Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

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V.

Es ist eine alte Geschichte und steht bei allen Dichtern schon in Versen und in Prosa zu lesen, daß der Sterblichen Dichten und Trachten wie Wind und Welle sei und daß es kein treueres Bild der Menschenseele gebe denn die See mit Fluth und Ebbe. Darum sollte Jeder, der heutzutage ein respectables Buch schreiben will, sich hüten seine Gleichnisse sozusagen aus dem Wasser zu holen. Wer aber kein Buch schreibt, sondern Mondelang keinen festen Boden unter die Füße bekommt und in müssigen wiederkehrenden Augenblicken sich über die Brüstung lehnt und hinabsieht wie der weiße Schaum unter den Rädern der Maschine über die Wellen wegrauscht oder dem breiten Streifen nachschaut den der Gang des Fahrzeuges wie ein schimmerndes Band auf die ruhige Fläche der Gewässer hinter sich legt, der braucht sich kein Gewissen daraus zu machen, wenn er sein Wünschen und Verzichten, sein Streben und Verlieren, sein Hoffen und Vergessen, mit dem fluthenden ebbenden Meere vergleicht. Er sinnt wohl darüber nach, wo er hergekommen und denkt wohl daran, 86 wo er noch hinkommen mag und es ist gar weit, gar weit von dem einen Ende bis zum anderen.

Nur wenige Menschen leben mit ihm zwischen den von aller Welt vereinsamten Planken seines Schiffs, aber in diesen wenigen, die er tagtäglich vor Augen hat, deren bedeutendste Charakterzüge sich ebenso wie ihre kleinlichsten Gewohnheiten in der nothwendigen Geschlossenheit des engen Beisammenseins ohne Scheu und ohne Sorgfalt vor einander aufdecken müssen, in diesen wenigen lernt er die Menschheit kennen wie sie ist, lernt die Menschheit kennen mit allen ihren Tugenden und Lastern, denn wo wäre ein Kreis so klein, daß nicht in ihm alle Triebfedern des großen Lebens, von der Herrschsucht bis zum Mitleid ihr Spiel fänden. Er lernt die Menschheit kennen in den Wenigen, und lernt sie in ihrer Menge zugleich entbehren. Er wie keiner begreift die Wohlthat der Geselligkeit, die Nothwendigkeit der Nächstenhilfe und doch wie keiner kennt er die Einsamkeit. Die größte Einsamkeit zwischen Himmel und Wasser, die gleichförmig wie der Wellenschlag des Oceans zum Menschenherzen einen Tag dasselbe spricht wie den andern, Wochenlang, Mondelang. Wenn nicht Unheil oder Freude die Kraft der Menschen, sich selbst zu überbieten zwingt, gehen gleichmäßig, genau, einem höhern gemeinsamen Zweck unterworfen, die Geschäfte der Matrosen von einem Tag zum andern. Dreitheilig 87 ist die Zwölfzahl der Stunden, achte gehören der Wache, viere dem Schlaf. Wind und Wetter, Frost und Hitze, und die Mühen der Pflicht bräunen die Haut und stählen die Sehnen und lehren den Mann von kleinauf fest auf sich selber zu stehn; früher wird das Auge sicher, früher kommt sogar der Bart und früher schärfen sich die Züge des Angesichts; die See macht alt.

