstürmende, vakanzenverlängernde Revolution, sie haßten allen Zwang, den Schulzwang vor Allem.
»Ihren Herrn Veit« aber, wie sie den Instructor nannten, liebten sie, ja sie schwärmten für ihn und vertheidigten ihn mit zornigem Eifer, so oft ihr Erzeuger demselben etwas Nachtheiliges oder Grießgrämiges nachzubrummen hatte, und das geschah immer mehr und regelmäßiger und hatte einen eigenthümlichen Grund.
58 Das unbedacht ausgesprochene Geheimniß der Stadtcommandantschaft, dessen Bekanntwerden den Maueranschlag an jenem Märzabende veranlaßt hatte, war an Pyrian nicht durch amtliche Würdigung seiner militärischen Würden und Fähigkeiten gelangt. Der Major der Bürgermilizgrenadiere war damals von der Stadtcommandantschaft keineswegs berufen worden, sich mit seinen Getreuen zu den Linientruppen zu versammeln, ihm war blos der Auftrag geworden, das bürgerliche Zeughaus vor einem allenfallsigen Ueberfall des nach Waffen suchenden Volkes zu schützen. Denn die Hut jenes Hauses war nach uralter Bestimmung eine Aufgabe der Bürger selbst. Wie wir wissen, hatte Pyrian bereits durch den Frevel seiner eigenen Söhne erfahren gehabt, daß er nur die ausgeplünderten Räume mit ihren leeren Wänden zu hüten haben würde, eine Aufgabe, der er sich alsdann nichts desto weniger mit aller Strenge des Diensteifers und möglichst kriegerischem Gebahren unterzogen.
Das von ihm aus Großmannssucht und angeborener Wichtigthuerei leichtsinniger Weise erwähnte Mannöver hätte sich indessen in der That und Wahrheit ziemlich anders vollziehen sollen, als er in seinem höchst mangelhaften Verständniß militärischer Pläne ausgedrückt hatte. Aber der Vollzug jener Absicht war durch den Maueranschlag und dessen Folgen gänzlich unmöglich geworden. Und so hatte Pyrian, wenn auch aus trüber Quelle 59 schöpfend und anders, als daß er sich dessen hätte rühmen können, das Schicksal jenes Operationsplanes entschieden.
Die trübe Quelle nun, aus der ihm jene Nachricht wenn auch sehr verstümmelt und verwaschen zugeflossen, war die dienstfertige Geschwätzigkeit seines Bartscheerers gewesen, eines vielbeschäftigten Mannes, welcher, wie Keiner in der Residenz die Schnurr-, Stutz- und Knebelbärte der Menschen in einen ordonanzmäßigen martialischen Zustand versetzen konnte, der schon an sich allein unwiderstehlich imponirend wirkte. Dieser Mann servirte eine große Menge von Oberoffizieren und Adjutanten. Er mochte aus etlichen in der Hast und Bestürzung des Tages verlorenen, halb abgebrochenen, jählings aufgeschnappten Redensarten die Nachricht zusammengedreht haben, welche er dann dem mit allen Ohren lauschenden Bürgergrenadier mit zierlichster Wichtigthuerei um den Bart strich.
Aber ein Barbier von solcher Bedeutung und Geschäftsausdehnung brauchte Kundschaften, auf deren Verschwiegenheit in ähnlichen Fällen er sich besser verlassen konnte als auf seine eigene; er verlor mehrere seiner besten Kunden; der Schmiedmeister schien ihm geradezu verdächtig und ohne Umschweif erklärte er diesem, daß es ihm wegen Kundenandrangs nicht fürder möglich sei, ihn zu bedienen.
Pyrian mußte sich nach einem anderen Barbier 60 umsehen, aber er fand keinen, der also militärisch virtuos gestutzt, gefärbt, gestrichen hätte, wie jener, keinen, der seine soldatische Seele mit solcher Fülle directer Nachrichten erquickt hätte, die sich, ob sie nun gleichgültig, einfältig oder auch geradezu erlogen waren, so geschickt als Zeichen höheren Einverständnisses mit dem Kriegsminister und dem Generalstab, kurz als Zeichen der militärischen Wichtigkeit des Wiedererzählers hätten verwerthen lassen.
