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Nicht gar lange mehr hielt Mutter Hahn – denn warum sollten wir sie nicht bei ihrem rechten Namen nennen? – sich aufrecht. Einige Tage nach dem soeben geschilderten Ereignis ward sie fest bettlägerig, und Anton mußte seine Arbeit stehen lassen, um häusliche Dienste einer krankenpflegenden Magd zu verrichten. Krank an irgend einem schmerzhaften Übel war die Großmutter nicht. Nur schwach. Sie vermochte kaum sich zu regen. Der Geist war dafür desto lebendiger: sie dachte, sprach, urteilte klarer und freier als in ihren letztvergangenen Lebensjahren. Ärztliche Beihilfe verbat sie sich allen Ernstes. »Jünger«, sprach sie, »kann mich der Mann nicht machen, und wenn er alle Weisheit gepachtet hätte. Warum soll ich seine Flaschen austrinken? Das Zeug schmeckt schlecht und kostet teures Geld.«
Die beiden plauderten viel mitsammen. Von der Vergangenheit wie von Antons Zukunft. Jedes Gespräch über die letztere suchte der gute Junge an der Großmutter Genesung zu knüpfen. Sie dagegen zeigte sich besorgt, ihn vorzubereiten, ihn vertraut zu machen mit dem Gedanken, daß er lernen müsse, ohne sie weiterzuleben. »Dein Häuschen«, meinte sie, »kann dir niemand nehmen; Schulden stehen keine darauf; ich habe es mit meinen paar Pfennigen, die ich mir aus dem bißchen Garnhandel in N. rettete, bar und richtig bezahlt, als ich's dem seligen Meister Schröter abkaufte. Und daß der Enkel seiner Großmutter Erbe sei – wenn keine Zwischenverwandte mehr am Leben«, fügte sie mit schwerem Seufzer hinzu –, »das ist eine alte Sache. Du wirst dich schon fortbringen.«
Dabei geriet sie denn immer wieder auf ihren alten Plan, Anton solle beizeiten heiraten. »Wenn du über die zwanzig hinaus sein wirst, dann nimm dir eine Frau! Handwerksleute auf dem Lande müssen zeitig in den Ehestand treten.«
Davon nun wollte Anton, wie uns schon bekannt ist, nichts hören. »Wenn sie mich nun unter die Soldaten nehmen?« wendete er mehrmals dagegen ein.
»Das tun sie nicht«, erwiderte beruhigt und beruhigend Frau Hahn. »Der gnädige Herr Major hat mir's mit Hand und Mund versprochen und der gestrenge Herr Kreissekretär auch. Dich nehmen sie nicht, weil sie dich als einen stillen, fleißigen Jungen kennen, der für mich arbeitet, und sie haben mir's zugesagt, so lange ich lebe« – hier hielt sie erschrocken inne.
Anton war schon im Begriff zu äußern: »Aber wenn du nun stirbst?« Doch schluckte er auch dies traurige Wort mit Macht hinunter.
Und wiederum hob die Alte an: »Soll dies aber mein Letztes sein, Anton, hernach erbst du ja das Häuschen, hernach bist du ja trotz deiner Jugend ein Hauswirt, und dann dürfen sie dich gar nicht einmal nehmen unter die Soldaten. Damit du aber vollkommen sicher bist, mußt du halt heiraten, und das beizeiten!«
»Großmutter«, brummte Anton fast verdrießlich, »nun schweig' einmal davon! Wo soll ich denn eine Frau finden, wie ich – wie ich sie wünsche?«
»Eine solche«, sagte die unerschütterliche Ehestifterin, »wird der liebe Gott dir schon senden, wenn du nur ...«
In diesem Augenblick hörte man leises Klopfen an der Stubentür.
Die Redenden sahen sich befremdet an, als wollten sie sich fragen: wer klopft bei uns an? Treten die Nachbarn nicht ohne Klopfen ein?
Beide riefen wie aus einem Munde: »Herein!«
Es war Ottilie.
Anton zog sich ohne Zögern in seine Kammer zurück, nachdem er vor der Eintretenden sich errötend verbeugt.