Und wenn der Seemann bei der Wiederkehr der Empfindungen manchmal das Leben mit dem Meere vergleichen darf, das heute gegen Sonne und Sterne sich bäumt, bunte Muscheln und allerhand Gethier, Bernstein und selbst kostbare Perlen verschwenderisch in den Sand vergeudend, und morgen wieder friedlich und gleichmäßig seine Lasten trägt, ohne mit einem Wurf zu verrathen, welch' unermeßliche Schätze im niegerührten Grunde seiner Tiefen feiern, so dringt sich ihm auch ein anderes Gleichniß auf, eines der nützlichsten im Menschendasein. Er lernt die Kraft verehren, die sich feste Ziele stellt in's Weite, in's ungemessen Weite sogar und diesem Ziel nacharbeitet, Tag für Tag und Stund um Stunde mühsam und bewußt ein Stück Weges sich erobert und hinter sich wirft; die Kraft, die kein Enttäuschen, kein Verdrießen irrt, die Kraft, die weiß, daß sie das Mögliche mit möglichen Mitteln will, die Kraft, die sich's zur Pflicht gemacht hat, auszuhalten bis an's Ende trotz alle dem. Wie die Nadel des Magnets weist das Gewissen immer 88 auf den Einen Punkt hin, mag es schütteln und stürmen; wie der Wille treibt der bewegende Dampf das Ganze seinen Weg durch die Fluthen, ob auch die Wellen über's Deck schlagen und die Winde das Schiff in's Angesicht höhnen. Wohl können die Wolken des Himmels bersten, die See sich aufthun in furchtbar beweglichen Abgründen; Feuer vom Himmel kann die Mannschaft verzehren und selbst das feste Ziel der Reise kann in Flammen aufgehen, kann in's Meer versinken und Wissen und Wille hat ein Ende zu gleicher Zeit. Es giebt eine höhere Macht als der Wille des Menschen ist, ihr kann und muß der Wille des Menschen erliegen, wenn auch nur ihr allein, ohne Vorwurf und Schmach zu erfahren. Kein Spott und keine Schande begleiten den verunglückten Seemann in sein klafterntiefes Wogengrab; kein Vorwurf trifft den Suchenden, deß Reiseziel hinweggetilgt ist ohne sein Verschulden.

Aber nur jener höheren Macht weicht die Magnetnadel und der Trieb der Dampfkraft; was zu bewältigen ist muß der Mensch bewältigen, wenn er nicht vernichtet sein will. Das ist die harte Schule des Willens und Bewußtseins.

In diese Schule ging Veit so manches Jahr. Die glänzenden, phantastischen Bilder, die ihn dereinst zur ersten Fahrt verlockt, waren spurlos in's Nichts hinweggeschwunden wie eine Fata Morgana über den Wellen. 89 An ihrer Statt war mit Enttäuschungen und Entbehrungen die Pflicht gekommen, gekommen aber auch mit der Selenruh und Freude eines geregelten Tagewerks, mit Muth und Ehrgeiz.

Manch einer hat wohl schon geglaubt, als er von meines Vitus abentheuernder Ausfahrt vernommen, ich würde ihn fett und thalerklirrend in den Sommerhosen eines Plantagenbesitzers, mit dem breitkrämpigen Hut eines Sklavenhalters auf den verlassenen Boden Europas und eines Romans wieder zurückführen, in der beliebten Art der Onkel aus Amerika oder ähnlicher Kinder des Glücks. Nichts von alledem! Möcht' ich es auch selbst gerne thun, was kann meine Neigung helfen? Ich darf nur berichten was und wie sich alles in der That und Wahrheit zugetragen hat. Und That und Wahrheit ist es, daß Veit nach etwas über sechs Jahren als ein tüchtiger Seemann und ganzer Kerl, aber nicht sonderlich viel reicher in's Binnenland kommt, als er vor ebengenannter Zeit davongegangen war.

Er hatte auf fünf Schiffen verschiedener Größe gedient. Er war nach England und Südfrankreich, nach Venedig, Neapel und Griechenland gekommen, war zwei Mal in New-York und zwei Mal in Alexandrien gewesen. Der Anfang seiner Lehrzeit bot kaum eine freundliche Erinnerung. Man pflegte in jener Zeit noch weit weniger glimpflich mit den Schiffsjungen zu verkehren als heutzutage.

