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An diesem Abend sollte sich noch eine kleine Sensation abspielen, die die Passagiere in eine nicht geringe Aufregung versetzte.
Man war infolge des Landaufenthalts etwas später als gewöhnlich zu Tisch gekommen, und die Damen und Herren hatten, wie es in solchen Fällen an Bord üblich ist, keine Gesellschaftstoilette angelegt.
Allen aber fiel das saloppe Äußere Wanners auf, als er den Speisesaal betrat. Er schien unrasiert – das sonst gepflegte, anliegende, dunkle Haar lag wirr und durcheinandergezaust um seinen Scheitel. Als er an dem Tisch des Herrn Testini vorbeiging, grüßte er 126 flüchtig die Komtesse Seckendorf und Fräulein Testini und setzte sich dann in seine isolierte Ecke, ohne von irgend jemandem Notiz zu nehmen.
Es war ihm zunächst nicht einmal aufgefallen, daß Miß Bottchen ihren Tisch gewechselt und mit den Holzmanns, dem Großindustriellen und der Gräfin Plessen in seiner unmittelbaren Nähe Platz genommen hatte.
»Was dieser Mensch sich alles erdreistet«, sagte die Plessen. »Sehen Sie nur, in welchem Aufzuge er erscheint! Wenn andere sich das erlauben würden – –«
»Mein Gott«, unterbrach sie Frau Doktor Holzmann, »wissen wir denn, was für eine Kinderstube er hinter sich hat – vielleicht beurteilen wir ihn wirklich zu streng – vielleicht –«
»Kinderstube hin – Kinderstube her –« sagte Miß Bottchen, »soviel steht fest, kein Mensch an Bord interessiert in dem Maße wie er. Ich bin überzeugt, an sämtlichen Tischen dreht sich die Unterhaltung um ihn.«
»Dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung, meine Liebe, sobald jemand sich über alle Formen der guten Gesellschaft hinwegsetzt, erregt er selbstverständlich die allgemeine Aufmerksamkeit. Nehmen wir an, Miß Bottchen, Sie kämen plötzlich auf die Idee, im Nachthemd zum Dinner zu erscheinen – meinen Sie nicht, daß Sie sämtliche Blicke auf sich lenken würden?«
Doktor Holzmann kreischte auf – und das Gesicht der Gräfin Plessen verzog sich, als ob ihr übel würde.
127 »Ihr nicht gerade sehr geschmackvoller Vergleich –« Miß Bottchen kam nicht bis zum Ende ihres Satzes.
Kapitän Groen hatte sich erhoben und schlug mit dem Messer an das Glas – wartete, bis vollkommene Ruhe eingetreten war, ehe er folgendermaßen begann: »Meine Damen und Herren! Vor noch nicht zehn Minuten ist an Bord ein Radiotelegramm eingelaufen, dessen Inhalt, wie ich vermute, Sie alle interessieren wird. Um Ihre Neugier nicht auf die Folter zu spannen, erlaube ich mir, Ihnen den Text vorzulesen.«
Atemlose Stille.
»Das ›Wolffsche Telegraphenbüro‹ läßt sich aus Stockholm melden, daß der diesjährige Nobelpreis für wissenschaftliche Leistungen dem Doktor der Medizin Ernst Wanner zuerteilt worden ist, und zwar für seine Forschungen auf dem Gebiet des Karzinoms.«
Ein allgemeines Ah entrang sich den Anwesenden – der Kapitän aber fuhr fort:
»Ein gleichzeitig eingelaufenes Telegramm der Hapag ersucht mich, Ihnen, Herr Doktor, auch im Namen unserer Gesellschaft, die stolz darauf ist, Sie zu unseren Gästen zählen zu dürfen, unseren Glückwunsch auszusprechen. Indem ich mich dieses angenehmen Auftrages entledige, bitte ich Sie, meine verehrten Herrschaften, Ihr Glas zu erheben und auf das Wohl unseres berühmten Mitreisenden zu leeren!«
Der Eindruck dieser Worte war ungeheuer. Alles 128 schnellte von den Plätzen empor und eilte auf Wanner zu – der Kapitän an der Spitze.
