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Erst nachdem die entseelten Überreste der »kranken Frau« in die Erde verscharrt waren, bekümmerte sich Anton wieder um andere Dinge. Der alte Dreher kam eigentlich nicht mehr zu sich. Von seinem letzten Rausche erwacht, gab er den Vorsatz zu erkennen, daß er von nun an bloß Wasser trinken wolle, und führte mit einer halb wahnsinnigen Konsequenz diesen Vorsatz durch, obgleich der Arzt ihm sagte, daß er auf diese Weise seinen Tod beschleunige, weil seine Natur allzusehr an starke Getränke gewöhnt sei, um die gänzliche Entbehrung derselben überdauern zu können. Darauf brummte er nur: »Wenn ich soff, behaupteten sie, ich beschleunige meinen Tod. nun ich nicht mehr saufen will, sagen sie dasselbe. Sie sollen mich in Ruhe lassen.«
Darauf vernichtete er mit dumpfer, stumpfer Gleichgültigkeit den künstlichen Mechanismus seiner Figuren, die er völlig zerstörte und unbrauchbar machte. Doch geschah dieser barbarische Kindermord erst dann, als Anton auf wiederholtes Befragen die wiederholte, ausdrückliche Erklärung abgelegt hatte, er sei unwiderruflich fest entschlossen, das Gewerbe eines Puppenspielers nicht weiter fortzusetzen.
»Ein anderer soll sie nicht haben!« murmelte der Greis und arbeitete mit größerem Eifer an der Vernichtung seiner Lieblinge, der Marionetten, und seines Stolzes, der Maschinerien, als er jemals Eifer und Fleiß auf deren Konstruktion gewandt haben konnte. Nur mit dem Unterschiede, daß Stunden hinreichten, zu zerstören, was lange Jahre mühsam geschaffen.
Merkwürdig und zugleich erschütternd für den Zuschauer wurde der Kampf, den der alte, halbverwirrte Mechaniker mit seinem Liebling, seinem Schoßkinde, seinem verzogenen, übermütigen Kasperle einging. Nicht allein in meisterhafter Durchführung des vortrefflich gehaltenen komischen Charakters hatte sich des Meisters Vorliebe für diese Figur immer kundgegeben. Auch der Bau der Figur selbst war ungleich kunstreicher, komplizierter, wie alle übrigen. Die Puppe Kasperle, lenksam, gewandt und kräftig, bewegte sich, von ihrem Schöpfer geleitet, wie ein lebendiger Mensch.
Und diese künstlich ineinander gefügten Glieder nun, deren lustige Schwenkungen so häufig jubelnden Beifall erregt hatten, dieses altkluge Zwergengesicht mit dem beweglichen Munde, den rollenden Augen, dieser ganze kleine Kerl sollte nun zerstört werden. Es schien eine Art von Menschenmord.
Dreher ging an diesen seinen Kasperle erst ganz zuletzt, erst nachdem ringsumher schon aufgeräumt war. Und als er das leblose Ding, dem er so oft Leben, Geist, Humor eingehaucht, jetzt auf den Tisch warf, schrie er laut auf: »Komm' her, Bruder Kasperle, ich muß dich sezieren!«
Dann wieder küßte der Greis das Puppenantlitz, laut schluchzend: »Mein Kasperle, mein Brüderl muß sterben; legt's mich zu ihm ins Grab; was wird aus mir ohne meinen Kasperle?«
Nach getaner Arbeit verkaufte er oder ließ er durch Anton verkaufen, was er an brauchbarem oder unbrauchbarem Gerät, Kleidungsstücken der Verstorbenen usw. noch besaß, raffte den bescheidenen Ertrag zusammen und kaufte sich in ein am Orte befindliches Altes-Männerhospital mit diesem Sümmchen ein, wo man ihn gern aufnahm, in der Voraussicht, daß er nicht mehr lange den erkauften Platz in Anspruch nehmen werde. Sein Abschied von Anton war herzlich; es flackerte, da er ihm Lebewohl sagte, noch einmal der Humor des Alten auf, und ein geistiges Verständnis dessen, was die Verstorbene ihm und seinem Geschäft, was Anton der Verstorbenen gewesen, schien noch einmal das umnebelte Haupt für etliche Minuten zu erhellen. Diesen lichten Moment gab er mit freundlichen Worten dem Scheidenden kund. Gleich darauf sank er wieder in Apathie.