90 Schläge, Hunger, Mühsal und immer wieder Schläge hatten den unbändigen Jungen gefügig gemacht. Dennoch war ihm Reue nie recht in Sinn gekommen, oder doch nur in flüchtigen, verwehenden Augenblicken. Da öfters seine physischen Kräfte der harten Arbeit nicht gewachsen waren, so gewöhnte er sich daran, die Vorwürfe für begründet, die Schläge für verschuldet zu halten und suchte dem abzuhelfen in hartnäckigem Streben. Es gelang auch und nach dem ersten Jahre gestaltete sich sein Verhältniß um so besser. Körperlich erstarkt, konnte er auch von seiner besseren Bildung Früchte ziehen und genießen. Er war mit siebenzehn Jahren Jungmann, mit achtzehn Vollmann und nachdem er dreißig Monate mit dem Bremer Handelskutter »Arabella« als Matrose gefahren, auf demselben Schiffe Steuermann geworden. Hier hatte er die beste Zeit verlebt, allgemeine Achtung und zutrauliche Behandlung genossen und in der eigenen Cajüte auch den eigenen Menschen wieder gefunden.

Allerhand Gedanken und Bedenken, Pläne und Zweifel kamen ihm angeflogen. Eine seltsame Sehnsucht übernahm ihn, ein Heimweh nach dem Lande, ein Heimweh nach verlassenen Studien, die mit seiner jetzigen Lebensstellung nichts gemein hatten. Mühsam hatte er sich diese Stellung errungen, doch seit er sich wohl und behäbig in ihr ergieng, wollte sie ihm auf einmal nicht mehr als die Bestimmung seines Lebens erscheinen. Was er sich 91 sonst so streng untersagt, er konnte es nun nimmer lassen, an alte Zeit und alte Menschen zu denken. Merkwürdiger Weise erschien selbst der grimme Präceptor Beißerle in seinen Erinnerungen nur mehr mit lieblich lächelnder Miene. Und nicht ohne herben Seufzer fand er es für nothwendig, einen Brief an den guten Dorfpfarrer zu entwerfen, dem er die uneigennützigste Liebe schlimm gedankt hatte. Dieß Concept zerriß er wohl wieder und ließ die Stückchen des Papiers über Bord fliegen. Aber wie er ihnen nachsah, die im Winde dahin tanzten, empfand er erst recht brennend im Gemüthe, daß seine Seele Schulden drückten, die nur auf dem Lande zu tilgen wären.

Mit solchem Bewußtsein wurde er im Spätherbste 1847 ausgeschifft. Er war nun über zweiundzwanzig Jahre alt und trug sich mit allerlei Vorsätzen und Entwürfen, von welchen er kein Wort laut werden ließ. Aber er nahm in Folge derselben keinen neuen Dienst, sondern ließ die See im Rücken und wanderte gemächlich und guter Dinge voll landeinwärts. In seinem Tornister steckten keine Schätze, er hatte kein Gold gegraben, er hatte keine Perlen gefischt, nur ein mäßiges Sümmchen redlich erworbener Bankzettel gab ihm tröstliches Geleite.

Er war noch immer klein von Statur, aber sein Knochenbau war regelmäßig, seine Haltung keck und gerade, seine Bewegungen zeugten von Kraft und Gewandtheit, sein gewöhnlicher Gang war der rundschleifende der 92 Matrosen. An beiden Wangen trug er struppigen Bart, der unter dem glattrasirten Kinn einer Bürste ähnlich sah, die Lippen waren ohne Schnurrbart. Unter vorstehenden Brauen, die sich nahezu berührten, giengen zwei sichere rasche graue Augen hin und her. Seine gebräunte Hautfarbe hatte zuweilen ein ganz fahles Ansehen und jeder Binnenländer hätte zehn Jahre mehr auf das verwitterte Gesicht gegeben – die See macht alt.

 

Hurtiger noch und flüchtiger als auf den schwankenden nassen Brettern und Balken zwischen Himmel, Wind und See gehen die Jahre eines kleinen Mädchens dahin, das ohne sonderlich Wollen und Verlangen durch die Scheiben der Kindsstube guckt, wie die Zeit vergeht, bis die langen Kleider kommen. Nachbars Hannchen, die gute graue Hauskatze und die große Puppe vom verwichenen Weihnachten – was bleibt da noch viel zu wünschen übrig?

Aber eines Tages zieht das liebe Hannchen weit hinein an's andere Ende der Stadt, der beschwerliche Weg zu ihr kommt im anderen Winter schon außer Uebung, und im Sommer außer Gebrauch.