Borstiger denn je gieng der Schmied durch die heißen Tage des Achtundvierziger Sommers, der ihm Kummer genug verursachte. Aber sein größtes Aergerniß fand er an Veiten, dem Verräther, der – es war klar – was er im häuslichen Kreise vernommen, an allen Straßenecken der Vorstadt hatte anschlagen lassen. Er haßte diesen cocardelosen Parteigänger, der ihn um den kostbarsten der Bartscheerer gebracht, er haßte ihn um so mehr, als er ihm offen und ehrlich nichts anhaben durfte, denn er selbst hatte ja die größte Indiscretion begangen und vollends nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
Für die beiden Liebenden hatte nun der Groll des Schmiedes monatelang eine bloß günstige, segensreiche Wirkung. War Pyrian schon früher kein häufiger oder dauernder Besucher der Lehrstunden gewesen, so gieng er jetzt dem ärgerlichen Antlitz des »studirten 61 Bauernbuben« erst recht aus dem Wege. Ja wenn er zufällig auf der Treppe sich befand und jenen auf den Stufen kommen oder gehen hörte, kehrte er eiligst um und hielt die Thüre hinter sich zu, so lang er noch den Tritt jener verhaßten Sohlen hören konnte. Er ließ sich genau berichten, wann Veit zu den Lectionen käme. Eine halbe Stunde früher gieng er dann aus dem Hause. Des Abends kam er ohnehin selten heim, denn die Sitzungen und geselligen Unterhaltungen des unter dem ersten Aufleuchten der Reaction auf's Neue erstandenen und üppiger denn jemals blühenden Vereins für christliche Bürgerpflicht und Unterthanentreue nahmen diese Zeit vollauf in Anspruch.
So geschah es, daß die Liebenden zu ihrem süßen Geplauder ungestörte reichliche Muße hatten. Ob ihnen nicht die Zeit doch zu kurz vorkam, wer möcht' es verneinen. Und neunfach gedehnt schien sie ihnen in den Tagen der Trennung. Vom Morgen bis zum Abend saß Veit zwei lange Wochen in den Examinationssälen. Wenn er dann heimkam, war es viel zu spät, um noch schicklicherweise an Pyrians Wohnung zu klopfen. Wie leicht hätte eine Magd, einer der Schmiedeknechte sein Kommen auffällig finden, mißdeuten, hintertragen können! Der alte Pyrian blieb auch, da er von dem Ausfallen der Lehrstunden wußte, ungenirt daheim. Und so war denn auch ein Nicken des blonden Hauptes, 62 das in der Dämmerung flüchtig zu ihm niedersah, das ein und andre Mal ein kurzes gleichgültiges Begegnen vor Zeugen Alles, was ihn erfreuen durfte.
Da flohen die Tage so langsam und freudlos für die arme Fanny dahin. Wenn Vitus die schweren Stunden zwischen Wörterbüchern und Dintenfässern verbrachte, er dachte nicht an die Liebe, nicht an sein Liebchen; der Ehrgeiz, die Arbeitslust, der endliche Zweck, alles das hielt den jungen Mann so in Athem, daß die Stunden über seine hurtige Feder wegflogen, er wußte selbst kaum wie. Des Abends kamen dann die Gedanken an sein schönes Mädchen wie spielende Erquickung, die ihm leise Kühlung um die geplagte Stirne wehte und ihn in einen lächelnden Halbschlaf einlullte. Diesen löste dann gar bald der traumlose feste Schlummer des Schwerermüdeten ab. Am frühesten Morgen eilte er pflichtschuldig nach neuer Anstrengung begierig aus dem Hause. – Aber sie, die Liebende, die einsam an ihrem Fenstertischchen saß, sie hatte nichts zu denken als ihren Liebsten und ihre Liebe; alle Angst des möglichen Mißglückens, alles Bangen für den mühsam angestrebten Erfolg, alle Schauer der Sehnsucht, alle Thränen der Einsamkeit lagen drückend auf ihrem jungen Herzen. Die Nadel wollte nicht durch die Leinwand fliegen, sie legte das Köpfchen an die Stuhllehne und sah hinaus, wie die Schwalben um den Brunnen kreisten 63 und die weißen Wolken so bedächtig dahinzogen über die Nachbardörfer. Leise sprach sie vor sich hin: »Ob er wohl einmal meiner gedenkt in dieser langen Stunde?« und sie schüttelte verneinend das blonde Haupt und seufzte. »Und Sie wollen doch immer besser wissen, was die Liebe sei, die Männer, die den ganzen Tag nicht an die Liebe denken,« sprach sie zu sich selbst und abermals leise seufzend griff sie nach der stockenden Nadel. Aber beim dritten Stich stach sie sich in den Finger und gab sich zur Antwort: »Ei ja und sie wissen es wohl auch!« und lachte dazu.
Und sie streckte die kleinen Hände von sich und drückte mit den Fingern der linken Hand einen Blutstropfen aus der winzigen Wunde. Dann nahm sie die linke Hand in die rechte und drehte ein schmales goldenes Ringlein hin und her, das ihr Veit gegeben am Abend, als er die letzte Stunde gehalten, und sie streifte es andächtig vom Finger und küßte es und las zu wiederholten Malen das Wort der Liebe das auf der Innenseite eingegraben stand: »ewig!« »ewig!«
In der zweiten Woche hatte sich Fanny mehr und mehr an dieß einsame in Gedanken mit dem Geliebten Verkehren gewöhnt. Sie war schon glücklich, wenn sie den Tag über an ihn denken, des Abends ihn flüchtig von ihrem Fenster aus grüßen und die ganze Nacht von ihm träumen durfte. Da kam ein Besuch aus 64 der Provinz in's Haus, dem der Vater alle Ehren der Gastfreundschaft erwies, und auch die stille Freude der ungestörten Einsamkeit war ihr genommen.
