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Achtunddreißigstes Kapitel

Seine Seele voll Sehnsucht nach Adele, – und voll Dankbarkeit für den Herrn Prinzipal hätte ich hinzufügen müssen; für Herrn Guillaume, der durch den Urlaub, den er der Jartour bewilligt, so viel für ihn getan, der ihn so großmütig unterstützt, ihn so reichlich mit Geld versehen hatte! –

Nichts Niederschlagenderes gibt es im Leben, als wenn beim Wiedersehen alle lebhaften, gefühlvollen Begrüßungen des Eintreffenden kalt und zurückstoßend aufgenommen werden. Der eine, von Reiseungeduld, von freudiger Erwartung aufgeregt, stürmt mit innigen Empfindungen herein, – und der andere gibt ihm nichts zurück als verlegenes Schweigen. Dies widerfuhr Anton, wie er bei Herrn Guillaume eintrat. Der Dicke wußte auf die feurigen Ergießungen aus seines Eleven Munde nichts zu entgegnen, hustete in unterschiedlichen An- und Absätzen, brachte dazwischen ein kaum verständliches: »nicht die geringste Ursache« heraus, worauf er sich mit einer für seine Korpulenz bewundernswürdigen Volubilität davonzustehlen wußte, Madame ging auf gar nichts ein, lachte dem Dankenden höhnisch ins Gesicht und kehrte ihm den Rücken.

»Wie verträgt sich dieser Empfang mit dem Edelmut, den sie an mir geübt?« fragte der bang Erstaunte den Kassierer, den er aufzusuchen eilte.

Der Kassierer, aus verschiedenen Gründen kein schwärmerischer Verehrer seiner Frau Direktrice, erwiderte offen, daß ihm durchaus nichts von Edelmut aufgefallen, und daß er erkenntlich sein wolle, wenn Anton Spuren desselben nachweisen könne.

»Ja, mein Himmel, alles, was sie für mich getan! Sie haben mir Gold geschickt, zehnmal mehr als ich bedurfte, – und ich bringe den reichlichen Überschuß ehrlich wieder; sie haben meinen Urlaub ausgedehnt, damit ich mich gründlich erholen möge; und was noch mehr ist: sie haben der Jartour die Bewilligung erteilt, bei mir zu weilen, mich zu verpflegen; haben die Mitwirkung dieses wichtigen Mitgliedes hier bei Eröffnung des Zirkus entbehren wollen, was ich als das größte Opfer anerkennen muß!«

Der Kassierer schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Diese Märchen hat Ihnen die Jartour erzählt? Nun begreife ich alles! Liebster Freund, Sie sind in vollkommenster Täuschung. Erstlich hat die Jartour keinen Urlaub erbeten und wußte sehr wohl, daß man ihr keinen erteilt haben würde. Ihr Kontrakt war in B. abgelaufen und hätte am Tage, nachdem Sie gestürzt waren, erneuert werden müssen. Anstatt ihn zu erneuern, erklärte Adele, sie sei entschlossen, abzugehen. Madame Adelaide triumphierte über diesen Entschluß ihrer Feindin und Herr Direktor, der soeben den Antrag von Madame und Herrn Felix in Händen hielt, ließ sich leicht beschwatzen, mit diesen beiden abzuschließen; wobei er sein Bedauern über den Verlust der besten Reiterin mit der traurigen Erfahrung beschwichtigte, daß ein junges, frisches Stück Fleisch, gleich der Felix, gar leicht eine nicht mehr blühende Künstlerin gleich der Jartour bei der Masse des Publikums ersetzt. So hatte folglich Ihre Adele völlige Freiheit, bei Ihnen zu bleiben. Die Berichte, die sie über Ihr Befinden einsandte, lauteten so larmoyant, daß wir schon das Kreuz über Sie gemacht haben; daß auf Sie gar nicht mehr gerechnet wurde. Geld hat man Ihnen nicht gesandt, Herr Antoine; nicht zurückgelassen, noch zugeschickt; nicht Gold, nicht Silber, nicht einen Pfennig. Das müßte ich wissen. Was Ihnen zugekommen, kann nur die Jartour aus ihren Ersparnissen Ihnen gereicht haben. Die Direktion war so weit entfernt, sich weiter um Sie zu bekümmern, daß Madame mir schon heute befohlen, Ihnen Futtergeld für Ihren Fuchs abzufordern, obgleich derselbe unterdessen täglich im Zirkus gebraucht und von Herrn Felix, der ein plumper Gesell scheint, fast zuschanden geritten ist. Man ist hier daran gewöhnt, Sie für einen Eleven von Vermögen anzusehen, noch aus den Tagen der Amelot her.«

