Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Noch waren keine vier Monate in's Land gegangen, da galt Vitus als der frechste, unbändigste, bösartigste Range in der Pension Beißerle und in der Tuberkelburg als von unterst bis zu oberst. Seinen Abscheu gegen die griechische Grammatik vermochten weder Schläge noch Fasten zu brechen. Professor Beißerle klagte über Widersetzlichkeit und Unfleiß, über Heimtückerei und Bosheit, die Hausgenossen über allerhand Schabernack, der Burgherr über Mangel an derjenigen Hochachtung, welche Jugend und Armuth einem »Hausbesitzer im besten Mannesalter« schuldeten. Die Küchlein Pyrians, die sonsten gern standhielten und gafften, drückten sich still zur Seite, wenn Veit in der Freistunde trällernd und polternd über die Leitern herabsprang oder rittlings auf dem Stiegengeländer niedergerutscht kam. Auch hatte ihnen der Vater das Spielen mit dem »Bauernbuben« auf dem Hofe als unter der Würde von »Bürgerssöhnen« verboten.

Dafür war jener der Abgott seiner sechs Genossen. Einseitig allen überlegen machte er für die ganze Bande die lateinischen Aufgaben, wogegen diese ihm seine griechischen Pensa dictirten. Voran im Sturm am Tage, und listig im heimlichen nächtlichen Rath, galt er ohne 42 Widerspruch als Rädelsführer, wogegen er auch in zweifelhaften Fällen auf sein hartes zottiges Bauernhaupt nahm, was andere verbrachen, ohne es einzugestehen.

Auch die Schmiedegesellen im Erdgeschoß der Tuberkelburg mochten den rührigen Knirps gern leiden, seitdem er von Beißerle Prügel bekommen, weil er einmal ganz schwarz berußt an Kleidern und Gesicht nach der Freistunde in die Pension zurückgekehrt war. Sie nannten ihn scherzweise den Zwerg vom Dach, litten ihn, der sich immer mehr auf die halbvergessenen Trutz- und Schelmenlieder seiner Hirtenzeit besann, gern unter sich und gaben ihm Fleisch zu essen und Bier zu trinken, wofür er ihnen großen Dank wußte, denn zu trinken gab's in der Pension nur Cichorien-Kaffee, verdünnte Milch und klares Wasser, wovon aber der Kaffee lediglich dem Präceptor zu Gute kam; Fleisch sahen die Zöglinge höchstens fünfmal die Woche, weil – wie Beißerle sagte, die Frau, welche für sie kochte, gut katholisch wäre und sich nicht entschließen könnte, an Freitagen und Sonnabenden anderes denn Wassersuppen und ähnliche Fastenspeisen zu bereiten. Aber auch die fünf programmgemäßen Fleischmahlzeiten in der Woche fielen spärlich genug aus und waren durch Carrenzdictate, welche man sich in den Regelscriptionen zugezogen, auf drei oder viere beschränkt, so daß nie zu fürchten war, die Speckseiten und Steinkrüge, von denen die Schmiedegesellen 43 dem Zwerg vom Dach anboten, würden zurückgewiesen werden.

Als aber der alte Pyrian einmal wider Gewohnheit um die Freizeit des Instituts in die Schmiede kam, fand er den kleinen Gegenstand seines Aergers mitten in der Werkstatt auf einer Wagendeichsel reiten und hochvergnügten Müßiggangs bald in die sprühende knisternde Feueresse, bald in einen mäßigen Bierkrug hineinschauen, den er mit beiden behaglichen Händen hielt. Da ward Veit auch diese Zufluchtsstätte verschlossen. Der Hausherr meldete in einem feurigen Zwiegespräch dem trostlosen Schultyrannen, wie und wo seine Sträflinge seine Fastendictate verschmerzten, und verbat sich den Besuch der Pensionäre in der Schmiede auf's Nachdrücklichste.

Furchtbar entlud sich der vor dem Mächtigeren sorgsam verhaltene Aerger, und für den armen Veit gab es von nun an gar keine Freizeit mehr. Wenn die anderen im Hofe herumlärmten oder Maulaffen feil hielten, mußte er Geschirr abspülen oder Hefte falzen, Federn vorschneiden, Brennholz klein machen oder anderes dergleichen verrichten. –

Es war an einem Sonntag im October. Die andern Zöglinge, soweit sie nicht bei Verwandten in der Stadt ausgebeten waren, hatten mit dem Mathematiklehrer der Anstalt einen Spaziergang über Land 44 gemacht. Dieser Mathematiklehrer, früher selbst ein Zögling der Pension, wurde von Beißerle auf die verschiedenste Weise ausgebeutet. Er gehörte zu jener Gattung idealistischer Naturforscher, die keinen Scheitel im Haar und grüne Brillengläser in verbogenem Drathgestell tragen, die, so unerschütterlich sie an ihre wissenschaftliche Bestimmung glauben, statt diesem Beruf durch consequente Thätigkeit näher zu rücken, im sorglosen Bewußtsein ihrer Unfehlbarkeit vor der Hand die Zeit damit hinbringen, daß sie schlechte Verse machen. Die Verse dieses Ungescheitelten waren in der That recht schlecht, aber sein Herz war um so viel besser und in dieser Güte seines Herzens wandte er zwei Dritttheile des Geldes, was er die Woche hindurch in der Pension Beißerle verdiente, dazu an, deren ausgehungerte Zöglinge hinter dem Rücken des Rectors an Sonntagen zu tractiren.

Auch an diesen sonntäglichen Freuden durfte der unverbesserliche Veit nicht mehr Theil nehmen.

Die ganze Pension war ausgeflogen, der einzig Zurückgebliebene befand sich auf dem Vorplatz über den Leitern. Die Thüren waren verschlossen und durch die unverschließbaren Dachlucken strich der naßkalte Herbstwind mit heftigen Stößen.

Vitus hauchte in die Fäuste oder schlenkerte die ausgestreckten Arme gegen einander oder trampelte mit 45 den Sohlen auf dem alten Bretterboden, um sich warm zu erhalten. Das linke Bein war mittelst eines langen Bindfadens an das morsche Geländer des Treppengangs gebunden, so daß er nur wenige Schritte nach rechts und links zu machen im Stande war. Auf einem Schemel nächst dem Geländer lagen Schreibmaterialien und Lexica neben dem riesigen Dintenkübel des Präceptors. Aber Veit würdigte all das Rüstzeug der Gelehrsamkeit mit keinem Blicke, er trällerte auf dem Estrich umher, soweit es seine hänfene Fessel erlauben wollte, und schien verruchten Gedanken nachzuhängen nach Herzenslust.

