Felix Hollaender
Das Schiff der Abenteuer
Felix Hollaender

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3

Als Doktor Wanner in seine Kabine trat, fand er einen Brief folgenden Inhalts vor: »Es gibt hier an 32 Bord Leute, die Ihnen unfreundlich gesinnt sind. Insbesondere wollen Sie sich vor einer gewissen Deutschamerikanerin, Miß Bottchen, in acht nehmen, die Sie bespitzelt und die Ergebnisse ihrer Tätigkeit beflissen weiter trägt.«

Ch. von S. – T. T. war dieses kurze Schreiben unterzeichnet, das die unverkennbaren Züge einer Damenhandschrift aufwies. Am untersten Ende entdeckte er in winzigen Buchstaben noch ein Postskriptum: »Schließen Sie sich vor den Menschen nicht derartig ab – stoßen Sie sie nicht vor den Kopf, Sie könnten sonst plötzlich einer geschlossenen Phalanx Übelwollender gegenüber stehen.«

Doktor Wanner ließ das Papier aus den Händen fallen, und ein leichtes Zucken ging über sein Gesicht. Dann las er es noch einmal – und seine Züge nahmen einen verdammt ernsten Ausdruck an.

Er schritt in der engen Kabine mehrere Male auf und nieder, überlegte hin und her, ehe er sich umkleidete und zum Diner ging. Im Gegensatz zu den übrigen Gästen legte er niemals den Smoking an.

Er setzte sich an seinen kleinen Tisch, bestellte Speisen und las zwischen den einzelnen Gängen in einem wissenschaftlichen Buch, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern. Er merkte nicht einmal, daß er von ungezählten Augen verstohlen beobachtet wurde.

Kurz vor Beendigung der Mahlzeit begab er sich in das Büro und ersuchte um die Passagierliste. Ch. von S. war Charlotte von Seckendorf und T. T. konnte niemand anderes als Therese Testini sein. Er 33 kehrte in den unteren Speisesaal zurück und winkte dem Obersteward. »Bitte, zeigen Sie mir Fräulein von Seckendorf und Fräulein Testini!«

»Danke bestens! Und wo sitzt Miß Bottchen?«

Der Steward wies auf die Dame mit den rotbraunen Haaren.

Wanner sah sie einen Moment an und ließ sein Auge auf ihr haften. Sie sah unwillkürlich auf und erwiderte mit großer Dreistigkeit seinen Blick.

Unmittelbar darauf ging er an Deck, steckte sich eine Zigarette an, beugte sich über die Reeling und atmete die laue, warme Luft dieses Frühlingsabends ein.

Ein wolkenloser und besternter Himmel wölbte sich über ihm. Menschen kamen und gingen – er selbst wandelte, instinktmäßig getrieben, von einem Ende zum anderen und ließ seinen spähenden Blick nach allen Seiten herumschweifen. Plötzlich stand er vor den jungen Damen, die er gesucht hatte.

Er verbeugte sich leicht: »Habe ich die Ehre, Komtesse Seckendorf und Fräulein Testini begrüßen zu dürfen?«

Die Angeredeten nickten mit einem leichten Erröten.

»Dann bitte ich um die Erlaubnis, ein paar Worte mit Ihnen wechseln zu dürfen.«

Ohne eine Antwort zu erwarten, schritt er neben ihnen.

»Sie hatten«, begann er nach kurzer Pause, »die große Liebenswürdigkeit, mich durch ein paar Zeilen zu warnen und darauf aufmerksam zu machen, daß mir von einer bestimmten Seite Unannehmlichkeiten 34 drohen! So wenig mich die Freundlichkeiten meiner Umgebung an und für sich berühren, so sehr bin ich Ihnen, meine jungen Damen, für Ihre Ratschläge dankbar.«

Er hielt eine Sekunde inne, ehe er langsam fortfuhr. »Meine Mitreisenden haben allen Grund, mein Benehmen anstößig zu finden, und ich bin der letzte, ihnen das zu verübeln. Andererseits bin ich zu meinem Bedauern außerstande, irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Abgesehen davon, daß mir jede Kinderstube mangelt, ist es mein angeborenes Pech, in besserer Gesellschaft eine unglückliche Figur abzugeben. Diese Erklärung glaubte ich Ihnen schuldig zu sein. Zuletzt noch ein Wort über meine Nachtbesuche in der Bar. Ich bin sehr stolz darauf, daß man mich für einen so trinkfesten Herrn hält – und werde mich hüten, der Dame die Abrechnung des Stewards vorzulegen, durch die mein Renommee bedenklichen Abbruch erleiden könnte. Darf ich mir«, schloß er zögernd, »noch eine Frage erlauben?«

Die beiden Fräulein nickten eifrig.

»Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich gelegentlich Miß Bottchen, ohne natürlich Ihrer Erwähnung zu tun . . .«

Fräulein von Seckendorf unterbrach ihn: »Wir hatten Ihnen ausdrücklich den Namen der betreffenden Dame genannt und nie die Absicht gehabt, Sie durch einen anonymen Zettel zu irritieren. Wir haben unter den Brief unsere Anfangsbuchstaben gesetzt, aus denen Sie leicht unsere Personen feststellen konnten.«

»Selbstverständlich«, ergänzte Fräulein Testini, 35 »übernehmen wir die Verantwortung und autorisieren Sie, jeden Ihnen gut dünkenden Gebrauch von unserer Mitteilung zu machen.«

»Und selbstverständlich«, schloß Fräulein von Seckendorf, »scheuen wir keine Konsequenzen.«

Das war klar und bündig ausgedrückt und zeugte von soviel Freimut und Courage, daß Doktor Wanner beide Damen einen Moment groß ansah, ehe er sich das etwas wirre Haar zurückstrich.

»Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte er, »auf alle Fälle bleibe ich Ihnen zu Dank verbunden.« Und damit war er in dem aufbrechenden Dunkel untergetaucht und ihren Blicken entschwunden.

Die Seckendorf und die Testini schauten sich betroffen an.

»Wenn Du Dir einbildest«, sagte Charlotte, »daß damit die Geschichte abgetan ist – bist du auf dem Holzwege.«

»Ich bilde mir gar nichts ein«, entgegnete Teresina, »ich habe nur mit Genugtuung festgestellt, daß er, woran ich, nebenbei gesagt, niemals gezweifelt hatte, ein vollkommener Gentleman ist.«

Charlotte schwieg einen Moment. »Meinst du nicht, daß er sich etwas abrupt verabschiedet und die Angelegenheit sachlicher behandelt hat, als unbedingt notwendig gewesen wäre?«

Teresina zwinkerte verschmitzt.

»Weißt Du, Charlotte, in manchen Augenblicken bist Du kostbar – von einer unbezahlbaren Naivität. Sollte er uns um den Hals fallen und mit einer 36 Liebeserklärung danken? Er hat sich untadelig und korrekt benommen.«

»Ach, höre mir mit der Korrektheit auf, das ist eine böse, unangenehme Eigenschaft. Sie verbirgt das Menschliche, das mir im kleinen Finger lieber ist. Das Korrekte ist ein Ausdruck der Unsicherheit, der Feigheit. Ich für meinen Teil glaube zum Beispiel, daß die Schwestern Wünsch sich nicht um Gott und den Teufel scheren. Findest Du nicht auch, daß sie etwas Besonderes an sich haben – und schön sind sie, wunderbar schön!«

»Schön ist nicht das richtige Wort«, erwiderte Teresina. »Sie unterscheiden sich, sind aber bis zu einem gewissen Grade berechnend. Ich sage das keineswegs in einem tadelnden Sinne. Es sind Mädels, die die Welt verstehen, die nicht eingesperrt gewesen sind. Schau Dir nur einmal an, wie sie sich anziehen, darin hat die Plessen schon recht! Sie wissen mit ihrem Körper Bescheid – kennen ihre Linie – lassen sie vor- oder zurücktreten, je nachdem es für das ganze Bild förderlich ist.«

»Ist das nicht ihr Beruf, die Schönheit der Linie zu sehen – und ihre Mängel zu verdecken?«

»Aber wir anderen – und das will ich damit sagen, sind ihnen gegenüber doch in einem starken Nachteil. Wir müssen andere Waffen anwenden, andere Karten ausspielen, wenn wir uns neben ihnen behaupten wollen.«

»Ich habe mich niemals in eine Konkurrenz begeben, von der ich von vornherein wußte, daß sie aussichtslos war.«

37 »Was heißt in diesem Falle aussichtslos?«

»Das heißt, es gibt vereinzelte Frauen, die in geschlechtlicher Hinsicht Genies sind, richtiggehende Genies – sie sind mühelos, haben es nicht nötig, sich anzustrengen – ihre Existenz an sich schafft eine Atmosphäre, der sich kein männliches Wesen entziehen kann.«

»Ich bitte Dich, danach wäre jede große Kokotte ein Genie!«

»In einem gewissen Sinne allerdings!«

Teresa schlug die Hände zusammen.