Umgekehrt war es mit Veit. Sowie sich die schreibende Plagezeit ihrem letzten Tage näherte, fieng er allmälig an, ein leises Ermüden seiner angestrengten Kräfte zu fühlen, über welcher eine alles andere Denken erdrückende heftige Sehnsucht nach dem so lang ohne Laut und Klage entbehrten Mädchen immer mächtiger um sich griff, bis in der letzten Stunde des letzten Tags, während er heftig das letzte Pensum so schnell als möglich beseitigte, der Gedanke nicht mehr von ihm wich »heut Abend noch, heut Abend wirst du sie wiedersehen und mit ihr plaudern und sie küssen auf den süßen Mund.«
Neunmal in jeder halben Stunde sah er wohl auf die Uhr, einer der ersten verließ er das Prüfungslokal und eilte fliegenden Schrittes auf seine Dachkammer.
Er fand wider Erwarten den Professor Beißerle schon zu Hause. Derselbe saß in Schlafrock und Filzpantoffeln auf dem sogenannten Sopha, klagte über Eingenommenheit des Kopfs und Bruststechen, sowie über die gräßliche Hitze, hüstelte etwas unwillig und fieng dann sehr zur Ungeduld des halbabsolvirten Penälers an, denselben auf einen Stuhl zu nöthigen und unter mannigsachen Einleitungen und Entschuldigungen 65 sein Gewissen zu inquiriren, ob es wahr sei, daß er vor drei Monaten in der Volksversammlung auf dem Edernberger Keller eine politische Rede gehalten habe, für welche ihn das entrüstete Auditorium schließlich vor die Thüre gesetzt.
Veit, den schon die Verzögerung allein höchst unwillig machte, ward bei Erwähnung jener leidigen Erinnerung vollends in Aerger gebracht und erwiderte mit allem Trotz der Ungeduld, wie sich die Sache verhalten hatte.
Beißerle schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: »O mein Gott, was treiben Sie für thörichte Dinge, was machen Sie mir altem Manne für Kummer und Sorgen! wissen Sie, daß seit gestern die ganze Geschichte bei dem Rector des Gymnasiums anhängig gemacht ist? die Mehrzahl der Professoren ist Ihnen zwar sehr gewogen und würde außerdem schon mir zu Liebe die Sache meines Zöglings nach Kräften zu vertuschen oder doch bis hinter die Beendigung Ihres Examens zu verschieben trachten, wo man Ihnen alsdann wenig mehr anhaben kann. Aber da ist der Herr Dr. Lebrecht, der langweilige Pfaffe, der Ihnen Geschichte, Religion und Moral beigebracht haben will, der hat die Anklage, die ihm weiß Gott wer zugetragen, kräftiglichst in die Hand genommen. Er behauptet gewiß zu wissen, daß Sie von jenem verwünschten Faß herab 66 die haarsträubendsten Aeußerungen über die Kirche Gottes und die Religion des Landes hätten fallen lassen; darum sei es ein wahres Glück, daß man Sie noch zwischen Thür und Angel beim Kragen halten und ehe solch ein gottloser Mensch in die Welt und das Gerücht seines straflos gebliebenen Aergernisses an die Regierung, das Cultusministerium, den Erzbischof und noch höher laufe, ein Exempel statuiren könne! Ich habe mir die armen alten Beine halb abgelaufen, ich habe mir bei anderthalb Dutzend Collegen die Zunge lahm geredet, ich habe dem wüthenden Religionslehrer hoch und theuer beschworen, daß an der ganzen Geschichte kein wahres Wort und mein lieber Vitus einer der rechtgläubigsten Katholiken wäre, die jemals auf einer Gymnasialbank gesessen. Allein der langweilige Kerl hatte die Unverschämtheit mir in's Angesicht zu schreien, das erstere wüßte er wohl besser als ich, denn ich wüßte gar nichts, er hingegen hätte Alles aus der sichersten Quelle erfahren und werde mit Augen- und Ohrenzeugen seinen Worten Gewicht geben. Von der katholischen Gesinnung und Herzenstüchtigkeit meines Schützlings möchte ich aber die Güte haben zu schweigen, da ich hier als Protestant Fragen behandelte, die ich nicht verstünde. Ich ward über Alles das nicht ungehalten, das ist nicht meine Art, sondern ich gab mir unerschrocken alle Mühe den wüthenden Hanswursten 67 zu begütigen. Ich behandelte ihn sorgfältigst wie einen Zuckerhut im Regenwetter – aber er wurde nur immer grimmiger und sagte mir, ich dürfte froh sein, wenn man Sie nur das letzte Jahr repetiren ließ, statt Sie für ganz und gar von den Studien zu relegiren. Er werde jedenfalls auf die letztere, die einziggerechte, die strengste Strafe antragen.
