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Nach dem Dinner hatte sich um Doktor Wanner ein größerer Kreis gesammelt. Wieder wurde er von allen Seiten beglückwünscht, mußte Hände schütteln und Komplimente über sich ergehen lassen.
»Ihnen allein hat es Miß Bottchen zu danken, wenn sie mit dem Leben davongekommen ist«, sagte Doktor Sterzel neidlos. »Es war nicht so leicht, die Diagnose zu stellen«, setzte er hinzu, »und es war mehr als ein glücklicher Einfall – »
Doktor Wanner wehrte ab.
»Machen Sie mich nicht schamrot, Herr Kollege, wir beide wissen am besten, was ärztliche Kunst bedeutet, wenn die Natur nicht hilft.«
Die Gesellschaft hatte diese Unterhaltung mit dem größten Interesse verfolgt. Allgemein hatte man bei der Kunde von Miß Bottchens Rettung aufgeatmet.
Mit einer Leiche an Bord die Rückfahrt anzutreten – oder am Morgen zu erfahren, daß die Tote nachts im Meer versenkt worden war – hätte das Vergnügen der Reisenden doch empfindlich gestört. 208 Es wäre kein hervorragender Aktschluß gewesen. Nun war durch diesen Wunderdoktor noch alles zum Guten gewendet worden.
Wanner hatte sich mit einigen wenigen in einen stillen Winkel zurückgezogen. Neben ihm saß auf der einen Seite Fräulein Testini, auf der anderen Toni Wünsch. Sie spürte voll heimlicher Genugtuung, wie er ganz nahe an sie heranrückte – wie ihre beiden Körper sich berührten.
»Mir wäre es an sich ganz gleichgültig gewesen«, sagte Wanner plötzlich zum Entsetzen der Anwesenden, »hätte Miß Bottchen der Teufel geholt. Ich bin am Krankenbette«, fuhr er unbeirrt fort, »menschlich unbeteiligt. Der Patient ist für mich Objekt, nicht Subjekt. Man kommt von dem einen Totenlager und geht zu dem anderen. Wollte man jedesmal eine Portion Mitleid aufbringen, wohin gelangte man da! Nein, die Rettung der Kranken interessiert mich am wenigsten. Die Natur gebiert Mensch, Tier und Pflanze, um sie in einem wahllosen Augenblick wieder niederzumähen. Wobei sie nicht selten gerade das Edelste vernichtet und das Morsche erhält.«
»Und was interessiert Sie innerhalb Ihrer Kunst, wenn Sie das Menschliche so kalt läßt?« fragte Fräulein Testini.
»Das Ästhetische! Wie der Mathematiker an der eleganten Lösung einer Gleichung, der Mechaniker an dem präzisen Ineinandergreifen der kleinsten Teilchen seinen Spaß hat – so bin ich befriedigt, wenn ich durch einen, meist ganz simpeln Einfall dem Tode sein Opfer abgelistet habe. Man bildet 209 sich ein, der Stärkere gewesen zu sein. Natürlich ein irrsinniger Trugschluß. Übrigens weiß ich in der ersten Sekunde, in der ich den Geruch eines Patienten einatme, ob er zu retten ist oder nicht.«
»Wie spannend«, rief Fräulein Testini, »Sie vermögen mit Ihrem Geruchssinn die Diagnose auf Tod oder Leben zu stellen?«
»Ja«, entgegnete Wanner, »so unwissenschaftlich, so romantisch die Behauptung klingt – der Kollege Sterzel lächelt bereits ironisch – diese Gabe glaube ich zu besitzen.«
»Sie irren, mein Verehrter«, erwiderte Doktor Sterzel, »ich habe mir auf meine alten Tage das ironische Lächeln abgewöhnt. Ich glaube an sinnliche und übersinnliche Kräfte, ich weiß ferner, daß in der Geschichte der Medizin nicht die unwichtigsten Entdeckungen instinktmäßig und durch scheinbare Zufälle gemacht worden sind – und nicht selten von Leuten, die nie eine Universität besucht haben. Man will das gewöhnlich nicht gelten lassen – aber es ist so!«
Wanner sah den alten Mann mit aufgerissenen Augen an.
»Es ist mir nicht oft in meinem Leben passiert«, sagte er, »daß ein Arzt sich zu einem solchen Bekenntnis aufgerafft hat!«
Er erhob sich. »Ich bitte mich zu entschuldigen – ich habe noch eine kleine Korrektur zu beenden. Auch möchte ich noch einmal nach Miß Bottchen sehen.«
Er war kaum aus der Tür getreten, als die Gräfin Plessen die Hände zusammenschlug.
210 »Haben Sie das gehört, meine Herrschaften, haben Sie gehört, was dieser Herr soeben als letzte Enthüllung preisgegeben hat? Ihn interessieren seine Kranken überhaupt nicht – es ist ihm total gleichgültig, ob sie am Leben bleiben oder krepieren. Objekte sind wir ihm, tote Gegenstände. Und das muß man sich ruhig mitanhören – und niemand hat den Mut, diesem – diesem Gefühlsathleten entgegenzutreten und ihn mit der Wahrheit zu bedienen!«
»Mit welcher Wahrheit?« fragte Toni leise.
»Daß ein Mensch mit solchen Ansichten nicht das Recht hat, den ärztlichen Beruf, den ich für einen der heiligsten halte, auszuüben.«
Die letzten Worte hatte sie förmlich herausgeschrien und war puterrot dabei geworden.