»Aber das ist ja schrecklich, was Sie mir da erzählen, Herr Amand«, nahm der aus all seinen Himmeln vertriebene Anton das Wort. »Wie habe ich mich doch in diesen Leuten geirrt! Und die arme Jartour, ihr sauer erworbenes Vermögen! O! sagen Sie mir, wo wohnt sie? Ist es weit vom Zirkus?«

»Ich soll Ihnen sagen ...? Herr Antoine, sind Sie bei Verstande oder ist Ihr Kopf noch nicht heil? Ich soll Ihnen sagen, wo die Jartour wohnt? Wenn Sie das nicht besser wissen wie ich, dann werden wir's beide schwerlich erfahren. Seit B. habe ich nichts von ihr gehört noch gesehen.«

»Adele ist nicht in Dr.?«

»Wofern sie nicht mit Ihnen zugleich anlangte, sicher nicht. Was sollte sie auch hier, wenn sie nicht hier wäre, um bei Ihnen zu sein? Sagte ich Ihnen nicht schon, daß der Vertrag mit Herrn Guillaume abgelaufen ist, daß sie ihn nicht erneuert, daß sie das Engagement verlassen hat? Wer weiß, was ihr durch den Sinn gefahren ist! Sie war ein braves Frauenzimmer, aber voll von Launen und Grillen; wollte immer was Besonderes vorstellen! Schlagen Sie sich das aus den Gedanken. Hier fehlt's nicht an hübschen Mädchen, und Sie werden bald nicht wissen, wohin zuerst schauen. Vor allen Dingen aber sehen Sie nach Ihrem Fuchs, daß Sie den wieder in die Reihe bringen. Felix muß ein anderes Pferd bekommen. Sie treten morgen auf. Der Zettel ist schon in der Druckerei. Ihre Koffer stehen bei mir.«

Anton hatte doch bereits so viel Herrschaft über sich und seine Gefühle gewonnen, daß er den Ausbruch heftigen Schmerzes zurückhielt, bis er sich allein befand. Allein zu sein, mit anderen Menschen so wenig als denkbar in Berührung zu geraten, erschien ihm jetzt das einzige Wünschenswerte. Deshalb auch überwand er den Widerwillen, der sich in ihm regte, von dem Golde, das die grausame Freundin ihm zurückgelassen, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Widerwille gegen ein Zusammenleben, wohnen, verkehren mit anderen Eleven und Hausgenossen der Direktion war doch noch größer, steigerte sich jetzt bis zum Abscheu; – und in dieser Not ergriff er von zwei Übeln das geringere. Er mietete ein bescheidenes, vier Treppen hoch gelegenes, deshalb stilles Dachstübchen, aus dessen kleinen Fenstern sein trübes Auge auf schneebedeckte Mauern, auf andere Dächer, auf Giebel und Schornsteine starrte, so lange, bis es schmerzhaft geblendet von Tränen überfloß. Was er nun für Adele fühlte, wurde ihm selbst kaum deutlich; war es beleidigter Stolz, der ihn zürnen ließ? War es schwermütige Sehnsucht, dankbare Anhänglichkeit, die den Groll in Liebe umwandelte? – »Gleichviel! – Was es sei«, rief er aus, »eins ist doch gewiß: daß ich nur sie in meinem Herzen hege! Daß ich nur ihrer gedenke, daß mir sonst alles auf Erden gleichgültig ist!«