Ottilie brachte der Kranken ein Glas voll eingesottener Kirschen. »Ich wäre schon früher gekommen, gleich als ich hörte, daß Ihr daniederliegt«, sprach sie, »aber bei uns auf dem Schlosse geht es auch nicht gut. Mein Vater hat in kurzen Zwischenräumen zwei heftige Schlaganfälle erlitten. Der dritte, glaubt der Arzt, kann ihn töten. Ihr wißt, er trinkt unmäßig; das schadet ihm und verschlimmert seinen Zustand. Ich sehe schon lange ein solches Ende voraus. Und dann ist noch manches dazu gekommen, vielerlei Gram. Ihm droht der härteste Schlag: sein Hauptgläubiger will ihn stürzen. Dagegen gibt es gar keine Hilfe mehr. Er muß Liebenau mit dem Rücken ansehen. Ich wollte ihm gönnen, daß er früher stürbe!«
»Das sagen Sie so ruhig, gnädige Baronesse?« rief die alte Frau ängstlich.
»Was ist zu tun?« war die Antwort. »Ins Unvermeidliche muß man sich fügen. Ich bin doch darauf gefaßt.«
»Aber wenn man so jung und schön und vornehm ist, wie Euer Gnaden! Hieß es doch, der fremde, junge, reiche Herr« –
»Faselt nicht, Mutter Goksch. Ich werde niemals heiraten. Versteht Ihr mich? Niemals! Ihr wißt, was ich sage ist auch getan. Schon als Kind war ich festen Willens und hielt an meinen Entschlüssen. Ihr könnt mir glauben, wenn ich Euch jetzt noch einmal wiederhole: ich werde nie heiraten. Ich gebe Euch sogar die Erlaubnis, es weiter zu erzählen, wenn Ihr wollt, auch Eurem Toni! Niemals werde ich einem Manne auch nur einen freundlichen Blick gönnen, denn ich bin ... Doch wozu das? Man braucht nicht katholisch zu sein, und hat nicht nötig, ein Kloster aufzusuchen, um Nonne zu werden. Davon genug! – Wie geht es Euch? Gedenkt Ihr bald wieder aufzustehen?«
»Ich denke ebensowenig von diesem Lager wieder aufzustehen, als mein gnädiges Freifräulein ans Heiraten denken will. Kaum noch ein paar Tage; ich spür's am besten.«
Diese Versicherung wurde ebenso leise gegeben, damit Anton sie nicht vernehmen möge – als die vorhergegangene Ottilies laut gegeben worden war –, vielleicht, damit er sie vernehmen möge!
Ottilie sah der Alten fest ins Auge, wie wenn sie dadurch von dem Gewicht der eben gemachten Prophezeiung sich überzeugen wollte; dann reichte sie ihr die Hand und sagte mit zurückgehaltenen Tränen (eine seltene Ware bei Tieletunke!): »Wenn wir uns dann nicht mehr wiedersehen sollten, alte Frau, so fahret wohl. Ich fürchte, in den nächsten Tagen Euch nicht mehr besuchen zu können, weil meine Gegenwart oben nötig sein wird. Gott gebe Euch einen sanften Tod, und er tröste den – – tröste, die leben müssen! Ihr zieht in ein Reich, wo es keine Unterschiede gibt, keine Rücksichten, wie hier auf Erden. Hebt mir ein leidlich Plätzchen in Eurer Nähe auf, wenn sich's tun läßt.«
So, sich die Augen trocknend, wollte sie scheiden, da trat Anton ins Zimmer mit ängstlichen Mienen, wie wenn er den Abschied für Leben und Tod drinnen in seiner Kammer gehört und verstanden hätte.
Bei seinem Erscheinen war Ottilie rasch gefaßt. Freundlich nickte sie den Abschiedsgruß, und im Gehen mit ihren Fingern an jenen Käfig streifend, den Anton für seine aus dem dritten Kapitel bekannte Turteltaube geflochten, äußerte sie, ohne gleichwohl den anzublicken, dem es galt: »Das ist ein hübsches, zahmes Tier, diese Taube, die möchte ich wohl! Grüß Gott, Anton!«
Fort war sie.
Anton machte sich am Glase zu schaffen, aus welchem er einige der eingelegten Früchte für die Großmutter heraussuchte.
Frau Hahn aber lispelte nur: »Auch sie nicht! Auch sie will nicht heiraten! Die armen Kinder!«