Eines Tages fehlt auch die graue Mieze bei Tisch, ihr Milchschüsselchen ist unberührt geblieben und ach sie selbst liegt draußen auf dem Hofe, regungslos mit steifen Pfoten den Zoll animalischer Sterblichkeit 93 bezahlend. Böse Buben haben sie mit Steinen zu Tode geworfen und der einzige ihrer zahllosen Nachkommen, der einzige, der von allen seinen Geschwistern für würdig befunden worden, daß man von der für seines Gleichen zur Regel gewordenen Todesart der Agnes Bernauerin eine auszeichnende Ausnahme gemacht – dieser einzige vermag die treffliche Mutter nicht zu ersetzen. Zwar sein Fell ist weicher denn Sammet und bunter als eine Pardelhaut, über seinen Katzenbuckel zittert im Zwielicht zuweilen ein mystisches, dämonisches Glänzen und niemals fehlt er des Mittags bei Tische. Aber bei alledem ist er ein gewissenloser Wüstling, der keine Liebe zu Kindern hat und keinen Sinn für bürgerliche Häuslichkeit. In Blutschande gezeugt, schon durch die Geburt gebrandmarkt, durch die Affenliebe einer nur allzuguten Mutter verzogen. Er bringt die Nächte außer dem Hause in Liebesgeschichten und Raufhändeln zu, er lebt am Tage ohne jegliche Rücksicht auf die geselligen Bedürfnisse seiner Herrin einzig und allein der Pflege seiner Künstlernatur. Drei Stunden singt er Skala, ob's nun regnet oder blaut, und wenn die liebe Sonne scheint, liegt er unbeweglich in ihrem Glanze auf dem Fensterbrette, da wo es am wärmsten ist, streicht sich blinzelnd den Bart und macht lyrische Gedichte. Er kann die Mutter nicht ersetzen.

Eines schönen Tags liegt auch die Puppe vom 94 letzten Weihnachten auf der verschabten Nase und niemand hebt sie auf und niemand frägt nach ihr. Denn die sie sonst sorgfältigst zu kämmen und zu kleiden pflegte, sie sitzt kurzathmend im heimlichsten Winkel der Stube und hält ein zerlesenes Buch mit beiden Händen vor das kaum merklich zitternde Stumpfnäschen. Längst um sie her verschwunden sind alle Sterblichen, die von Menschenfleisch nicht minder als die von Sägespänen und Porzellan. Es ist eine traurige Geschichte, die sie liest. Der schönste der Paladine liegt jahrelang im Thurm; die Wolken sieht er wandern, vor seinem Fenstergitter heulen die Winde. Er hat den Zauberer erschlagen, den alten Drachenwurm in einem entsetzlichen Zweikampf; aber eine eifersüchtige Fee hat ihn in diesen einsamen Thurm am Meere gebannt, auf daß die Einsamkeit und der Gram sein sprödes Herz erweichen mögen und er keinen Verkehr mehr habe mit den holdseligen Töchtern der Menschen. Wer ihn zu befreien wagte, wird auf Jahre in eine Dornenhecke verwandelt, die durch treue Knappen und Reisige verstärkt, bereits mannhoch und klafterbreit vor der Pforte des Thurmes wuchert. Aber des greisen Pförtners baarfüßiges Töchterlein mit aschebestaubtem Goldhaar, sie besticht den Riesen Dumbibo mit den Methkrügen ihres Vaters. Und Dumbibo, der Riese, der Flammbergfeeger, der Panzerhämmerer, der die flammenfüßigen Rosse beschlägt 95 den unsterblichen Göttern, wenn sie darniedergeritten kommen aus den Sonnenländern hinter dem ewigen Nebel, er leiht ihr die zauberbrechenden Feilen von blitzendem Diamant und die baarfüßige Maid mit dem aschebestaubten Goldhaar befreit den Ritter aus seiner Haft. Da wird die Dornhecke lebendig und Knappen und Reisige kriechen daraus hervor, sie blasen in goldene Hörner und schwenken purpurne Fahnen, es geht an den grünen Rhein zu Carl dem großen Kaiser und – – das Mägdelein neben der Puppe schließt die Augen und lehnt das Haupt zurück über die Lehne des alten Stuhls; sie denkt an vergangene Zeiten, wie sie einst bittere Schläge bekommen, dieweil sie einem bösen Buben zwei gute Feilen zugetragen. Aber das war ja nicht der schönste der Paladine, das war ein nichtsnutziger, schmutziger Range, für den sie die bitteren Schläge bekommen, und ohne die Augen zu öffnen, schüttelt sie leise das kleine Haupt mit den rothen Zöpfen und das störende Erinnern zerfliegt in alle Winde.