»Und weshalb sind Sie nicht selbst gegen ihn aufgestanden?« attackierte sie Fräulein Testini. »Es ist leicht, seine Anschuldigungen hinter dem Rücken eines Menschen . . .«
»Ich bitte, ich muß sehr bitten«, unterbrach sie die Gräfin aufs äußerste erbittert, und ihre Augen irrten hilfesuchend nach allen Richtungen, glichen denen eines aufgeschreckten Vogels.
Doktor Sterzel versuchte zu schlichten.
»Weshalb streiten Sie eigentlich, meine Damen? Doktor Wanner ist eine so eigenartige Individualität, daß er auch persönliche Meinungen schärfer und anders präzisiert als wir gewöhnlichen Sterblichen. Glauben Sie übrigens, die großen Ärzte, die mit der Uhr in der Hand ihre Besuche machen – sich in 211 ihren Anschauungen über Leben und Sterben des Patienten von Doktor Wanner sehr unterscheiden? Sie sind nur zu vorsichtig, zu klug, um es auszusprechen! Doktor Wanner ist, wie wir Mediziner sagen, ein Maniker, das heißt, er ist bis zu einem gewissen Grade seinen Affekten unterworfen. Aber niemand von Ihnen wird leugnen, daß er, ganz abgesehen von seinen wissenschaftlichen Leistungen, eine Persönlichkeit ist! Ach, meine Herrschaften, wir geraten so leicht in Harnisch, sobald wir entdecken, daß ein anderer um einen Kopf größer ist als wir selbst! Zuletzt kommt es wohl allein auf den Effekt an – und der Effekt ist, daß Doktor Wanner Miß Bottchen gerettet hat. Die Kraft ist es, die entscheidet. Und nur, wer mit treibenden Kräften gesegnet ist, bringt uns vorwärts.«
Damit hatte die Unterhaltung ihren Abschluß gefunden. Die Gräfin Plessen verließ tief gekränkt den Tisch – und auch die übrigen verflüchtigten sich allmählich.
»Wollen wir nicht noch ein paar Runden machen?« fragte der Großindustrielle Camilla.
»Höchstens fünf Minuten, denn auch ich bin todmüde.«
Sie nahm seinen Arm. Langsam stiegen sie die Treppe zum Deck hinauf. Milde Nachtluft strömte ihnen entgegen. Nur wenige Menschen bewegten sich gleich Schatten hin und her.
»Was ich sagen wollte, Fräulein Camilla«, begann der Großindustrielle die Unterhaltung. »Nehmen Sie meine Vorschläge nicht auf die leichte Achsel! 212 Jedem Menschen reicht das Leben nur einmal den Glückszipfel, hält er ihn nicht fest . . .«
»Den Glückszipfel?« Camilla lachte in die Stille der Nacht. »Oh, mein Herr, zu den Bescheidenen dieser Erde zählen Sie nicht – das wenigstens muß Ihnen der Neid lassen.«
»Nur die Lumpe sind bescheiden!« Er versuchte zärtlich zu werden, aber ihr drohender, finsterer Blick schüchterte ihn ein.
»Nämlich, mein Fräulein, ich gehöre zu denen, die Ausdauer besitzen. Ich warte auf Sie, bis Sie fällig sind und die Arme weit öffnen.«
»Dann achten Sie nur darauf, daß Sie nicht ins Leere greifen!«
Und schon war sie auf und davon.
Der Großindustrielle sah ihr verblüfft nach. Ihn fröstelte. Er zog den Kragen seines Smokings über den Hals und eilte in seine Kabine.
Camilla schrie leise auf. Ein Arm hatte sich um ihre Hüfte gelegt – und eine Stimme sagte eindringlich: »Ich wußte, daß ich Sie heute nacht noch treffen würde.«
»Wie können Sie mich nur so erschrecken!«
Sie zitterte am ganzen Körper und ließ es geschehen, daß Wanner die Finger seiner Rechten mit ihrer Hand verästelte.
Schweigend wandelten sie das Deck ab. Camillas Atem ging rascher – lähmende Furcht bemächtigte sich ihrer.
Sie fühlte, wie von der Wärme seiner Hand etwas 213 Betäubendes ausging, das ihre Widerstandsfähigkeit in ein Nichts auflöste. Sie fühlte einen Druck in ihrem Kopfe und bleierne Schwere in den Gliedern. Sie wollte sich mit Gewalt von ihm lösen – und vermochte es nicht.
Wanner kannte diesen Zustand der Frauen, in dem ihr Intellekt plötzlich ausschaltet – in dem ihre Energien versagen – in dem sie am Rhythmus und an der Stärke des Mannes zerschellen. Er liebte diesen Triumph der männlichen Kraft, die sie in die Knie sinken und wieder tier- und triebhaft werden ließ, so daß sie sich nicht mehr wehrten und über alle Hemmungen des Gewissens hinweg nur noch zu unterliegen wünschten.
»Komm«, sagte er leise.
Camilla machte eine letzte Anstrengung. Ihre Augen hatten sich verdunkelt – waren trüb geworden. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
Wanner beugte sich zu ihr. »Küß mich!«
In dieser Sekunde glaubte sie plötzlich ihren Namen rufen zu hören – Tonis Stimme zu vernehmen.
Sie riß sich von ihm los – lauschte – und ein unterdrückter, schluchzender Ton drang aus ihrer Kehle.
Es war ganz still.
Wieder beugte sich Wanner über sie und versuchte, sie an sich zu ziehen.
»Gute Nacht, Doktor Wanner!«
Sie sah eine namenlose Enttäuschung in seinen Zügen.
»Wenn ich einen Mann küsse, so gehöre ich ihm 214 auch.« Ein freudloses, kümmerliches Lächeln beherrschte ihr Gesicht.
»Und Sie wollen mir nicht gehören?«
»Nein, Doktor Wanner!«