Anton hatte seiner Mutter Handschrift und anderweitige Papiere bis nach dem Begräbnis unberührt gelassen. Jetzt müssen wir einiges daraus und darüber nachtragen. Zuerst den Schluß des Manuskripts:
»Du findest, mein geliebter Sohn, in dem Paket, das diesen Blättern beiliegt, die wenigen Briefe, die dein Vater mir gesandt, da er noch wähnte, mich zu lieben; auch dein Taufzeugnis liegt eingeschlossen dabei. Der Gewohnheit, diese Briefe immer bei mir zu tragen, verdanke ich, daß sie bei meiner Flucht nicht in N. zurückblieben. Diese Briefe sowohl als auch das Zeugnis samt einem anderen Blatte von der Hand unseres alten Nachmittagspredigers zu N., können dir wichtig und nützlich werden, wenn du, woran ich nicht zweifle, den letzten Willen deiner Mutter befolgst. Er besteht darin: Du verlässest, sobald meine irdischen Überreste beerdigt und deine Verpflichtungen gegen den alten Mann erfüllt sind, der dir Gelegenheit gönnte, deiner Mutter die letzten Liebesdienste zu erweisen, dieses Städtchen; verlässest es, ohne dich vorher noch einmal bei Hedwig oder deren Vater zu zeigen. Wie du mir den adel- und soldatenstolzen Rittmeister geschildert, würde für jetzt jeder Schritt nutzlos bleiben und das arme Mädchen nur noch unglücklicher, ihr den Kampf zwischen Liebe und Pflicht nur noch heißer machen. Begib dich allsogleich auf die Reise! Der blaue Papierumschlag, der ebenfalls beigelegt ist, enthält außer einigen in Banknoten umgesetzten, redlich für dich ersparten Talern (zu deiner Ausstaffierung) ein versiegeltes Schreiben an die Gräfin Julie Ellenstein. Dieses bringe ihr selbst; trage Sorge, daß man dich bei ihr vorläßt; frage nicht nach deinem Vater, frage nur nach der Gräfin. Ich weiß, daß sie noch lebt. Ihr, nur ihr allein übergib den Brief – und lasse Gott walten.
Jetzt habe ich nichts mehr zu schreiben und könnte es auch nicht, denn ich fühle mich sterben. Ich hoffe noch Kräfte zu erschwingen, um dies Paket zusammenzubinden und es in meinen Koffer zu legen. Dann soll Dreher dich bei Hedwig abrufen.
Der Himmel gebe, daß es nicht zu spät sei, für dich – wie für mich!
Gehorche – Anton! den Bitten deiner unglücklichen Mutter. Sie liebt dich! Sie liebt dich und fleht um Verzeihung!«
*
»Wenn sie«, sprach Anton, »mir gebot, nicht mehr vor Hedwig oder deren Vater zu erscheinen, ehe sie noch erfahren, welch ernste traurige Wendung die Dinge dort genommen, – um wie viel mehr habe ich jetzt nicht Ursache, diesem Gebote Gehorsam zu leisten, wo ich die furchtbaren Worte gehört habe, die des erzürnten Rittmeisters Drohung zwischen mich und die Geliebte warfen. Ja, arme Mutter, Anton erfüllt deinen letzten Willen: er scheidet von seiner Liebe; er ist bereit, den schweren Gang anzutreten, dessen Ziel du ihm vorgeschrieben! Er will ein guter Sohn sein und will Hedwig, das edle Mädchen, nicht hindern, sich als gute Tochter zu zeigen. Du hast recht, Mutter; der liebe Gott mag walten!«