»Ich lief sofort händeringend zum Rector. Das ist noch ein Philolog aus der alten Schule, gütig und weise, er lächelte und sprach viel Gutes von Ihnen, wenn er auch Ihre Thorheit auf dem Edernberger Keller mit richtigem Namen nannte. Er hieß mich alles Gute hoffen und seinem Einfluß vertrauen; wahrscheinlich würden Sie den schriftlichen Theil der Prüfung so wacker gearbeitet haben, daß man mit günstigen Zeugnissen Ihres wissenschaftlichen Fleißes in der Hand die Vorwürfe gegen ihre zweifelhafte Religiosität und Sittlichkeit abschwächen und Sie, durch geringere Disciplinarstrafen zurechtgewiesen, von der Vollendung Ihres glücklich bestandenen Examens nicht abhalten werde.
»Nun lieber, lieber Vitus, kramen Sie geschwind aus, was Sie heute gearbeitet haben. Dieß letzte Pensum, welches, nicht wie die andern bereits versiegelt und verschickt, noch in den Händen Ihrer Lehrer ist, wird vor allen gelesen und beachtet werden und auf die Austragung Ihrer Sache Einfluß üben. Gott 68 gebe, daß Sie dieser letzten Aufgabe so wacker Herr geworden sind wie den anderen; lassen Sie hören, kramen Sie aus!«
Veiten wandelte die Lust an, den Arbeitstisch, das Kaffeezeug und Schreibgerümpel über's Dach zu werfen, allein er mußte sich doch bequemen, über sein heutiges Tagwerk, soweit ihn ein lückenhaftes Concept und ein seitabdenkendes Gedächtniß unterstützen wollten, dem theilnehmenden Greise Rechenschaft zu geben.
Perlen des Angstschweißes und zuweilen ein stockend rieselndes Thränlein liefen über die runzligen Wangen des Präzeptors, als ihm Veit einen haarsträubenderen Fehler um den andern, eine Geschmacklosigkeit um die andere entdeckte, die dieser, über seiner eigenen Zerstreutheit erstaunend, dem wimmernden Schulmann eingestehen mußte. Beißerle krächzte, weinte, griff einmal sogar nach dem alten Lineal und nannte Veit's Ausarbeitung der entscheidenden Aufgabe ein unbegreifliches Product gedankenlosen Leichtsinns.
Veit saß wie auf Kohlen, versuchte sich durch Abspannung der Kräfte, durch Ueberanstrengung während der letzten Wochen, durch Unwohlsein und Blutandrang nach dem Kopf zu entschuldigen und da Beißerle nichts mehr für ihn thun zu können versetzte, griff er schleunig nach dem Hut und eilte ganz in Mißmuth getaucht die 69 steile Höhe der Tuberkelburg hinab, bis er vor Pyrians ersehnter Schwelle den Lauf und Athem anhielt.
Als er die Hand schon nach der Schwelle ausstreckte, kam ihm ein Gedanke angeflogen, der ihn über sich selbst ärgerlich machte.
Wenn nun einer vor dich hinträte, sagte er im Stillen zu sich, der in der einen Hand alle Grade des Wissens und der Bildung in der andern Fanny's Liebe und Besitz hielte und dir beide Hände hinreckte mit dem Ausruf eins oder 's andere, aber immer nur eins oder 's andere zu greifen – würd' ich mich besinnen? würd' ich sicher nach – –
Thorengewäsch, müßiges hirnverrücktes Träumen! unterbrach sich Veit. Er besann sich, mit welcher Hast glückseligen Herzpochens er diesem Hause zugeeilt und mit wie leidigem Muthe er nun vor dieser Thüre stand.
Die Schelle tönte, und auf's Neue hämmerte sein Herz in schnellerem Schlag, er fuhr mit der Hand über die Stirne und sprach: Weichet von mir quälende Gedanken und laßt mich selig sein, wär's nur auf eine kurze Stunde!
Er mußte zum zweitenmal schellen, und als die Thüre gieng, da war es nicht Fanny die sie öffnete, sondern Maxerl, welcher den Lehrer mit kindisch toller Freude begrüßte, beglückwünschte, willkommen hieß und dazu ein Butterbrod aufaß, das man ihm reichlich mit Honig bestrichen.