Wanner war todesbleich geworden. Er stützte sich mit der Faust auf den Tisch – versuchte zu sprechen, aber man ließ ihn nicht zu Worte kommen.
Er sah sich von einer Unzahl von Menschen umringt, die beständig auf ihn einredeten. Immer neue Gesichter tauchten auf, seine freigebliebene Hand wurde unaufhörlich geschüttelt, und der Trinksteward füllte in einem fort sein Glas, damit er den Gratulanten Bescheid tun konnte. Seine Rechte zitterte. Irgend etwas wollte er erwidern – aber die Zunge war ihm wie angewachsen.
Er sah plötzlich, wie Stühle und Tische sich bewegten, wie Teller, Bestecke, Gläser klirrten. Wie die Wände des Speiseraums krachend auseinanderbarsten! Wie die Passagiere auf offenen Wellen irrsinnig zu tanzen begannen – wie sie versanken und wieder auf die Oberfläche kamen.
Ganz natürlich, mein Herr! Jesus ist ja auch über die Wasser gegangen, flüsterte ihm jemand zu.
Sogar die Gräfin Plessen und das Ehepaar Holzmann hatten es sich nicht nehmen lassen, Wanner zu beglückwünschen.
Miß Bottchen hatte sich von ihrem Platze nicht weggerührt – sie war, ohne daß man es in dem allgemeinen Tumult bemerkt hatte, jeden Schamgefühls bar, auf ihren Stuhl gestiegen und verschlang von diesem erhöhten Posten aus den Gefeierten.
Sie hatte ihre Umgebung glatt vergessen – die 129 Muskeln ihres Gesichts waren gestrafft, ihre mandelförmigen Augen funkelten vor Erregung. Jeden Zug, jede Geste, jede Bewegung Wanners wollte sie sich in dieser Sekunde einprägen.
Sie schrak zusammen, Doktor Holzmanns Stimme wurde vernehmbar.
»Sie haben sich natürlich wieder den besten Platz gesichert, um das neue Weltwunder zu beäugen.«
»Ach«, erwiderte sie, indem sie schleunigst herunterkletterte, »dieser Mensch interessiert mich wahnsinnig – Sie können sich keine Vorstellung davon machen!«
»Haben Sie vielleicht die Absicht, ihn zu heiraten?« fragte die Plessen ironisch, während sie gleichzeitig zum erstenmal wahrzunehmen schien, daß Miß Bottchens fleischige Hände ganz mit edeln Steinen besät waren.
»Ich habe einen derartigen Gedanken in der Tat eine Weile erwogen«, erwiderte Miß Bottchen mit einem sonderbaren Lächeln, aus dem niemand klug zu werden vermochte. »Hinterher sagte ich mir, Männer seines Schlages soll man nicht anrühren, wenn man sich nicht beide Hände verbrennen will. Ich werde also Doktor Wanner nicht heiraten – dagegen habe ich es mir in den Kopf gesetzt, ihn zu verheiraten, und Sie dürfen es mir glauben, meine Herrschaften, an Kandidatinnen ist kein Mangel!«
»Alles, was mit ›ver‹ zusammenhängt, ist ein unsauberes Geschäft, Miß Bottchen!«
»Wie ist das zu verstehen?«
130 Frau Doktor Holzmann antwortete leise: »Verderben, verfolgen, versinken . . . verloben . . . verheiraten – Sie können die Reihe bis in die Unendlichkeit weiterziehen, immer ist mit diesen drei harmlosen Buchstaben ein großes Unglück verknüpft.«
Herr Testini hatte sich jetzt Miß Bottchen genähert: »Könnte ich Sie nach Tisch eine Minute sprechen?«
»Sind Sie mit dem Essen fertig, Herr Testini?«
Er nickte.