»Hast Du Deine Theorie auch anderen gegenüber geäußert?«

»Nein, mein Kind, dazu liegt für mich kein Anlaß vor – es genügte mir, daß ich öfter als einmal die Probe auf das Exempel machen konnte – übrigens mit meinem Bruder, der von Hause aus Phänomenologe ist, habe ich einmal darüber gesprochen – er ist ein sehr gescheiter Junge.«

»Und was erwiderte er Dir?«

»Er hat mir vollkommen recht gegeben. Er entgegnete: ›Es gibt eine bestimmte Art von Männern und Frauen, die gewissermaßen den Extrakt des Geschlechts repräsentieren. Die anderen sind körperlich und gehirnlich anders eingestellt, sind neutral begabt – ihre Anlagen und Fähigkeiten leben sich dem entsprechend auch aus.‹«

»Das ist entsetzlich kompliziert und gelehrt, abgesehen davon, daß ich nicht kapiert habe, was für einen merkwürdigen Beruf Dein Bruder eigentlich hat.«

»Tut auch nichts zur Sache.«

38 »Einfach niederschmetternd. Dann sind wir gewöhnlichen Menschen ausgesprochene Pechvögel, die höchst überflüssig an der Peripherie mitlaufen.«

Die Seckendorf lachte krampfhaft.

»Du übertreibst, meine Liebe. Da die Genies auf jedem Gebiete sehr spärlich sind, ist die Gefahr nicht allzugroß. Zudem ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Jedem Genie werden Knüppel in den Weg geworfen – und die meisten stolpern, brechen sich Hals und Beine, bevor sie noch – ach, was rede ich da für dummes Zeug. Gottes Wiese ist groß – und bis jetzt hat noch jeder Topf seinen Deckel – jeder Hans seine Grete gefunden – wie es so wunderbar im Shakespeare heißt. Weißt Du, ich liebe den ›Sommernachtstraum‹ mit seinem unvergleichlichen Tiefsinn.«

»Das alles steht im ›Sommernachtstraum‹?! Daraufhin muß ich das Stück nochmals lesen – ich habe es, offen gestanden, bisher immer recht albern und blöd gefunden.«

Die Seckendorf fuhr ihr mit einer mütterlichen Bewegung über die Stirn.

»Es steht darin, daß sich ein Adler nicht ungestraft mit einem Gänschen paart, oder schärfer präzisiert, daß eine Frau das dümmste Geschöpf auf Gottes Erde ist – und vor die Wahl zwischen einem Esel und einem Gott gestellt – mit tödlicher Sicherheit auf den Esel hereinfällt.«

»Ach, Du veralberst mich, Charlotte. Zweimal habe ich den ›Sommernachtstraum‹ gesehen – einmal bei Reinhardt und dann bei den Heidelberger 39 Festspielen, in einer Freilichtaufführung, ohne etwas Ähnliches wahrgenommen zu haben, obwohl es von Geistern und Elfen spukte – und das Ganze nach meiner Meinung wenigstens sehr verwirrt und lächerlich wirkte – für mich war es mehr spaßhaft als tiefsinnig. Aber,« setzte sie hinzu, »mich interessiert im gegenwärtigen Augenblick viel mehr Doktor Wanner, dessen Vornamen ich nicht einmal weiß, als alle Oberons und Titanien – auf die Du doch anspielst. Um es mit einem Worte zu sagen, ich finde ihn süß. Er hat etwas.«

»Und ich, um in Deinem Jargon fortzufahren, finde ihn bitter – er brennt mir auf der Zunge.«

Die Komtesse Seckendorf zog bei diesen Worten ihr Tuch fester um die Schultern – es fröstelte sie.

 


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