70 Veit nahm an gewohnter Stelle Platz, die beiden Jungen ihm gegenüber, der Tisch war sorgfältig zur Lection bereitet, in mitten desselben prangte sogar ein frischer Blumenstrauß, aber die ihm nicht an der Thüre erschienen war, sie fehlte auch am Fenster. Ihr Nähzeug fand sich wohl an gewohnter Stelle und der Schemel lag umgeworfen da, als sagte er zu dem Ungeduldigen »warte nur einen Augenblick, dann kommt sie zurück die eben gegangen und ihr kleiner Fuß stülpt mich wieder gerade auf meine hölzernen Beine. Wart' nur!«
Aber die erste Viertelstunde vergieng und Fanny kam nicht. Veit fühlte wie ihm die Stirnadern brannten und er wußte nicht, daß ihm die Hände je so unbequem am Leibe gehangen wären wie just. Er preßte die Finger vor die Augen, er nahm das Lineal in die krampfhaft sich ballende Faust, da aber die beiden Zöglinge mit der jähen Bewegung des Erschreckens zurückfuhren, legte er es schleunig hin, streichelte die Wangen, die seiner Liebsten verwandtes Blut röthete, und trommelte in fieberhafter Ungeduld auf Pyrianischen Heften.
Im Nebenzimmer, dessen Thüre sich nicht aufthat, hörte er zuweilen einen Stuhl rücken, einen Löffel fallen und ab und zu Fanny's Stimme, die hellaufkichernd aus vollem Halse kam.
Wie eine zweischneidige Waffe fuhr ihm der 71 übermüthige Ton in die sehnsüchtige, sorgenvolle, wunde Seele und unwillig erhob er sich vom Stuhl.
»Das ist der Onkel,« sagte Sepperl, der die störende Unruhe im Nebenzimmer vor dem Lehrer entschuldigen zu müssen meinte, »der Bruder von unseres Papa's erster Frau, dem man den Kaffee gibt und der sich mit Fanny neckt.«
Das Wort »Onkel,« und vollends die weitere Erklärung, daß es der Bruder von Pyrians verstorbener Hausfrau, und noch dazu seiner ersten Frau war, welcher Fanny's Kichern die unsichtbaren Ursachen bot, beschwichtigte den Sturm in Veitens Seele. Er setzte sich wieder zwischen die beiden Schüler und übte sich in Geduld. Seine Phantasie stellte sich einen greisen Biedermann vor, der aus dem Schiffbruch seiner guten Zeit sich jene gutmüthige Munterkeit bewahrt hatte, welche der entschuldigende treuherzige Freund alles Jugendmuths, der andächtige wunschlose Verehrer und Vertraute der Schönheit ist. Er meinte sich über seine jähe, blindgeborne Eifersucht selbst schelten zu müssen. Und so oft nun das Gekicher im Nebenzimmer wieder laut wurde, wandelte ihn die Lust an, mitzulachen, denn er sah im Geiste einen kopfnickenden Greis, der in der einen Hand die Silberdose, in der andern die schwankende Kaffeetasse, seinem lieben Schatz alte Familiengeschichten und 72 lustige Abenteuer aus langverschollenen Tagen zum Besten gab.
Aber sollte er denn die Langersehnte nicht einmal auf einen kurzen Augenblick begrüßen können!
Da knarrten die Angeln leise, hastig schlüpfte Fanny in die Stube und legte sorglich hinter sich die Thüre wieder ins Schloß. Ihre feinen Wangen überflog Rosenröthe, da sie mit einem Angesicht voll Liebe auf den Hauslehrer zueilte und ihm nach der langen Trennung ohne Scheu die beiden Hände bot. Dann setzte sie sich wieder wie gewöhnlich vor ihrem Nähtischchen zurecht, stützte das glühende Köpfchen auf die kleine Faust und sah unverwandten Blicks über die kurzgeschornen struppigen Häupter ihrer Brüder in des geliebten Mannes bewegte Züge.
Aber kaum daß Veit's Seele, die heut' ein Ungemach um's andere befallen, unter dieser Wohlthat aufathmete, gieng die Thüre des Nebenzimmers zum zweiten Mal und hereintrat, hastigen lachenden Auges nach der Entschlüpften suchend – »der Onkel.«
Die äußere Erscheinung dieses Onkels stand mit dem Gedankenbilde, welches sich Veit's geplagte Seele zu eigener Beruhigung entworfen, in so schreiendem Widerspruch, daß uns der Leser gerne gestatten wird, ein ausführliches Conterfei von Herrn Christoph, dem Schwager Pyrian's, zu entwerfen.