Ein anderes Bild steigt auf vor ihres wachen Träumens lichtglänzender Zone. Zierliche Frauen in bunten Gewändern, dienende Pagen mit langem Haar, erprobte Richter mit schneeweißen, auf güldene Gnadenkettlein fließenden Bärten. Und zwischen dem Sammet der Brüstung und all den leuchtenden Augen wirbelnder Sand und splitternde Schäfte, klirrende Brünnen und 96 Roßgestampf, ächzende Schranken und Kriegsgeschrei. Da thun sich die Balken weit auf und herein sprengt Er auf bäumendem Schimmel ganz in Gold geharnischt: Er, der Schönste, der Stärkste, der Herrlichste, aber sie kann ihn nicht von Angesicht sehn, denn sein Visir bleibt trotzig geschlossen. Er wirft die Furchtbarsten in den Sand, Maurenfürsten und Hunnenkönige, und alle Trompeten künden sein Lob. Aus den Händen der Allerschönsten soll er den Preis des Ruhmes empfangen und den Namen seiner Dame nennen, deren Farben er in Schärpen und Helmbusch trägt. Aber der Ritter thut das Visir nicht auf und er nennt den Namen seiner Dame nicht, hoch bäumt sich der Schimmel und der goldene Reiter ruft an die staunenden Balkone hinan: »Ich darf sie nicht nennen die Dame meines Herzens für die ich in jedem Kampfe siegreich triumphire, denn sie hat mein Antlitz nie gesehen. Ferne, ferne wohnt sie, mitten im ruhmreichen Lande der Methvertilger in einem alten Schlosse, das die Tuberkelburg geheißen bei Alt und Jung. Sie hat ein weißes Schürzlein an und einen hölzernen Löffel in den Händen und versalzt die Suppen ihres Vaters aus brennender Liebe zu mir. Sagt ich Euch ihren holden Namen hier, so erführe es der alte Zauberer aus den Zeitungen, die über dieses Turnier Bericht erstatten, und er würde die Holde um unserer Minne 97 und der versalzenen Suppen willen schlagen und brennen, wie er sie einst schon schlug in halbvergessener Zeit, als –

Der schönste der Paladine konnte seine Rede nicht zu Ende führen, denn zur Thüre der Pyrian'schen Stube herein kamen vier Mädchen und drei Bursche, die zur Freundschaft und Verwandtschaft des Tuberkelburgherrn gehörten; und mit ihnen kam ein kratzfüßiger Monsieur, der eine kleine Geige unterm Arme trug. Sie sollten hier, wie von den Herren Eltern ausgemacht worden, die ersten Tanzstunden nehmen. Da sprang Fanny hurtig auf und warf das Büchlein zur Puppe in den letzten Winkel der Stube und vor den einsamen Tönen der ächzenden Geige flohen Ritter und Reisige weit, weit weg in die finsteren Lande des Vergessenseins.

Fanny Pyrian wußte gleich auf's erste Mal die dritte Position von der fünften zu unterscheiden und war bald der Stolz und die Freude ihres Tanzmeisters, welcher ihr zur Auszeichnung vor der weniger gelenkigen, weniger gelehrigen Cammeradschaft weissagend zuschwur, daß sich dereinst die besten Tänzer um sie raufen und die Cotillonschleifchen, von ihrer Hand gespendet, die Glücklichsten der Sterblichen machen würden.