»Ich ebenfalls. Ist es Ihnen recht, so könnten wir uns am besten gleich zurückziehen!«
Sie erhob sich, und Herr Testini folgte ihr in das Schreibzimmer.
Wieder nahmen sie ihre alten Plätze ein. Miß Bottchen konnte ein schadenfrohes Lächeln nicht unterdrücken.
Herr Testini schien es nicht bemerken zu wollen.
»Das Leben ist wunderbar«, begann er ohne jeden Umschweif. »Nach kaum einer Stunde stehen wir vor einer völlig neuen Situation. Mein persönliches Gefühl freilich«, fügte er rasch hinzu, »hat sich in keiner Weise geändert. Die Tatsache jedoch, daß dieser Herr soeben mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, könnte mich veranlassen, auf weitere Informationen zu verzichten.«
»Das ist überaus gütig, Herr Testini, bringt uns aber um keinen Schritt weiter.«
»Ich bin bereit, Sie zu autorisieren, auf diskretem Wege Verhandlungen einzuleiten.«
131 Miß Bottchen quietschte vor Vergnügen.
»Sie sind kostbar, mein Herr, einfach kostbar! Sie sind bereit, sagen Sie – ja, bin ich bereit – ist Doktor Wanner bereit? Und wer sagt Ihnen, ob Sie sich die Sache nicht viel zu lange überlegt haben, ob Zeit und Gelegenheit jetzt überhaupt noch dem Unternehmen förderlich sind?«
»Machen Sie keine schlechten Scherze, Miß Bottchen! Wir wollen sachlich reden.«
Sie spitzte plötzlich die Ohren. Ein neuer Gesichtspunkt schien ihr aufzugehen, während sie Herrn Testini durchdringend ansah. Dann zog sie ein verhältnismäßig großes Notizbuch aus ihrer Handtasche.
»Höhe der Mitgift?«
»Was meinen Sie?«
»Herr Testini, lassen Sie uns nicht lange schachern. Es liegt nicht in meiner Gewohnheit, aufzuschlagen, um hinterher herunterzugehen. Das hält auf und verstimmt nur einen der beiden Teile. Also, unter einer Million ist es nicht zu machen.«
»Ich glaube, Sie sind verrückt geworden.«
»Ich halte mich an die Tatsachen«, fuhr Miß Bottchen unbeirrt fort, »denn nach dem Nobelpreis gibt es keine Ansprüche, die Doktor Wanner nicht stellen dürfte – oder meinen Sie etwa, die Nobelpreisträger liegen nur so auf der Straße?«
»Über diesen Punkt wollen wir nicht diskutieren. Die Erklärung muß Ihnen genügen, daß ich überhaupt nicht in der Lage bin, derartige Forderungen zu erfüllen.«
132 »Herr Testini, Sie sind ein Mann von sechs Millionen.«
Er wehrte mit beiden Händen leidenschaftlich ab. – »Woher wollen Sie meine Verhältnisse kennen?« schrie er so laut, daß Miß Bottchen erschrocken den Finger an den Mund legte.
»Erinnern Sie sich, Herr Testini, daß ich Ihnen vor Tisch erklärte: Man kann die Zahlungsfähigkeit eines Menschen – aber nicht seinen Charakter feststellen. Bevor ich mich in irgendeine Entreprise einlasse, verschaffe ich mir über die Bonität meiner Kontrahenten Klarheit. Ich habe keine Lust, meine Zeit unnütz zu vertrödeln.«
»Sie hatten die Unverschämtheit . . .«
»Herr Testini, wenn Sie in diesen Tönen fortfahren, bedaure ich unendlich – ich bin eine Dame, mein Herr, und räume niemandem das Recht ein, mich zu kränken.«
»Sie haben also meine Vergangenheit ausgeforscht« fragte er kleinlauter.