Er versuchte mehrmals sich so lang als möglich auszustrecken, um, ohne seine Bande am Fuß zu lösen, die Thüre der Pension mit den Händen zu erreichen. Es wollte nicht gelingen, dann stampfte er zornig mit dem freien Fuß auf und sah grübelnd zu Boden. Da bemerkte er zu seinen Füßen das graue getiegerte Kätzlein, welches ihm am Tage seiner Ankunft die steilen Wege der Tuberkelburg vorangehinkt war. Es putzte sich und sprang und zerrte mit großem Behagen eins seiner Uebungshefte auf den Brettern hin und her, daß die bei dieser Unterhaltung losgewordenen Blätter nach allen Seiten auseinanderstoben.

Veit hatte die Frevlerin mit einem raschen groben Griff am Schweif erwischt und hielt nun streichelnd und 46 schmeichelnd in dem putzigen Thierchen die unverhoffte Gelegenheit guter Unterhaltung fest, denn er wußte, daß Kind und Katze sich selten oder gar nicht von einander trennten. Unter dem linken Arm die Katze, mit dem rechten sich im Gleichgewicht haltend, lehnte er sich bis an den Bauch über die knarrende alte Holzbrüstung und spähte mit ungeduldigen Augen in den tiefen Abgrund des Pyrianischen Stiegenhauses hinab.

»Fannele, Fannele,« rief er mehrmals hintereinander, erst schüchtern und ganz leise, dann dreister und lauter und wog dabei fortwährend seinen starken Leib über dem schwanken Geländer, aber es kam keine Antwort.

Der Angebundne lachte still vor sich hin, dann zwickte er die Katze mit den Fingernägeln in den Schweif, daß sie einen schrillen unwilligen Ton ausstieß. Alsbald ertönte auf dem zunächst unter der Pension liegenden Treppenabsatz ein helles scheltendes Stimmlein:

»Willst Du meine Mieze loslassen, Du Thunichtgut Du?«

Und nach kurzer Pause fuhr dieselbe Stimme milder fort und fragte:

»Willst Du was von mir, Veitel?«

»Ja,« sagte der Gefangene, »komm zu mir herauf, ich habe Hunger und Langeweile und Du hilfst mir wohl von Beiden.«

»Du willst mich doch nicht fressen?« erwiderte das 47 Mädchen, welches bereits den einen Fuß auf der untersten Stufe spielen ließ.

»Nein,« war des Oberen Antwort, »allein gute Unterhaltung läßt den Hunger verschmerzen. Wenn Du aber nicht gleich kommst, so bring' ich Deine Katze um's Leben und werfe sie über's Dach, daß sie der Teufel holt.«

»Du Abscheulicher!« rief Fanny Pyrian, die mit ein paar Sätzen die Treppe heraufgesprungen war und mit der flachen Hand nach Veit schlug. »Gieb mir die Mieze wieder und ich gebe Dir dafür mein Butterbrod.«

Der Tausch war bald geschehen. Veit warf die Lexica vom Schemel und streckte sich zu seiner improvisirten Mahlzeit breit behaglich nieder. Da nun für Fanny kein Platz übrig war, so setzte sich die kleine sofort auf Veits Dickbein zurecht. Auf ihrem Schooß saß die Katze, die nach Veits Butterbrod haschte. Der schlug ihr sachte auf die Pfoten, gab ihr aber doch von seinem Wenigen, wenn ihn die Herrin der Unverschämten ansah.

»Weil Du der Mieze vom Brode giebst,« unterbrach das Mädchen des Freundes geschäftiges Schweigen, »so geb' ich Dir dafür noch was Besseres, das ich Dir mitgebracht.« Damit langte sie aus jedem ihrer Schürzentaschen je ein in mehrfaches Papier gewickeltes 48 Würstchen, in welche nun der Sträfling Beißerle's dankbarst einbiß.

»Woher hast Du denn die Würste?« fragte der emsig Kauende.

Und die Mildthätige versetzte: »Die eine schickt Dir der Altgesell, denn, sagt er, Dein alter Geizkragen schinde Dich über Gebühr und Nothwendigkeit; die andere ist von mir.«

»Welche?« fragte Veit mit Lachen.

»Die große!« war Fanny's triumphirende Antwort.

Nachdem die Speisung beendet, bat der Schüler seine kleine Freundin hinter einem im Schatten stehenden Brett an der Wand ein Buch hervorzuziehen. Es war der schweinslederne Foliant mit Holzschnitten, in welchen vertieft wir Pyrian's Jüngste zuerst gesehen, ein schwulstiger Bericht von fabelhaften Reiseabenteuern voll Riesenschlangen und Meerfrauen, farbigen Völkern und schiffbrüchigen Seekönigen. Veit gab der Kleinen das Buch zurück und bat sie, »von der Frau im dritten Stock« nun wieder ein anderes für seine bösen Stunden auszuleihen, wo möglich ein handlicheres, das er auch innerhalb der Pension genießen und verstecken könnte.

Fanny nickte ihm zu, dann fragte sie, warum er sich nicht losknüpfe.

»Weil ich nicht will!« gab jener zurück. »Der Professor ließ sich in die Hand versprechen, ich würde 49 mich nicht eher losbinden, bis ich die zehn Kapitel, die er mir aufgegeben in's Griechische übersetzt hätte.«

»So mach', daß Du fertig und los wirst.«

»Ach bah, ich habe noch gar nicht angefangen.«

»Aber dann haut er Dich, wenn er heimkommt,« warf die Kleine rasch ein, indem sie ängstlich ihre Stirn runzelte und den Mund offen stehen ließ.

»Liebes Kind,« beruhigte sie der Faullenzer mit altklugem Ton, »das geschieht so wie so. Denn wäre das leidige Griechisch meine Muttersprache und hätte ich den Wortkram dieses Schmökers im Kopf wie das Einmaleins – dabei stieß er sein Wörterbuch mit dem Fuße von sich – ich könnte mit der Menge Schreiberei ja doch nicht zu Ende kommen, bis es Abend wird. Vermöcht' ich aber auch das und böt' ich dem heimkehrenden Quälgeist schwarz auf weiß und Streusand darauf, was er im Unmuth von mir haben will, er fände doch einen Tintenklex oder ein Dutzend vergessener Beistriche oder sonst so etwas Wichtiges, was Grund genug gäbe, um mich doch recht gottsjämmerlich durchzuwalken. So mach' ich lieber gar nichts, dann weiß ich doch, warum ich meine Schläge kriege.«

»Kriegst Du heut noch Schläge?« fragte das Kind und schlang unwillkürlich ihre Arme um den Hals des Knaben.