Um nur etwas zu tun, um nur in die unmännliche Abspannung, die sich seiner bemächtigen wollte, einige Tatkraft zu bringen, schrieb er an seinen Arzt in B. und beschwor diesen, durch Vermittlung der geeigneten Behörden auskundschaften zu lassen, wohin Adele Jartour sich gewendet haben könne. Nachdem er durch diesen gefälligen Gönner die Antwort empfing, ihr Reisepaß sei bei der französischen Gesandtschaft nach Paris visiert worden, wandte er sich geradezu an sie selbst, ergoß in einem langen, sehr ausführlichen Brief sein ganzes volles Herz, richtete auf gutes Glück diese Epistel an Adele Jartour, erste Reiterin beim olympischen Zirkus der Gebrüder Franconi, – und atmete leichter auf, als er einen Teil der Last, die ihn schwer drückte, mit diesen dünnen Blättern nach der Post getragen hatte. Die zuversichtliche Hoffnung einer baldigen, erklärenden, erschöpfenden Antwort hielt ihn aufrecht bei der qualvollen Ausübung seiner Berufspflichten. Denn nicht anders als qualvoll konnte es für ihn sein, Abend für Abend die alte Tour zu reiten, das alte Violinsolo abzuleiern, sein Quantum Beifall zu empfangen, seine drei Bücklinge zu machen, und dann durch Sand und Sägespäne watend, in die Garderobe zu hüpfen, wo er sich seine bunten Fetzen nicht rasch genug von den Gliedern streifen zu können meinte, um nur den Umgebungen wieder zu entweichen, die ihm schauderhaft erschienen, seitdem kein Wesen mehr in ihrer Nähe atmete, dessen Hauch sie veredelt hätte.

Sich fürder zu üben, empfand er gar keine Lust. Fehlte ihm doch der Drang, Fortschritte zu machen, der ihn früher belebt! Guillaume ließ ihn gehen, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern; er fand, was Anton maschinenmäßig leistete, immer noch gut genug für ein Mitglied, das keine Gage fordern durfte und sogar jene Ansprüche, die es auf freie Kost und Wohnung besaß, nicht geltend machte.

So verging der Winter. Eine seltsame Existenz, wie unser Freund sie führte. Den ganzen Tag über im kleinen Gemach, lesend, lernend, schreibend, Violine spielend, – niemals ohne Beschäftigung, stets ohne menschlichen Umgang und Verkehr; nur seine Wirtin sah er, wenn sie ihm das spärlich bereitete Mahl brachte. Des Abends, wie durch einen Zauberstab, in bunte Flitter gehüllt, zu Rosse, vor einer großen, lärmenden Menge, deren Anblick ihn immer wieder aufs neue betäubte, umrauscht von der schallenden Musik, deren Geschmetter ihm Kopfschmerz verursachte; – und eine Viertelstunde darauf wieder im stillen Gemach, wieder ein Buch zur Hand, wie wenn ihm nur geträumt hätte vom Reiter Antoine. Und dann, zur Nacht das einsame Lager, um welches wechselnde Gestalten der immer regen Einbildungskraft schwebten; Gestalten wie Ottilie – die Großmutter – Laura, – bis auch diese verflogen, der einen Raum zu geben, die seiner Seele jetzt die nächste blieb, und ihm – ach so fern!

Adele hatte seinen Brief nicht beantwortet. Des langen, peinvollen Harrens endlich müde, wandte er sich an Franconis mit der bittenden Frage, ihm Nachricht zu geben, ob Adele Jartour bei ihnen engagiert, oder ob sie wüßten, wo dieselbe sonst sei.