Nun dachte Fanny auf lange Zeit an nichts anderes als an Walzer und Polka, an den ersten Kranz von gemachten Blumen und die erste Robe von 98 Marliflor, wie sie wohl klingen, wohl aussehen möchten! Und wenn der Luftzug von der Wachtparade her die Klänge der beliebtesten Tanzweisen herübertrug, dann lag sie gar gern im offenen Fenster und trommelte mit leise hüpfenden Fingern auf der Brüstung hin und her, dann sah man hinter ihren sonst geschlossenen Lippen die Zähne und ein eigensinniges goldenes Stirnlöckchen, das sich nur selten in die Scheitelordnung fügen wollte, zitterte glänzend und lustig im tönetragenden Wind.

Diese holde Gewohnheit hatten bald etliche Penäler entdeckt, welche der Weg aus der Klasse um die Mittagszeit an der Tuberkelburg vorüberführte; strebsame Jünglinge, die Abends mit alle Füße verrenkenden Versen an die Empfindsamkeit ihrer Flegeljahre den letzten Tribut bezahlten. Sie schmachteten nur mit zahmen Blicken nach dem tanzenden Löckchen, nach den hüpfenden Fingern. Kühner schon waren etliche Reiterlieutenants, die um Mittag ihren Morgenritt antraten und der kleinen Fanny zu Liebe über die steile Straße hinab gewagte Kavalleriestücke loslegten. Als einer einmal der müßig schauenden einen Gruß zuwarf, erschien Fanny vierzehn Tage nicht mehr am Fenster und die sehnsüchtigen Penäler reimten Noth und Tod, Sehnen und Thränen zwei trostlose Wochen lang, bis ihr gekränkter Stern wieder arglos an seinem Fensterhimmel erschien und in die wehende Luft horchte.

99 Es war die herbe Schönheit der ersten Mädchenzeit, die über Fanny's Gestalt und Antlitz ihre Frühlingszauber verschwendete. Noch ermangelten die Formen der reifen Fülle, aber diesem schlanken Wesen ließ die bewegliche Munterkeit so gut, und diese lachenden Augen, die noch nie eine Thräne bewußter Sehnsucht verdüstert, funkelten theilnehmend neugierig oder gleichgültig um sich herum, wie's eben gerade kam. Dann konnte sie wieder stille sitzen stundenlang über die Nadel weg auf einen und denselben Punkt starren und denken, an was? sie wußte es nicht, und zu weinen anfangen, ohne sagen zu können warum? Sie konnte stundenlang beten und stundenlang immer dasselbe Gebet – nicht sagen, aber in Einem fort unausgesprochen denken. Wenn sie zu Bette gieng, putzte sie sich nicht ohne Weile in ihrem blanken Jäckchen und Häubchen vor dem Spiegel zusammen, ob sie schon Niemand mehr zu Gesichte bekam, selbst der Vater nur selten, und wenn sie vor dem Schlafengehen ihr Kopfkissen zur Zufriedenheit glatt gestrichen, küßte sie stillvergnügt das Linnen da, wo sie das Haupt hinlegen wollte. Wer vermag zu sagen warum? sie selber wußte es am wenigsten, wenn nicht anders, weil es ihr so gefiel.

Früh zu Bette und früh heraus, war sie der Liebling der Mägde, denen sie fleißig an die Hand gieng. 100 Eine alte Dienerin, die ab und zu noch im Hause auszuhelfen kam, meinte, sie gliche ihrer seligen Mutter am meisten, wie sie mit Küchengeräth und Waschzeug zu hantieren pflegte. Sie verschwor sich dabei hoch und theuer, der Segen des lieben Herrgotts sei bei dieser Weise und so könne es dem Kinde nicht fehlen.