»Larifari!« lachte dieser, nahm das Mädchen wie 50 ein Wickelkind auf die Arme und während es aus vollem Halse kicherte, trällerte er mit Eiapopeya und Dusalada ein lustiges Wiegenlied, das ihn einst die Dirnen auf dem Dorfe gelehrt.

Dann rannte die Kleine im Kreis um den Angebundenen herum und ließ sich unter Klatschen und Gelächter fangen und halten.

Dann nähte sie mit grober Nadel und gröberem Faden aus Veit's zerrauftem unbeschriebenen Hefte ihrer Katze eine siebenfache Halskrause, auf welche der dankbare Zögling Beißerle's diesen seinen vielgeliebten Zuchtmeister fünfundsechzig Mal in verschiedenen Karrikaturen abbildete, aber nie ohne Kaffeeschale und Regenschirm.

Während dieser sorgfältig unter steigendem Gelächter zu Ende geführten Arbeit war es allmälig dunkel geworden; in der sonntagstillen Tuberkelburg giengen die Thüren der Heimkehrenden auf und zu, Schritte dröhnten und Stimmen wurden von unten laut, ein schellenklirrender Wagen hielt vor dem Hause. Das war Pyrian, der Vater mit dem Rest der Familie, und Fanny, das Haus hütende Kind, ließ Freund und Katze und Kragen stehn und trabte halb aus Angst, ertappt zu werden, halb aus Freude, den Vater und die Pferde zu sehen, eiligst die Leitern und Treppen hinab.

Veit war wieder allein. Er sah hinaus auf die feuchten Dächer der Nachbarschaft, die alle tief unter 51 dem Giebel Pyrian's zurückblieben, er sah auf den aschgrauen, dunkelnden Himmel, von dem ein feuchter Windstoß über sein von Spiel und Scherz erhitztes Antlitz hauchte. Ein trübselig eintöniges Geläute drang vom nächsten Kirchthurm her, finsterer ward die Dämmerung und Veit dachte heim an den Sonntagabend in der Pfarrstube, an die Hopfenernten der Heimat, die auch jetzt vorüber waren ohne ihn; er dachte auch an die immer verstimmter klingenden Briefe seines Wolthäters, welcher sich über seine Faulheit im Griechischen bitterlich beklagte, da sie ihn von dem zum Herbste gehofften Eintritt in eine seinem Alter entsprechende Gymnasialklasse zurückhielt. Endlich dachte er auch an sein versäumtes Pensum, an die Heimkehr Beißerle's, des raschfäustigen, und an die Tracht Schläge, die ihm heut' Abend noch bevorstünde. Da fröstelte ihn ein wenig und Wehmuth überkam seine unbändige Seele.

Mittlerweile kam Curt von Quitzen nach Hause, ein Zögling der Pension, welcher bei seinem Onkel in der Stadt, einem reichen und wohlangesehenen Manne, zu Tische ausgebeten gewesen. Veit erkannte den Leidensgenossen schon, da dieser noch auf der untersten Stufe des ersten Stockwerks anstieß. Curt von Quitzen schien die ungewohnte Freiheit mißbraucht und ein wenig über Maß getrunken zu haben. Es währte eine starke Halbestunde, bis er über alle Leitern war, dabei 52 stolperte er fortwährend, setzte sich zuweilen auf die Stufen nieder und sang dazu:

Knaster den gelben
Hat uns Apollo präparirt!

und dazwischen wieder mit energisch gehobenem Ton eines eben mutirenden jungen Herrn:

Das Schiff streicht durch die Wellen,
        Fridolin,
Vom Ost die Segel schwellen,
        Fridolin!

»Das wird heut ein schöner Abend werden!« dachte Veit in seinem Sinn, vor dem die Schreckgestalt eines mit Feuer und Strick bewehrten Beißerle seit den letzten Viertelstunden nicht mehr verschwinden wollte.

»Ha noch immer in Ketten und Banden, Sklavenseele?« brüllte Curt von Lachen unterbrochen, derweil er sich die kleine Mütze, die verkehrt auf dem kurzgeschornen rothen Kraushaar saß, unter dem Kinn fester schnallte und die langen Beine fortwährend über einander stiegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann sang er wieder wie vorhin:

»Segel auf und die Anker gelichtet,
        Fridolin.«

und ehe der andere sich's versah, fuhr er mit dem flink gezogenen Taschenmesser durch den Strick, welcher Veit's Bein an das Stiegengeländer fesselte!

53 »Kerl,« rief dieser den weinseligen Genossen an, »bist Du des Teufels? Du bringst Dich ja in Schläge, daß Dir die Knochen brechen!«

»Bah,« lallte der Aeltere, »was weißt Du? gute Nachrichten! Der Kaiser hat meinen Bruder zum Fregattencapitän ernannt. Wer will mich schlagen? Mein Bruder war um vier Jahre jünger als ich heute bin, da er auf die Minerva gieng, und ich soll mich von Beißerle prügeln lassen, ich, Curt von Quitzen-Quellenstedt. Zum Kuckuk mit allen Schulfüchsen! Fridolin!«

»Rede vernünftig, Curt,« unterbrach Vitus den Polternden. »Mit nächstem Donnerstag beginnt Dein zweites Halbjahr in der Anstalt; hast Du von Deinem Onkel die Erlaubniß zum Austritt aus diesem Zuchthaus endlich erwirkt und in der Freude ob dieses Entschlusses über die Schnur gehauen oder aber bringst Du, wie unser Bakulus erwartet, das Honorar für das nächste Semester und hast damit einen Umweg in ein Weinhaus gemacht?«

»Nichts Austritt!« ließ sich nun etwas ruhiger der Heimgekehrte vernehmen, »alles Reden und Bitten und Vorstellen war vergebens, mein Herr Onkel ist ein ganzes Roß.«

»Also hast Du das Geld?« unterbrach ihn Veit zuversichtlich. »Wenn der Alte Geld sieht, dann wird er milde; und giebst Du's ihm noch heut Abend, so mag 54 es das Aergste wohl Dir und mir ersparen, was uns außerdem unter sothanen Umständen unausweichlich bevorsteht.«

»Wohl hab' ich das Geld,« fuhr Curt von Quitzen trotzig heraus, »aber ich werde den Teufel thun und es dem Beißerle geben! Nicht einen roten Heller!«

Unter diesen Gesprächen waren die beiden Zöglinge ins Innere der Pension getreten, zu welcher Curt als der zuerst daheim erwartete den Schlüssel hatte. Die Thüren vom »Schlafsaal« in das »Museum« und von diesem in die Kammer des Professors waren nicht versperrt. Es währte nicht lange, daß die beiden Verschwörer dieses sonst nur in den Lehrstunden und bei Strafandrohungen zugängliche Gelaß nach allen Seiten hin durchstöberten.