Umgehend lief die Erwiderung des Sekretärs ein: seine Direktion kenne und achte das allgemein anerkannte Talent der Demoiselle Jartour noch von ihrem früheren Engagement in Paris und müsse sehr bedauern, über ihren gegenwärtigen Aufenthalt nichts zu wissen, weil man bereit sei, ihr die vorteilhaftesten Anträge zu stellen.

Nun war die letzte Hoffnung dahin. Adele war ihm verloren; sie wollte es ihm sein. Das begriff er endlich. Sie war geflohen vor ihrer eigenen Liebe zu ihm, ehe noch seine dankbare Freundschaft für sie sich in Liebe verwandeln konnte! Je tiefer er über dieses Weib nachsann, desto höher wuchs seine Achtung, desto wärmer aber auch seine Sehnsucht. – Wie wir uns denn leider nach dem Unerreichbaren am meisten sehnen, wir armen Menschen. Wie wir auch im Glück, im Genusse der Gegenwart immer noch etwas vermissen, was uns eben auch nicht befriedigen würde, wenn es da wäre! Viele Dichter haben diese Sehnsucht, die auf Erden kein Ziel findet, besungen; am einfachsten aber und darum auch nach unserer Meinung am herrlichsten Geibel, wenn er in zwei Worten es sagt:

»Dir selbst bewußt kaum ist dein Leid
Ein Heimweh nach der Ewigkeit« Siehe: Juniuslieder von Emanuel Geibel: Das Geheimnis der Sehnsucht.!

Dieses Heimweh nach einer Heimat, die hienieden nicht blüht, fühlte unser Anton, seiner selbst unbewußt, während er um den Verlust seiner Freundin trauerte. Adele war ihm eben nur der Name für etwas Namenloses! Und haben wir nicht alle einmal so geliebt, uns so gesehnt? – Und uns so gegrämt? – Wohl jedem, der es nicht getan, – würde ich sagen, müßte ich nicht zugleich sagen: Weh jedem, der es nicht getan!

*

»Ich kann nicht Kunstreiter bleiben«, sagte Anton vom Schmerz daniedergebeugt. »Lieber betteln! Ich kann nicht; ich will nicht

Er ging zu Guillaume, von diesem Entlassung zu erflehen. Guillaume erwiderte, zwar sei es nicht Gebrauch, daß ein Eleve vor Ablauf der bedungenen Lehrzeit davongehe, »aber«, sagte er, »da bei Ihnen abweichende Umstände vom Anfang unserer Bekanntschaft an zu erwägen sind, so will ich Sie nicht halten. Wir gehen von hier nach L. Dort werden Sie die Ostermesse noch mit durchmachen, – und dann ziehen Sie in Gottes Namen. Doch das muß ich Ihnen offen und ehrlich mit auf den Weg geben, Antoine: fahren Sie fort, sich zu vernachlässigen, wie Sie während unseres hiesigen Aufenthaltes getan, so wird nichts aus Ihnen, gar nichts.«

»Nun, wenn auch nichts, wie Sie es meinen, Herr Guillaume«, entgegnete Anton sich verbeugend, »doch vielleicht und mit Gottes Hilfe etwas anderes, was nach meiner Meinung gerade so viel sein kann, als ein Reiter nach der Ihrigen.«

Er sprach so stolz, weil er Madame Adelaide im nächsten Zimmer hörte, würde jedoch in peinvolle Verlegenheit geraten sein, hätte er verkündigen sollen, welch ein »etwas« er im Geiste vor sich sah.

Nun er den Zeitpunkt der Befreiung vom Joche nach Tagen zählen und berechnen durfte, trug er leichter an diesem Joche. Sein Herz schlug lebendiger ... und dennoch war alles, was vor ihm lag, Ungewißheit! Er wußte durchaus nicht, was dann beginnen? Aber, wußte er doch, daß er nicht mehr gezwungen sein werde, den Fuchs zu besteigen und den Leuten seine Künste vorzureiten. – Diese Gewißheit tröstete ihn wegen jener Ungewißheit über sein Schicksal.

O glückselige Jugendzeit! Auch im Unglück noch glückselig!


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