73 Statt eines scherzenden Greises war ein großer, schwerer, mastiger Kerl in die Stube getreten, auf dessen breiten runden Schultern über kurzem Hals ein fetter, schwarzborstiger, glänzender Schädel saß; kurz unter dem Beginn des Haupthaars unter einer Stirnfläche, die kaum eines Daumens Breite wies, wucherten schon die üppigen Augenbrauen, dann kam eine starke Nase, ein glänzender, langgesponnener, spitzer Schnurrbart, ein gutmüthig lachender, lustig schnalzender Mund, ein rundes Kinn, das wie ein Knopf im Sopha, neckisch aus dem Speck des Doppelkinns in die Welt guckte. Er trug einen anschließenden, bis an den Hals zugeknöpften Rock, der jeden Augenblick über den Hüften platzen zu wollen schien, an der breiten Brust coquettirten zwei rothe Ordensbändchen und hinter mächtigen Stiefeln winzige Sporenknöpfe von Silber. Die fleischigen kurzen Finger – es war, als hätte er zehn Daumen an den Händen – krabbelten unaufhörlich hin und her. Die kleinen Aeuglein stachen in ihrer Gedankenlosigkeit so kanibalisch behaglich an der Außenseite aller ihn umgebenden Dinge herum und die ganze Erscheinung war von so herausfordernder unverschämter Gesundheit, daß man einen fleischgewordenen Nußknacker vor sich zu sehen meinte oder einen gemästeten Sultan, welchem man seinen Harem vorenthalten.
Als der jüngste Sohn einer zahlreichen Familie 74 hatte er sich frühe schon sagen lassen müssen, daß er sich bald um eigenhändigen Broderwerb umthun solle. Da ihm seiner behaglichen Natur entsprechend das Wiederholen ein und derselben Sache zuwider war und er zu keinem Berufe besondere Neigung oder Geschick verspürte, so meinte er zum Soldaten geboren zu sein.
Allein er brachte es auch hierin nicht hoch und der Leser würde irren, wenn er obengenannte Ordensbändchen als Zeichen militärischen Verdienstes betrachten wollte. Selbige zierten ihn um Verdienste von ganz friedlicher Art. Aber wenn er's im militärischen Leben auch nicht hoch, so hatte ihn dasselbe doch ziemlich weit gebracht. Nach Ablauf seiner Dienstzeit nämlich war er in Folge plötzlicher Anwandlung von Unzufriedenheit nach Frankreich und von dort nach Algier gegangen und hatte dort zwei Jahre lang in der Fremdenlegion abermals ohne sonderlichen Erfolg gedient. Nur seine Ansprüche an's Leben hatten sich aus ihrer ursprünglichen Bescheidenheit erhoben und er kehrte grollend mit dem Undank der Staatenlenker und der Kriegsheroen in die Heimath zurück, entschlossen, nunmehr dem Zivildienste seine Kräfte zu widmen.
Wenige Jahre vorher hatte sich eine seiner Schwestern, ein Wesen, das ihm jederzeit mit mütterlicher Sorgfalt zugethan gewesen war, an den Hausbesitzer und Schmiedemeister Chrysostomus Pyrian verheirathet. Für diesen 75 war Schwager Christoph, als ein Mann, der nahezu acht Lebensjahre die Muskete getragen, ein Gegenstand aufrichtigster Hochachtung und er gab sich alle Mühe, dem Würdigen ein mögliches Amt zu verschaffen.
Ein solches fand sich durch Glück und Protection, und Herr Christoph ward berittener Grenzaufseher, ein Posten, der ihm zwar anstrengend, aber gesund und unterhaltend vorkam, und für Pyrian den Vorzug hatte, daß er dem Schwager eine hübsche Uniform, die Waffen eines Reiters und ein stattliches Pferd zu unerläßlichen Attributen gab.
In diesem Dienst verbrachte Christoph manches Jahr; seine Schwester war lange schon gestorben und ein anderes Weib (die Mutter Fanny's) des Schwagers Hausfrau geworden, aber dessen Neigung war jenem unverkürzt geblieben, und diese rührige Neigung hatte ihm, als die Eisenbahnen sich auszudehnen begannen, zur Stelle eines Conducteurs verholfen, aus welchem bald ein Oberconducteur und Bahnaufseher wurde.
Vor Kurzem war er nun gar in die Hauptstadt versetzt worden, war ein gemachter Mann mit ansehnlichem Gehalt und trug zwei Orden im Knopfloch, welche ihm zwei mächtige Potentaten, denen er bei ihrer Durchreise auf betreffenden Bahnhöfen den Wagenschlag geöffnet, huldreichst hatten überreichen lassen. Er war in der Blüthe seines Alters, kaum einundvierzig Jahre 76 alt, lustig und gesund, und also sehnte er sich nach etwas Plage und Zeitvertreib. Wenig bange, viel Körbe zu erhalten, gieng er spähend von Haus zu Haus und ließ, seines Werthes bewußt, die spröden Doppelsohlen knarren unter den Freiersfüßen.