»Ich habe lediglich die aproximative Ziffer Ihres Barvermögens, den Wert Ihrer Liegenschaften und sonstigen Besitze festgestellt. Ihre Charaktereigenschaften interessieren mich nicht. Sie werden auf rund sechs Millionen geschätzt, beherrschen den Kaffeehandel in Europa und haben allein von den Zinsen Ihres Kapitals eine jährliche Einnahme von zirka einer halben Million. Ein Irrtum ist nur nach oben hin möglich, wie meine Gewährsmänner versichern. Sie können sich Luxuskabinen leisten, die Zofe Ihres Fräulein Tochter und den eigenen 133 Kammerdiener auf Ihre Reisen mitnehmen. Weshalb wollen Sie unter solchen Umständen knausern?«
Herrn Testini war die Sprache vergangen. Er schlug nervös auf die Tischplatte, seine Partnerin mit giftigen Augen dabei fixierend.
Miß Bottchen ließ ihm ein paar Minuten Zeit, ehe sie den Kampf wieder aufnahm.
»Herr Testini, auch Sie können keine goldenen Beefsteaks verzehren – irgendwo sind selbst der ausschweifendsten Genußsucht Grenzen gesetzt. Irgendwo verliert das Geld seine Macht und seinen Wert. Man besitzt es nicht mehr – man ist von ihm besessen. Aus der Realität wird ein Ding der Phantasie – aus einem konkreten, greifbaren Etwas eine Seifenblase. Man weiß nicht mehr, was man mit seinem Geld anfangen soll – verirrt sich derart in den dunklen Gängen dieser unheimlichen Materie, bis man schließlich seinen Verstand verliert. Sie kennen das typische Beispiel geisteskranker Millionäre, die an der fixen Idee leiden, verhungern zu müssen. Denken Sie weiter nur an den Fall Stinnes. Sie werden nicht leugnen, daß Stinnes im wirtschaftlichen Leben Deutschlands einer der hellsten Köpfe war. Und worin bestand schließlich das Ende? In einer Pleite – in der großartigsten Pleite, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Seine nicht mehr übersehbaren Besitzwerte verstrickten ihn in ein Netz von Spekulationen . . .«
»Ihre nationalökonomischen Ausführungen«, unterbrach sie Herr Testini, »mögen an sich gewiß sehr anziehend und lehrreich sein. Ich weiß nur 134 nicht, was sie mit dem Gegenstand selbst zu tun haben.«
»Alles oder nichts, mein Herr. Ich versuchte Ihnen klarzumachen, daß es für Sie keinen Sinn hat, mit mir zu handeln, wenn Sie die Heirat Ihrer Tochter mit Doktor Wanner realisieren wollen. Er macht es nicht billiger, Herr Testini, er läßt nicht einen Groschen nach. Seien Sie vernünftig, mein Herr! Wollen Sie sich mit Ihren Aktien, Dollars und holländischen Gulden begraben lassen? Bei Lebzeiten sollen Eltern freigebig und generös sein – Kinder sollen nicht auf den Tod ihres Vaters lauern müssen. Darin liegt kein Segen, mein Herr, das hat immer noch zu einem üblen Ausgang geführt.«
Herr Testini schien schachmatt gesetzt. Gegen diese zwingenden Argumente vermochte sein Hirn nicht aufzukommen.
»In Gottes und des Teufels Namen«, sagte er.
»In Gottes Namen«, antwortete Miß Bottchen feierlich. »Wenn es sich um das Werden eines Menschen handelt – und ich vermute, es liegt in Ihren Wünschen, übers Jahr das erste Enkelchen in den Armen zu halten – dann wollen wir den Teufel doch lieber aus dem Spiel lassen.«
»Eine gewöhnliche Frau sind Sie nicht, Miß Bottchen!« Es lag ein Ton der Bewunderung in seinen Worten.
»Bitte . . . bitte . . .«, wehrte sie bescheiden ab. Dann schlug sie wieder ihr auffallend großes Notizbuch auf, blätterte darin und wies auf eine bestimmte Seite.