Veit blieb auf einmal von wehmüthigen Gefühlen ergriffen vor der Bücherstelle stehen und blinzelte mit verdrehtem Kopf, wie der Fuchs in der Fabel nach den unerreichbaren Trauben, sehnsüchtig nach dem höchsten Fach empor.

»Schau,« sagte er mit gebrochener Stimme und zupfte den Freund am Rockschoß, »schau, dort oben steht mein schöner Horaz, den mir mein lieber Pflegevater (so nannte er den Landpfarrer), dereinst zum Abschied geschenkt, den mir der boshafte Schleicher aber wieder weggenommen und mit einem alten löschpapierenen 55 Schandexemplar vertauscht hat, das, obwol ein Dutzend Vorgänger Namen und Jahreszahlen auf alle Ecken geschmiert haben, denn doch mit dem Ladenpreis auf meiner Quartalsrechnung angesetzt ist.«

»So nimm was Dein ist, wenn Du nicht ein Hasenfuß bist,« schrie Curt und schob ihm den nächsten Sessel zu. Da aber Veit noch einen Augenblick sich besann, und bald nach dem Elzevir ausguckte, bald wieder sich hinter den Ohren kratzte, stieg der entschlossenere von Quitzen auf den Stuhl. Kaum daß der Jüngere dies sah, so rannte dieser den Angetrunkenen zur Seite, faßte das vorenthaltene Eigenthum vom Brett und warf es auf den Estrich, daß der Staub aufflog. »Zieh Deinen Winterrock an,« rief Curt hohnlachend, »dann spürst Du die Schläge weniger.«

»Nun geht's denn doch in Einem hin!« sagte Vitus, den die Hitze und Entschlossenheit des Aelteren angesteckt.

»Geh' heut in Einem hin was mag und will, ich denke, wir gehen morgen zuzweien hindann!« brummte Curt, der in einer Ecke hinter zusammengebundenen Heftballen bereits nach anderen Kostbarkeiten suchte. Und Veit erwiderte mit höhnischem Lachen:

»Zu Deinem Bruder, dem Fregattencapitän wahrscheinlich? oder gar an Bord des Schulschiffs Minerva, was?«

56 »Keins von beiden!« rief rasch der andere und pflanzte sich in männlicher Positur vor dem zweifelnden Kleinen auf. »Im Dienste des Kaisers würden wir nicht lange bleiben. Mein Vater würde jedenfalls Lärm schlagen und mein Bruder würde flugs die Hand nach mir ausstrecken. Und glaubst Du, ich will von einer Schulbank auf die andere springen? Gott bewahre mich! Also müssen wir nordwärts, Veitel, nordwärts müssen wir.«

»Du bist wohl ein ganzer Narr geworden über den Sonntag? Meinethalben geh Du hin, wohin Du willst. Ich bleibe, weil ich's dem Pfarrer schuldig bin.«

»So bleib, wenn Du willst, und laß Dich prügeln und aushungern, Du Häringsseele! Ich will Dich nicht in Gottes freie Luft zwingen. Für jetzt sage mir nur, ob Du nicht weißt, wo Beißerle seine Cigarren versteckt hält.«

»Warte!« erwiderte Veit nicht ohne Kränkung, so rasch abgefertigt und verschmerzt zu sein, und er legte sich auf den Bauch und schob sich also unter das Bett des Präzeptors.

Das erste, was er laut aufkichernd unter der niedrigen Stelle hervorschob, war ein großer mit Messing beschlagener Stiefelzieher, dann kamen etliche Hefte und endlich ein auf einer Seite erbrochenes Cigarrenkistchen.

Veit kroch hervor und schüttelte sich Staub und Spinngewebe ab, die ihm an Brust und Bauch kleben 57 geblieben waren, dann hielt er mit dem pathetischen Ausruf, »hier ist es, das giftig stinkende Schmauchkraut!« dem Freunde den Raub hin.

Dieser aber war ganz in das Anschauen des eichenen Stiefelknechts versunken, von dem er sorgfältig mit seinem Rockärmel den Staub abwischte und ihn dann in beiden Händen wägend mit Blicken der Freude betrachtete. Ohne die Augen von dem zweizinkigen Instrumente abzukehren, fragte er den staunenden Genossen:

»Glaubst Du, daß wir heut noch recht ordentliche Schläge kriegen?«

»Außerordentliche, ungeheure! ich glaube, wir werden auf etliche Tage daran zu kauen haben.«

»Also Rache!« rief Curt, »und Blut um Blut!« damit schob er vom Bette des Präzeptors den Federsack und die Decke zurück und legte den Stiefelzieher, die messingberingten Füße nach oben gekehrt, mitten auf das Lager. Dann reckte er beide Arme aus, verdrehte die grünen Augen und rief im salbungsvollen Tone eines Landstadtcommödianten:

»Sieh hier, Freund meiner Seele, die angelobte Braut unseres Hagestolzen! Wollüstig hingestreckt liegt sie auf dem schwellenden Strohsack, eingesegnet von den schmunzelnden Göttinnen der Gerechtigkeit und der Rache. Siehe, wie sie die glänzend beringten rundlichen Arme 58 sehnsüchtig ausstreckt nach dem säumigen Schatz, der, auf fernen Wegen über Regelscriptionen und Staatspapierverkäufe nachgrübelnd, sich nicht träumen läßt, welch' unverhoffte Freuden sein einsames Kissen beschritten haben. Dulde, gedulde Dich, würdige Gattin und harre im Verborgenen Deines Opfers!«

Damit ließ er die Decken niedergleiten und umarmte den Spießgesellen, der ihn mit ängstlichen Vorstellungen bedenklich machen wollte.