Sein schönes Cousinchen, welches er vor Jahren als ein winziges Ding verlassen, gab gleich beim ersten Wiedersehen seinen irrenden Wünschen einen festen Halt; Pyrian hatte seine plumpsten Anspielungen mit wohlgefälligem Schmunzeln aufgenommen und mit ebenbürtigen Witzworten beantwortet. Nun galt es nur noch, die kleine Fanny durch Liebenswürdigkeit zu verblüffen, was ihm kein schweres Kunststück gelten wollte, denn seine Lebensgeschichte war reich an Eroberungen der verschiedensten Art.
Er nannte sie seit seiner Ankunft in der Stadt nie anders als »mein Schätzchen«, »mein Bräutchen«, »meine kleine Hausfrau«; er ließ sich von ihr bei Tische vorlegen, von ihr den Kaffee einschenken, und versäumte keine gute, keine schlechte Gelegenheit, sie an der Hand zu fassen oder in die Backen zu kneifen oder gar um die Hüften zu packen. Fanny dachte nichts Arges dabei, und da diese Species von Onkel auf ihr Gefühl einen unwiderstehlich lächerlichen Eindruck machten, so lachte sie denn auch in kurzen Tagen mehr über den 77 rundlichen Kauz, als sie in der Zeit ihrer Trennung von Veit lachen zu dürfen erwartet hatte.
Heute Morgen hatte Herr Christoph – oder wie er in der Familie seit Urzeiten kurzweg genannt wurde, Ohm Stoffel hatte heute Morgen bereits den alten Pyrian gefragt, ob ihm Fanny zum Heirathen nicht zu jung erschiene und dieser darauf geantwortet: für den Herrn Schwager sei sie alt genug.
Das war deutlich, selbst für Ohm Stoffel hinreichend deutlich, und da der Vater, nachdem die Knaben zur Stunde abberufen worden, bald darauf vom Tisch aufstand und die Beiden, wie um ihnen zu letzter Verständigung Gelegenheit zu geben, alleine ließ, so machte sich der hitzige Bahnhofinspektor sofort daran, dem Gegenstand seiner Wünsche die Neigung, die er zu ihm trug, mit Händen und Füßen begreiflich zu machen.
Fanny mußte über die drolligen Geberden des girrenden Anbeters laut auflachen, da er ihr aber zu nahe an den Leib rückte, ergriff sie die gute Gelegenheit und entwischte dem Onkel, der sie vorher trotz alles Bittens nicht hatte aus dem Zimmer lassen wollen.
Nun aber hatte er nichts Eiligeres zu thun, als seinen Kaffee auszutrinken, dann noch ein Glas Wasser über ein Stück Zucker nachzugießen, und, dieß geschehen, seine Beute einzuholen, wo sie sich finden möchte.
Da er sie vor dem Fensterbrett beim Nähzeug sitzen 78 fand, erneuerte er seine scherzhaften Angriffe und tänzelte in ungenirter Entfaltung faunischer Liebenswürdigkeit vor Vitus staunenden wüthenden Blicken kichernd und grunzelnd um die Geliebte.
Fanny wurde ärgerlich, sie stach nach seinen frechen Händen mit der Nadel so sicher und empfindlich, als sie es nur vermochte; da er darauf aber wieder anfieng Possen zu reißen und Gesichter zu schneiden, übernahm sie das Lachen so krampfhaft, daß sie husten mußte und die Hände vor die Brust hielt.
Diesen Augenblick benutzte sofort Ohm Stoffel, haschte die Nichte mit breiten Händen um die Hüften und drückte sie täppisch, daß sie schrie.
»Warte mein Bräutchen, warte kleine Frau,« rief er, »ich will Dich lehren, Deinen kleinen Hausherrn in die Finger stechen!«
Veit, dem alles Blut unter die Stirne stieg, preßte die Fäuste in den Tisch und erhob sich. Hart vor den dicken Ohm tretend, drängte er ihn zornig vom Fenster zurück und sprach:
»Mein Herr, ich habe in dieser Stube den Söhnen des Hauses Unterricht zu ertheilen; wenn sie aber sich nicht schämen und hier ihre albernen Possen und unverschämten Späße weiter treiben, so kann man weder Lehrer noch Schülern zumuthen, daß sie die zur Arbeit nöthige Sammlung sich erhalten. Haben Sie also die 79 Güte, mein Herr, Ihre Rohheiten anderswo auszuüben und packen Sie sich so schnell als möglich aus dieser Stube.«
»Oho!« rief Ohm Stoffel, welcher einige Schritte weit vor dem wüthenden Veit zurückgewichen, »ich bin Soldat gewesen, mein Herr, solche Ausdrücke –«
»Waren Sie Soldat, so war ich Seemann,« unterbrach ihn hastig der andere, »und wenn Sie glauben, daß ich Ihnen für meine Ausdrücke anderswo Rede zu stehen habe, so bin ich Sie nach Gebühr zu bedienen hiezu auf jede Art, zu jeder Zeit und an jedem Orte bereit, nur hier nicht und nicht in meinen Lehrstunden. Diese Stunde an diesem Orte zu geben, dafür werde ich bezahlt, also bitt' ich Sie, mir und den Jungen hier nicht die Zeit zu stehlen. Auf Wiedersehen und jetzt packen Sie sich! und das schleunigst.«
Fanny war ängstlich zwischen die beiden Männer getreten; Ohm Stoffel riß das Maul auf und sah bald sie, bald den augenrollenden Instructor an, der mit geballten Fäusten vor ihm stand und auf sein Entweichen wartete. Er wäre auch in der That gerne zur Thüre hinausgegangen, aber er wußte im Augenblick nicht, nach welcher Seite er sich umdrehen sollte und so ward eine minutenlange Stille im Zimmer, daß man meinte, man könnte den Staub im Sonnenstrahl fallen hören, der quer in die Stube hineinlag.