135 »Wollen Sie da gefälligst unterschreiben!«
»Donnerwetter, woher wußten Sie denn . . .?«
»Ich habe nie daran gezweifelt, daß wir handelseinig würden – ein Mann von Ihrem Intellekt . . .«
Herr Testini zog seinen Füllfederhalter hervor und unterzeichnete ein Schriftstück des Inhalts, daß er eine Stunde nach der standesamtlichen Trauung sich verpflichtete, Doktor Wanner einen Scheck, auf eine Million lautend, auszuhändigen.
»So wäre das Geschäft getätigt!«
Er streckte ihr seine Hand entgegen und war im Begriff aufzustehen.
»Bitte, noch einen Moment«, antwortete sie verbindlich. »Wollen Sie freundlichst umblättern, da ist noch ein Zettelchen, das Ihrer Unterschrift bedarf.«
Herr Testini las mit hochrotem Kopf, daß er ferner sich verpflichten sollte, am Tage der Eheschließung an Miß Bottchen eine Provision von hunderttausend Mark auszuzahlen.
»Das ist aber doch ein starkes Stück«, entgegnete er wie benommen – »zehn Prozent – solche Geschäfte möchte ich alle Tage machen!«
»Sie bieten sich nicht täglich, Herr Testini. Bei kleineren Transaktionen bin ich sogar genötigt, mehr zu fordern. Unter zehn Prozent arbeite ich überhaupt nicht. Vermögen Sie sich denn einen Begriff zu machen, wie aufreibend dieser Beruf ist – welch ein Verbrauch von Energie und Nerven an diesem Gewerbe hängt?«
»Die Provision wird natürlich vom Bräutigam gezahlt?«
136 Miß Bottchen schüttelte demütig den Kopf.
»Nein, Herr Testini, ich halte mich regelmäßig an den Brautvater. In unserem besonderen Falle gar würde ich schön anlaufen, wollte ich Herrn Doktor Wanner mit einem solchen Ansinnen kommen. Die hunderttausend Mark Provision könnten Sie ohnehin auf die bequemste und zugleich angenehmste Art wieder einbringen, falls Sie einen weiteren Vorschlag, den ich Ihnen gleich unterbreiten möchte, akzeptieren würden – aber zuvor bitte ich um Ihren Namenszug.«
Was blieb dem armen, reichen Herrn Testini anderes übrig, als zum zweitenmal zu unterzeichnen. Womit wird sie jetzt noch kommen? dachte er. Denn daß diese Person zum Schlusse mit einem letzten Coup herausrücken würde, unterlag für ihn keinem Zweifel.
Während er das Notizbuch wieder in ihre Hände legte, sagte er mit unsicherer Stimme: »Wissen Sie, Miß Bottchen, ich komme mir vor, wie ein ans Land geworfener Fisch, der nach Luft schnappt. Machen Sie es kurz, sonst setzt bei mir wahrhaftig noch der Puls aus.«
»Leiden Sie an Kongestionen?« fragte Miß Bottchen mit der unschuldigsten Miene.
»Sehe ich danach aus?«
»Nicht im geringsten!«
»Und welchen Propos wollen Sie mir jetzt machen?«
Sie ließ eine bedeutungsvolle Pause eintreten, ehe Sie, jede Silbe ziehend, erwiderte: »Sie müssen 137 heiraten, Herr Testini – das Alleinsein ist für Sie nicht bekömmlich!«
Er lachte schallend auf.
»Die Sache ist sehr ernst, mein Herr. Ein Mann wie Sie – in den besten Jahren – derartig konserviert, begeht ein Verbrechen . . .«
»Dann haben Sie wohl auch schon eine bestimmte Person für mich in petto?«
Sie nickte.