»Morgen gehts in die wogende See, Fridolin!« war die Antwort, mit welcher er alle Bangigkeit zurücktrieb.

»Aber, Mensch,« rief der Zaudernde, »wenn sich der Alte ein Leides dabei thut.«

»Donnerwetter!« warf der Andere ein, »wird er uns wohl zärtlich behandeln? Fiat justitia, pereat Beißerle! Und wär' es, daß er heimkäme wie ein Mensch zu Menschen heimkommt, wär' es, daß er uns nicht prügelte wie junge Jagdhunde, kann ich nicht noch immer zeitig genug den Stiefelknecht aus dem Bette nehmen?«

So ward mit dem Siegel der Wiedervergeltung die heimtückische That beschlossen und die Gedanken der Schüler giengen andere Wege. Der ungewohnte Genuß des Tabakrauchens hatte auch den nüchternen Veit in aufgeregte Stimmung versetzt. Wie die Flamme eines nachbarlichen Hauses immer mehr und mehr nach dem 59 unversehrten Gebäude herüberleckt, so züngelten die Reiselust und der Wanderplan seines Cumpans immer empfindlicher und gefährlicher nach seiner Seele.

Qualmende Dampfwolken, wie sie das »Museum« der Pension Beißerle noch nimmerdar gerochen, erfüllten die schmale Dachstube. Es war so finster geworden, daß weder ein Mensch noch ein Pult zu unterscheiden war. Nur zwei glühende funkelnde Pünktchen, die frevelhaften Cigarren der beiden Projectmacher, belebten das formenlose Dunkel wie das Augenpaar eines Raubthiers seine Höhle, und Stank und Unheil gieng von ihnen aus.

Aber auf die nachtverhüllten Wände dieser Bodenkammer malte die erhitzte Phantasie der beiden Leidensbrüder in bunten beweglichen leuchtenden Träumen das krause Schattenspiel ihrer Hoffnungen, ihrer Wünsche. Eine volkreiche Stadt stieg aus der Finsterniß empor mit Giebeln und Thurmdächern und der letzte der Thürme war ein riesiger Leuchtthurm, weit hinausschauend in die wellenwerfende See, aus deren rundbauchigem Hafen ein ragender Mastenwald gegen den wolkenlosen Aether starrte. Auf den glatten Mastbäumen schwänzelten rothe Flaggen in die blaue Luft und unter den rothen Fähnlein rutschten flinke Matrosen mit weißen frischgewaschenen Sommerhosen und arzurnen Hemden auf und nieder. Auf dem Haupte trugen sie zierliche Hütchen von glänzender Wachsleinewand und an den Füßen die 60 Lackschuhe der Debardeurs, ein ausländischer Shawhl umschloß den wohlgenährten Bauch. Da feuerten die Kanonen des Decks, der Schlot keuchte, die schaufelnden Räder sprühten das salzige Wasser nach allen Himmelsgegenden und die Scenerie des Schattenspiels verwandelte sich mit Blitzesschnelle: bald war ringsum nichts mehr zu sehen als blauer Himmel und wogendes Meer, ewige Freundschaft und steifer Grogh.

Und ein ferner Segler kommt in Sicht, aber man erreicht ihn bald und erkennt ihn noch bälder. Tunesische Corsaren fliehen auf ihm vor den Kanonen der gerechten Verfolger. Sie tragen riesige Turbane mit Blitzableitern auf den Schädeln, um die Lenden halbmondförmige Damascener und an den Füßen aufwärtsschnäbelnde Pantoffel von gelbem Saffian. Ihr Raub sind cyprische Weine und paphische Mädchen, gazellenaugige Sklavinnen, die ein dunkelrothes Feß in den blauschwarzen Locken und am kleinen Finger einen kostbaren Brillantring tragen. Den kurzen Säbel zwischen den Zähnen, in beiden Fäusten mannslange Pistolen, fliegen Veit und Curt über das ächzende Enterbrett. Die Muselmännerleichen stürzen in's Meer, Wein und Weiber sind der Lohn der Sieger, das Heidenschiff wird in's Schlepptau genommen und weiter, weiter geht die glückliche Fahrt.

Endlos dehnt sich die Wasserwüste und windstill ohne Wellenwurf liegt die ungeheure Meeresfläche. Die 61 Vorräthe der beiden Schiffe sind bereits verzehrt; das süße Wasser und der süßere Wein sind draufgegangen; die Griechinnen liegen mit verschmachtenden, halb geöffneten Lippen in der Cajüte wie gebrochne Blumen unter der Mittagssonne und Curt und Veit spielen eine Partie Sechsundsechzig um das Menschenrecht der hungerleidenden Verzweiflung: wer den andern morgen zum Abendbrot verspeisen dürfte.

Blutroth wie ein Symbol der Unbarmherzigkeit versinkt auf irgend einer Seite die Sonne in die regungslose See und Veit und Curt liegen bäuchlings mit emporgehaltenen Sohlen in dem leiseschwankenden Mastkorb. Sie spähen mit colossalen Fernröhren in's Weite und sehen – Nichts. Allmälig erblassen die Strahlen am Horizont, Thränen treten in die Hornhaut der abgehärteten Matrosenaugen, da plötzlich giebt Curt dem Veit und Veit dem Curt einen gleichmäßigen Rippenstoß in die Seite, daß der Mastbaum erzittert. Sie wischen sich die verdunkelnde Thräne aus dem für unzurechnungsfähig gehaltenen Auge; ein fester Blick noch durch den Tubus und »Land! Land!« schallt es unisono von ihren triumphirenden Lippen.

Es dunkelt schon gar mächtig, als sie nach furchtbarer Seemannsarbeit endlich das Eiland betreten, das unbekannte, auf keiner irdischen Landkarte bis dato noch verzeichnete. Da kommen ihnen mit Fackeltänzen und 62 klingendem Spiel die Insulaner entgegen. Sie sind von einer namenlosen Farbe, tragen zierlichbunte Federschürzen um ihre Lenden, goldene Barbierschüsseln in den Ohren und in der Nase einen Triangel von Platina; in den Händen halten sie die thönerne Friedenspfeife und ausgehöhlte Kürbisköpfe voll köstlichen Palmweines. Ihren Schritten folgen ihre Heerden, Riesenschafe mit Alongeperücken, über ihren Häuptern flattern blickeblendenden Flügelschlags zwischen vielfarbigen Papageien die winzigsten Kolibris.