Dagegen war in der Art, wie Fanny das Haupt hielt, etwas von des Vaters trotzig bestimmtem Wesen, nur daß es freier und beweglicher über der zierlichen Büste saß. Die Hände waren noch immer etwas röthlich anzusehen und hart und knöcherig zu fühlen. Genialische Menschen haben keine solchen Hände; aber Fanny's Hände waren ja nicht berufen den Fiedelbogen zu führen, noch waren sie den Pinsel zu meistern je gemüßigt worden, auch rührten sie Feder und Dinte nie ohne dringende Veranlassung an. Diese Hände griffen nie nach Gegenständen, die sie nicht kannten, selten und nicht ohne Scheu nach solchen, mit denen sie nicht genauer vertraut waren; aber was sie einmal ergriffen hatten, hielten sie fest und sicher und sahen doch in ihren bequemsten Handschuhen so niedlich in die musternde Welt, als gehörten sie einer geborenen Prinzessin. Wenn Fanny Pyrian, was selten geschah, im Regenwetter über die Straße gieng, blieben die Sachverständigen stehen und bewunderten die feinen Knöchel, den bogenförmigen Reihen und die zierlichen Sohlen 101 ihrer Stiefelchen, Sohlen, die nicht viel länger waren als Beißerle's Nase und nicht breiter als ihres Vaters rechter Daumen. Und wenn die Löwen der Stadt zusammensaßen in geistreichen Erwägungen, was alles heuer für neue Backfische auf den Bällen einzutanzen sein möchten, und regelmäßig zu dem summarischen Resultate kamen, es würde nicht viel Gescheidtes zu sehen sein, erhoben sich endgültig feierliche Proteste und man nannte im schmunzelnden Vorgefühl künftiger Freuden mit ernster Uebereinstimmung den Namen: Fanny Pyrian.

Die nächste Carnevalszeit ließ denn auch nicht lange mehr auf sich warten. Vater Pyrian führte seine jüngste und nunmehr einzige Tochter mit unverhohlenem Stolze auf die tanzenden Feste der Vollbürger und Bürgermilizgrenadiere.

Der breithändige Schmied pflegte dort mit etlichen ebenbürtigen Biedermännern eine für unverbrüchlich begutachtete, barbarische Tanzordnung aufrecht zu erhalten. Unter seinen rasch dazwischen greifenden Fäusten erkrachten die erprobtesten Frackschösse in ihren Nähten und kein Bitten und Betheuern der Ertappten vermochte seinen Ordnungsfanatismus zu rühren.

Zu den Bällen der Vollbürger und Bürgermilizgrenadiere wurden regelmäßig eine runde Anzahl hochadliger Kundschaften eingeladen. Selbst Träger von Hofchargen versäumten nicht, auf ein Stündlein ihre 102 Herablassung vor den vormärzlich gerührten Ehrenmännern des dritten Standes leuchten zu lassen. Diese renommirten vier Wochen lang in allen Verkaufsbuden und Rechenstuben mit den noblen Herrschaften, welche ihrer Gesellschaft die Ehre des Besuchs angethan, und wußten auf die Minute, wie lang ein jeder der leutseligen Halbgötter und Centauren es unter niederer Menschensorte ausgehalten. Jene besuchten die Bälle der Rotüre, welche sowohl wegen ihrer frischen Mädchengesichter, als auch wegen ihrer kleinbürgerlich prahlerischen Toiletten in Ruf standen, mit ähnlicher chronischer Selbstverläugnung wie andere Menschenkinder ein Stündlein sich auf einem Grisettenball umzusehen lieben. Dieser oder jener blieb auch einmal etwas länger, denn er hatte einer im Ruhm galanter Abenteuer stehenden jungen Hausfrau einen Walzer zugesagt, ein anderer wollte sich gegen einen empfindlichen Gläubiger möglichst amiabel bezeigen, welcher ihm eine lange gestundete Rechnung mit sammt der Einladungskarte zum heutigen Ball unter ein und demselben Couvert zugeschickt hatte u. s. w.

Der alte Graf von der Schneppe, der jahraus jahrein seine Pferde in der Tuberkelburg beschlagen ließ, kam in einer Pause mit herablassenden Grüßen langsam auf Vater Pyrian zu und machte ihm sanfte Complimente seiner schönen Tochter wegen.