80 Da öffnete sich die Thüre des Nebenzimmers und das Hinzutreten des alten Pyrian löste die starre Gruppe der Aufgeregten.
Des Schmiedes Haltung und Stimme zeigten jene militärische, vor dem Spiegel einstudirte Ruhe, welche ihn auszeichnete, so oft er mit Wissen und Willen eine Familienscene ausführte, um so mehr in dieser, welche ein Monate lang auf seinen berechtigten Ausbruch harrender, sein ganzes Denken belebender Groll ihn oftmals im Geiste hatte voraus erleben lassen.
Pyrian war schon während der heftigen Scene lauschend vor der Thüre gestanden, aber er wollte nicht eher eintreten, bis er die Rede, welche er an den polternden Hauslehrer erdacht, sich noch einmal überhört hatte, um seiner Sache und ihres Eindrucks sicher zu sein.
»Herr Veit,« sagte er nun leise aber vernehmlich und die Wollust langverhaltener Genugthuung blitzte dabei aus seinen Augen; »ich will nicht untersuchen, welcherlei Einbildung Ihnen das Recht gibt in meinem Hause, vor meinen Kindern, ja vor einem älteren Manne, den sie nicht kennen, vor meinem Gaste, meinem Schwager und zukünftigen Schwiegersohne einen Lärm aufzuschlagen, den ich bis in mein Arbeitszimmer hören muß. Es ist nicht mehr der Mühe werth, diese Frage des Näheren zu erörtern, da ich Ihnen hiemit eröffne, daß diese Lection, die Sie heute meinen Knaben gegeben, 81 die letzte ist, welche in meinem Hause zu ertheilen gewesen. Ich liebe es nicht, wegen der Aufführung meiner Hauslehrer in Untersuchungen verwickelt zu werden. Ich war den heutigen Vormittag zwei Stunden lang auf dem Rectorat Ihres Gymnasiums, wo man gegen Sie wegen Ihrer demagogischen Aufwieglereien eine Untersuchung anhängig gemacht hat. Als Mann von strengem Ehrgefühl, als Soldat, als Offizier, als Bürger, als treubeherzter Christ und Unterthan des in allen seinen Grundvesten erschütterten Staates, kurzum als Mann, auf dessen Wort man bauen können muß, hielt ich es für meine Pflicht, meine Meinung über Sie unumwunden auszusprechen. Ich bedaure, daß ich sagen mußte, Sie für mehr als verdächtig zu halten, Sie im thatsächlichen Einvernehmen mit der Partei des Umsturzes zu wissen. Man hat, wie man mir soeben mittheilt, heute Abend beschlossen, sie von der Anstalt zu relegiren.
»Da es hiernach mit der wissenschaftlichen Carrière wohl sein endgültiges Ende haben und Sie sich einem anderen Berufe widmen werden, da Sie einsehen, daß ein mit der Relegation belegter Gymnasiast für meine Söhne kein wünschenswerthes Exempel ist, da ich außerdem befürchten muß, daß Ihre politischen Gesinnungen und Umtriebe und Ihre notorische Anrüchigkeit von schädlichem Einfluß auf meine einfach, gottgefällig und 82 loyal erzogenen Kinder sein, als auch mich und meine kostbare Zeit noch ferner in unliebsame Verwickelungen mit Schul- und anderen Behörden bringen möchten, so werden Sie meinen Entschluß gewiß gerechtfertigt, nothwendig und väterlich finden.
»Es versteht sich von selbst, daß hiemit auch aller Besuch Ihrer Person in meinem Hause oder gar ein Verkehr mit Ihren ehemaligen Schülern außer dem Hause unter keinerlei Umständen geduldet werden kann.
»Und so hab' ich die Ehre, Ihnen Glück auf den Weg zu wünschen, Herr von Veit, Gott bessere Sie und hier ist die Thüre!« 83