Und die Eingeborenen beugen ihre Kniee und kreuzen ihre Arme. Sie ergötzen die Fremdlinge mit Waffenspielen und religiösen Cultustänzen; sie führen sie in ihre Hütten aus wasserdichtem Bambus und wohlriechenden Binsenflechten; sie weisen ihnen die geheimnißvollen Wege nach den Goldmienen und den Edelsteinbergwerken des wunderreichen Landes. Veit und Curt haben alle Säcke voll Kostbarkeiten, alle Fässer voll Palmwein, alle Hände voll Weihwasser; sie predigen den staunenden Wilden das Evangelium und die Civilisation und taufen und firmen und segnen vom Morgen bis zum Abend. Mit den Fürstentöchtern des Landes zeugen Curt und Veit ein heldenreiches Königsgeschlecht gesprenkelter Hautfarbe, welchem göttliche Verehrung und alle Vortheile der herrschenden Kasten zu Theil werden.

63 Aber die Pflicht ruft und der Capitän pfeift und die Väter der Helden besteigen wieder das schwankende Brettergebäude. Die glückselige Insel, die sie Vater des Vaterlandes benamset, versinkt hinter ihren grüßenden Blicken. Veit und Curt leben in höchster Achtung und schreiben in der Cajüte des Capitäns ein großes dickbändiges Reisewerk, welches zu gleicher Zeit in vier lebenden Sprachen und in der lateinischen abgefaßt wird. Die höchsten Orden der mächtigsten Potentaten verfolgen sie schaarenweise auf ihren neuen Fahrten, das flottenmächtige Albion bietet Unsummen, die beiden Genies für seine Dienste zu ködern. Schon nähern sie sich auf dem haushohe Wogen jagenden atlantischen Ocean der schottischen Küste und die Wunder der Fingalshöhle beschäftigen ihre Neugierde.

Da kommen niedrigfliegende Möven über's Deck geschwankt. Ein räthselhafter Vogel sitzt ächzend wie eines Scheerenschleifers Feile auf dem Kasten der Magnetnadel. Der Wind bläst aus allen Ecken der Rose zu gleicher Zeit. Den beiden Weltumseglern wird so böse zu Muth, als hätten sie ungewohnt wohlfeilsten Tabak geschmauchet. Und aus den Wassern erhebt sich wirbelnd, thurmhochwachsend, phosphorisch glühend, eine breite weiße Wasserhose, die Schiff und Schlot und Mann und Maus zu begraben droht.

Schaudernd schmiegen sich die Meerhelden mit 64 umklammernden Armen an einander, Angstschweiß perlet von ihren heißen Stirnen. Die schaumgekrönte Wasserhose thut sich mitten auf wie eine Flügelthüre. Und aus den Flügeln tritt ein hagerer Mann in abgetragener enropäischer Kleidung; er hält in der linken Hand einen messingenen Leuchter, in der rechten einen rostigen Hausschlüssel; seine Kniee zittern vor Aerger, sichtbar erhebt sich der alte zerbürstete Hut auf den weißen sich sträubenden Haaren. Die wasserblauen Augen irren hin und her und die welken bebenden Lippen schreien:

»Wer hat Ihnen erlaubt im Museum Cigarren zu rauchen?« –

Glückliche Wikinger, wäre diese Frage Beißerles einzige gewesen! Aber Beißerle fragte nun Viel und Mancherlei, Beißerle fragte nach Allem und Jedem, nur nach den stolzen Meeresschaumträumen der beiden Weltumsegler fragte er Nichts.

Schon am Geruch, der durch das Museum qualmte, erkannte er, wessen Eigenthum die beiden hatten in Rauch aufgehen lassen. Schon auf dem Vorplatz der Wohnung hatte er den Strick am Geländer untersucht und ihn statt gelöst zerschnitten gefunden. Schon an der Schwelle der Tuberkelburg war die durch die siebenfache Krause geängstigte Katze Pyrians über seine Füße gesprungen und er hatte die vergeudeten Hefte, sowie die darauf geklexten Conterfeie bald als die 65 seinigen erkennen müssen. Läugnen war so fruchtlos wie Schweigen. Schon jedes dieser Verbrechen wäre für sich allein jener Strafen würdig gewesen, welche in der Pension als die ärgsten galten. Aber selbst die Cummulation all dieser Schandthaten trat vor dem letzten empfindlichen Gräuel, der Beißerle hier wiederfuhr, weitab zurück wie unbewußt irrende Unschuld.

Der Professor hatte nämlich, vorsichtig, wie er und insbesondere an Zahltagen war, noch in der Dämmerstunde einen Besuch bei Curt von Quitzen's Onkel gemacht und von diesem die Auskunft erhalten, sein Zögling sei bereits, mit dem Semesteralbetrag ausgestattet, nach Hause zurückgekehrt.

Mit der Freude im welken Herzen spielend, daß er in kurzen Augenblicken neue Thalerscheine einstreichen und versperren könnte, war Beißerle heimwärts geschlichen und weder die Katze auf der Thürschwelle noch der Strick am Treppengeländer noch endlich der Tabaksdampf im »Museum« hatten diese Freude bleibend zu verdüstern vermocht. Nun aber Curt so weit in der Schlechtigkeit gieng, daß er dem Präceptor den Empfang des Geldes in's Angesicht ableugnete, und Veit so weit, daß er dieser Lüge durch hartnäckigste Betheuerungen secundirte, gerieth der gequälte Geizhals in eine Stimmung, als schlügen ihm heiße Flammen aus beiden Augen und Ohren.

66 Die Zunge versagte ihren Dienst, er schnatterte mit den Zähnen, das Wasser trat ihm vor die Lippen und vergebens versuchte er Worte zu gewinnen, während er vor Aerger, Angst und rathloser Ungeduld die beiden geballten Fäuste aneinander klopfte und rieb. Endlich löste sich seine Zunge und er schalt und herrschte, ja er fluchte, er bat und winselte im Ton eines Weinenden, sie sollten ihm »nur Das« nicht anthun; zuletzt versprach er Veiten Straflosigkeit und – königliches Abendessen, wenn er von dem Verschworenen abfallen wollte. Aber die beiden Spitzbuben schwiegen und zuckten die Achseln und hielten unerschütterlich zu einander. Da fuhr die Wuth mit verdreifachender Stärke in Beißerle's knochige Fäuste. Er packte die beiden Bursche am Halse, schlug sie mit den Hirnschädeln aneinander und warf sie vor die Thüre. »Folgen Sie mir!« schrie er einen jeden mit rollenden Augen an und die Seekranken stolperten und holperten hinter ihm schweigend die Leitern und Treppen der Tuberkelburg hinab.