Pyrian legte das selbstzufriedenste Lächeln auf seine 103 Lippen und sagte hauptnickend und augenzwinkernd, als wollte er sich mit einer Insolenz entschuldigen: »bürgerlich Blut, Herr Graf, bürgerlich Blut!« dann fädelte er, auf daß er später dessen sich berühmen könne, ein Gespräch über hohe Politik und Bürgermilizkraft mit dem Hofmann ein und bemerkte endlich, daß höchstdesselben Sohn die väterlichen Ansichten über seine Tochter emsig und dienstbeflissen zu theilen schienen.

Helmtrost von der Schneppe, ein schlanker, schmächtiger, stolzer Jüngling mit edlen Zügen und schwarzen Locken, der Sohn einer italienischen Fürstin, war erst vor kurzer Zeit von den Gütern im Elsaß zurückgekehrt, woselbst er auf und wider Wunsch seines Herrn Vaters Mancherlei gelernt hatte. Dieser fand, der junge Herr sei zu leichtsinnigen Streichen über Gebühr aufgelegt, doch da selbe zu den noblen Passionen gehörten, ließ er ihn gewähren und betonte blos zuweilen den Kostenpunkt.

Helmtrost hatte sich in der Gesellschaft der Vollbürger und Bürgermilizgrenadiere, die er auf Wunsch seines Vaters mit diesem besucht hatte, um seine gewohnte Spielhölle versäumen zu müssen, Helmtrost hatte sich bejammernswürdig gelangweilt, bis er auf Fanny Pyrian gestoßen, und hielt sich nun an dieser schadlos für verwichenes Unbehagen. Seinem Beispiel folgten etliche Freunde, die Zufall oder Verbindlichkeit 104 an den gleichen Ort geführt. Und so kam es, daß des Schmiedmeisters fünfzehnjähriges Töchterlein den ganzen Abend lang fast blos mit Grafen und Baronen tanzte.

Da der Vater so bald als möglich ihr von der ehrenvollen Unterhaltung mit dem Alten von der Schneppe Bericht erstattete, so meinte die Kleine kein Unrecht zu thun, wenn sie ihrerseits gegen den Sohn des Herablassenden sich in Freundlichkeiten erschöpfte. Sie tanzte mit ihm – der selbstverständlich die Regeln der guten Gesellschaft für die Bälle der Rotüre suspendirt hielt – so oft er's nur haben wollte und ließ sich von ihm einfädeln und ausfragen, so daß Helmtrost gegen Ende des Balls den ganzen Lebenslauf der nächsten Woche auswendig wußte.

»Ein reizendes Kind!« sagte einer der Freunde Helmtrost's zu diesem, der eben im Damenwalzer ausgezeichnet, Fanny auf ihren Platz zurückgebracht hatte.

»Wohl wahr,« versetzte der Angeredete leichthin, »aber lieber Max, schlecht erzogen, sie ist unausstehlich höflich.«

Der dicke Max lachte und der Andere fuhr vertraulich fort, indem er Arm in Arm mit dem Freunde eine Tour durch den Saal machte: »Indessen gefällt mir das Ding bei alledem ganz außerordentlich. Das Kind hat Race und alle ihre Thorheiten, selbst die kindische Backfischfreude läßt ihr trefflich!« 105

»Aber sie tanzt mittelmäßig!«

»Wie alle Remonten; das wird nächstens schon besser gehn.«

»Du hast Dich ihr wohl als Lehrmeister angeboten.«

Helmtrost preßte den Arm seines Freundes und sagte kaum hörbar: »Zu mehr als Einem Stück.«

Max blieb unwillkürlich stehn und rief im Ton unwilligen Staunens »dießmal machst Du mir was weiß.«

Der Angefochtene ließ den Arm los und hielt die Hand hin: »parié que?« der Andere schlug ein.

– »Teufelsjungen die vom Adel! das muß immer schwören und wetten!« sagte Meister Pyrian, welcher durch Helmtrost's letztes lautes Wort aus irgend einer anderen gemeinnützigen Betrachtung aufgeschreckt worden war. Und er gieng gravitätisch zu seiner Tochter hin, um ihr von der lieben Lustigkeit der jungen Herrn vom Stande zu erzählen. 106

 


 


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