Unterwegs hielt er plötzlich inne und nahm mit den Wämmsern, Westen und Hosen der Beiden eine peinliche Untersuchung in des Wortes verwegenster Bedeutung vor. Sie blieb, etliche Cigarren, Veit's Elzevir und Curts Taschengeld abgerechnet, fruchtlos.

Im Erdgeschoß angelangt, schloß der Alte ein eichenes Pförtlein auf und tastete vor den beiden eine enge 67 feuchte Wendelstiege nieder, welche neben anderen Gelassen nach Beißerle's Holzkeller führte. Derselbe lag mit salpeterüberfurchten Wänden hinter einem verschließbaren Gitter von Fichtenlatten. All sein Licht erhielt er von einem am oberen Mauerbogen angebrachten, mit Eisenstäben verschlagenen Fensterchen. Der Holzvorrath ragte, kleingemacht, an den vier Wänden von unten bis zu oberst übereinandergeschichtet, bis an die Decke.

»Wollen Sie jetzt reden,« schrie der Alte »oder ich lasse Sie die Nacht über in diesem Loch schlafen, wo Sie der Frost nüchtern und mürbe machen wird.«

»Thun Sie was Sie verantworten können,« war nach langer Pause die ganze Antwort.

Da griff Beißerle mit beiden Händen nach den kurzen Scheitern der ihm zunächst stehenden Buchenholz-Lagen und fieng an dieselben den Verstockten nach Armen und Beinen zu werfen so gut es in der wenig gebrochenen Dunkelheit gelingen wollte. Dabei schrie er fortwährend: »Wo haben Sie das Geld hingesteckt?« und »wollen Sie noch nicht gestehen? noch nicht?« und »da, da und vielleicht auf den da! he?«

Ausweichende Sprünge und hie und da ein dumpfes, halbverbissenes Oh und Au waren alles, was die zum Ziel seiner Holzwürfe Erkorenen aus der Finsterniß hören ließen, bis Veit, von einem knorrigen 68 Block mächtig auf die Kniescheibe getroffen, plötzlich einen lauten Aufschrei von sich gab. Er bückte sich, mit dem linken Arm Gesicht und Kopf deckend, nieder und griff mit der Rechten nach dem nächsten der um ihn herum liegenden Scheiter. Beißerles Wangen fühlten mit Entsetzen den Luftdruck, welchen das von Schmerz und Nothwehr geschleuderte Geschoß hart an seinem Haupt vorüberfahrend ausübte, und splitternd krachten drei Gitterlatten hinter ihm aus ihren Fugen.

Mit einem Satz war Beißerle vor der Thüre, deren Schloß er zweimal umdrehte.

»Wollen Sie gestehen, oder Sie schlafen hier unten im Keller und ohne Decken und Strohsack!« rief der nun nicht mehr Gefährdete durch die Latten.

»Machen Sie, daß Sie zu Bette kommen!« antwortete die wüthende Kinderstimme Veits, der sich, vor Schmerz laut den Athem anziehend, das Knie strich, und das diabolische Kichern Curts begleitete die Aufforderung.

Die Schritte des Professors verhallten auf den Ziegelsteinstufen des Kellers; die Thür in's Erdgeschoß fiel schwer hinter ihm zu; einiges Mörtelgeröll folgte dem Wurf und rieselte ein paar Sprünge weit; dann war Alles still und Veit sagte: »Ich hab' ein ordentliches aufgekriegt.«

Curt erwiderte: »Ich glaube mir blutet das Ohr.«

69 »Hund verfluchter!« stieß Veit zwischen den vor Frost und Schmerz klappernden Zähnen hervor und schmetterte, seinen lang verhaltenen Groll zu lüften, noch etliche Scheiter von sich, daß das Holzgitter laut aufkrachte und die niederen Bogengewölbe des Kellers Antwort gaben.

»Bist Du nach diesem nun entschlossen?« fragte Curt »oder willst Du noch bei Deinem lieben Beißerle bleiben?«

Veit entgegnete mit einem zwischen den Lippen zerdrückten Fluch, dann sagte er leise: »aber wo zum Donner hast Du denn das Geld stecken?«

Curt, der vorsichtige, sah über sich und schleuderte sofort ein Scheit gegen das Gitterfenster.

»Fahr ab, Fratzengesicht!« rief er dabei und das lauschende Näschen der kleinen Fanny verschwand von der Oeffnung. Man hörte sie hurtigen Schrittes über den nachtstillen Hof davon laufen.

»Ich stehe mit jedem Fuß auf fünfundsiebenzig Thalern,« wisperte Curt dem Freund in's Ohr und streckte dabei voll Selbstbewunderung beide Beine von sich.

»Aber wir haben keine Hüte und keine Pässe,« bemerkte Veit.

»Kleinigkeiten!« beruhigte ihn der Andere »Wir kaufen uns nagelneue Mützen, die geben ein flottes 70 Ansehen und was die Paßpolizei anlangt, so meinte ein Beamter, der heute an meines Onkels Tisch eine merkwürdige Kriminalgeschichte erzählte: wer feine Kleider anhabe und langsam und behaglich seine Straße dahin schlendere wie ein Spaziergänger, in einem solchen vermuthe Niemand einen Ausreißer.«

Curt schwieg und Veit versank in Nachdenken. Es war so schaurig, so still, daß man nichts hörte als das Athmen der beiden Gefangenen und das ferne Plätschern eines sacht fließenden Hofbrunnens. Zuweilen rasselte eine Maus über die Füße der Schweigenden, dann war wieder alles todesruhig und eine wachsende Bangigkeit überkam die Einsamen, daß sie sich schaudernd näher aneinanderschmiegten und ihre Röcke bis an den Hals zuknöpften. Ihre Augen starrten in dicke Finsterniß, aber zuweilen kam es ihnen vor, als sähen sie eine Gestalt noch dunkler als das Dunkel sich langsam aus einem Winkel in den andern bewegen. Sie schloßen die Wimpern fest zu und es fror sie empfindlicher.

Alsdann stieß einer an den andern an und sagte:

»Warum bist Du denn so stille?«

Und der andere erwiderte: »Jetzt wird der Beißerle ins Bett springen, so wie er's gewohnt ist, mit einem Satz, daß die alte Stelle in ihren Fugen kracht, . . . hihihi.«

Der Wind schob vor dem Monde die Wolken weg 71 und ein flüchtiger Strahl fiel kurzen Augenblicks in den Keller; ein Kätzlein miaute leise wie ein krankes Kind und Veit sprach auf den andern zu: »Höre Du, am Ende thut sich der Alte doch ein Leides dabei!«

»Bah, das Knochengerüste zerbricht nicht so rasch und ein Weniges gönn' ich ihm gerne.«

»Wenn's aber ein Vieles und Arges würde, dann dürften wir selbander eine Reise in's Zuchthaus machen. Wenn er sich in's Bett wirft, so ohne umzusehen, ein Stärkerer als er könnte sich das Kreuz abfallen. Es war ein dummer Streich und ich gäbe was drum, hätt' ich ihn nicht hingehen lassen.«

Der andere brummte etwas wie Rechtfertigung, aber es war ihm selbst nicht heimlich dabei und Veit fragte wieder: »hast Du nichts gehört?«

»Nein, Nichts, ich glaube Du träumst« erwiderte Curt und meinte es ehrlich; aber bald däucht' es auch ihn, er höre dumpfes Tönen wie von entferntem Wehklagen, von Schmerzensrufen und dazu ein erwachendes Gemurmel anderer Stimmen. Aber es mußte weit weg sein, es schien aus der Höhe zu kommen, aus dem Gipfel der Tubertelburg.

Und das Tönen schwoll zum Geräusch an, das Geräusche zum Lärmen; das ganze Haus ward wach, man hörte flüchtige Tritte über den Hof gehen und der Wiederschein eilender Lichter glitt durch das vergitterte 72 Fensterchen an den feuchtglitzernden Kellerwänden zu den Horchenden hinab. Sie hörten in Fragen und Antworten über den Hof hin rufen, daß der Professor Beißerle am Tode darnieder liege; seine bösen Rangen hätten es ihm angethan.

Curt und Veit schlugen die Hände zusammen und eisige Schweißtropfen standen auf ihrer Stirne.

»Nun alle guten Geister steht uns bei!« sagte der ältere, »jetzt heißt's ausbrechen und das noch vor Tage, sonst lassen sie uns das Abiturientenexamen vor dem Criminalgericht machen.«

»Aber wo hinaus?«

»Ueber die Latten wären wir bald, aber mit der Kellerthüre ist nichts anzufangen; dort oben muß es gehen.«

Veit kletterte auf einen hochgeschichteten Scheiterhaufen, von dem aus er das Gitter bequem mit beiden Händen erfassen konnte; aber die Eisenstäbe saßen fest und sicher in ihren Steinen und spotteten unbeweglich der wüthenden Kraft des sich abmühenden Jungen. Er ließ ab vom vergeblichen Thun; eine Thräne trat in sein Auge.

Er sah in den Hof hinaus. In allen Stockwerken der Tuberkelburg brannten Lichter; reges, ängstigendes Treiben hastete in dem alten hohen Hause auf und ab und das Geräusch wuchs immer mehr. Die Pforte nach 73 der Straße gieng knallend auf und zu; man hatte den zunächst wohnenden Arzt gebracht.

»Es ist alles umsonst!« seufzte Veit; Curt antwortete mit grünen Flüchen und schickte sich an selbst über das Holz an's Fenster zu klettern, da winkte plötzlich Veit ihm ab, auf daß er sich still verhielt.

Eine kleine hüpfende Gestalt kam im gebrochenen Mondlicht, das der Wind in den Hof warf, über die Steine daher. Ein Kätzlein miaute hinterdrein.

Veit wich vom Fenster zur Seite. Von draußen das Kind ergriff die Eisenstangen mit den Händen und steckte die Nase neugierig durch's Gitter in die Finsterniß.

»Ihr bösen Spitzbuben, ihr, da unten, ihr habt den armen Beißerle umgebracht!«

»Gott bewahre!« versetzte Curt schnell gefaßt von unten; »er thut nur so dergleichen, um uns armen Jungen einen Possen zu spielen. Glaube mir, Fannele, der alte Sünder ist frisch und gesund und schreit nur aus Bosheit. Aber wir armen Teufel, wir frieren und hungern hier unten in diesem feuchten Loch und sind zerprügelt und zerschunden wie weiland Sankt Sebastian und Sankt Marsyas.«

Das Kind drückte den Kopf so nah als möglich an die Stangen, da griff Veit durch's Gitter und streichelte der Ueberraschten Wangen und Hände.

»Willst Du uns wohl einen Gefallen thun?«

74 »Ja,« sagte das erschrockene Mädchen mit fester Stimme.

»So laufe hinüber in die Werkstatt und hol' uns eine von den großen Feilen her, die nächst dem Ofen hängen, und dann geh' schlafen und sage Niemandem, daß Du bei uns warst. Gelt ja!«

Das Kind sah Veiten ein Weilchen mit großen Augen an; dann sprang es hurtig gegen die Schmiede zu.

Während die Beiden auf die Wiederkunft paßten, wechselten sie kein Wort.

Endlich sah Veit die Kleine aus dem Thorweg treten in jeder Hand eine mächtige Feile hinter sich schleifend. Mit schrillem Klirren schlug das Eisen an die spitzigen Pflastersteine und mit jedem Aufprall schlug das Herz dem Harrenden bis an den Hals, aus Furcht, der Lärmen möchte Verdacht erregen. Aber keine Seele hörte darauf.

Fanny gab lachend an Veit die Werkzeuge, dann sprang sie heim und kroch in ihr Bett. Der Gefangenen dachte Niemand, ausgenommen Beißerle, der aber ihres Aufenthalts nicht Erwähnung that aus Angst, man möchte sie und mit ihnen ihr Geld entwischen lassen. So sägten Veit und Curt ungestört und aus Leibeskräften darauf los, daß ihnen die Ohren gellten und die Hände erlahmten. Sie sägten das Gitter an allen vier Enden ab und krochen gegen Morgengrauen aus dem Kellerloch in den Hof. 75

 


 


 << zurück weiter >>