»Glauben Sie, daß Ihr Blutandrang nicht seine natürlichen Ursachen hat? Man lebt nicht auf die Dauer ungestraft im Zölibat.«
»Wer sagt Ihnen denn . . .«
»Haben Sie nicht vor ein paar Augenblicken selbst erklärt, daß Ihnen zuweilen der Puls aussetzt?«
»Von zuweilen ist nicht die Rede gewesen.«
»Herr Testini, das ist Ihre spezielle Angelegenheit – aber etwas möchte ich Ihnen verraten. Ich habe als junger Mensch Medizin studiert und genug Fälle beobachtet, in denen Männer von Ihrer Vollsaftigkeit eines Tages plötzlich zusammenklappten, weil es ihnen an dem regelmäßigen Verkehr fehlte. Das kommt über Nacht«, fügte sie mit großem Ernst hinzu.
»Und wer ist die Glückliche?« fragte Testini, der, ohne es sich eingestehen zu wollen, sehr nachdenklich geworden war.
»Die Komtesse Seckendorf.«
Er glaubte vom Stuhle zu fallen.
»Fräulein von Seckendorf ist genau so alt wie meine Tochter – halten Sie mich für schwachsinnig?«
»Es gibt heutzutage keine Altersunterschiede mehr 138 Herr Testini, das hat glücklicherweise aufgehört. Oder wünschen Sie, daß ich Ihnen eine Fünfzigerin offeriere? Sie dürfen es mit den Jüngsten aufnehmen!«
»Nie ist mir der Gedanke gekommen . . .«
»Schenken Sie mir noch fünf Minuten Ihr Ohr. Die Seckendorfs gehören zu den ersten Familien . . .«
Er machte eine abwehrende Bewegung, die sie offenbar mißverstand.
»Ich weiß, Sie wollen jetzt auf die Kupferlamms anspielen. Diese Heirat, durch die sich der Großvater der Komtesse damals sanierte und meinethalben auch kompromittierte – liegt über zwei Menschenalter zurück – spielt also keine Rolle mehr. Und der Tropfen semitischen Blutes hat dem Fräulein von Seckendorf am allerwenigsten geschadet. Sehen Sie sich nur die Beine der Komtesse an – kerzengerade – gewachsen wie junge Tannen – haben Sie jemals schönere Beine gesehen – die Dame könnte als Revuegirl auftreten und würde Furore machen.«
»Ja, aber um Gottes willen . . .«
»Sie müßten blind sein, mein Herr, wenn Ihnen diese Beine entgangen wären! Und dieser Spann, dieser einzigartige Spann, haben Sie den etwas aufmerksamer betrachtet? Eine Angelegenheit für Kenner!«
»Jetzt, glaube ich, sind Sie übergeschnappt, Miß Bottchen!«
»Nein, Herr Testini, solch einen Körper, solche Gelenke, solche Hände und Füße gibt es nicht ein zweites Mal.«
139 Miß Bottchen selbst schien von ihrer Schilderung derartig hingerissen zu sein, daß ihre Züge trotz dem stark aufgetragenen Puder sich leicht gerötet hatten.
»Die Komtesse ist gewiß keine Glanzpartie, aber haben Sie, mein Herr, es nötig«, fuhr sie nach ein paar Sekunden fort, »auf Geld zu achten! Übrigens wird ihre Mitgift auf zweihunderttausend Mark geschätzt. Und glauben Sie, daß in der vornehmen Hamburger Gesellschaft diese Partie Ihr Ansehen vermindern würde? . . . Herr Testini gibt sich die Ehre, statt jeder besonderen Anzeige seine Verheiratung mit der Komtesse Seckendorf . . .«
»Wer sagt Ihnen denn, daß die junge Dame, falls ich mich je mit Ihrer Idee ernstlicher befassen sollte, mir nicht einen glatten Korb –«
»Ich sage es Ihnen. Es gibt kein Mädchen, das einen Mann wie Sie ablehnen würde. Es ist, weiß Gott, keine Bagatelle, Herrn Testinis Gattin zu werden. Im Zeitalter der Technik und des Flugzeugs möchte ich die Frau sehen, die an den unbegrenzten Möglichkeiten einer derartigen Verbindung vorbeigehen könnte. Im übrigen lassen Sie das meine Sorge sein. Ich würde das Terrain auf das vorsichtigste rekognoszieren – Sie unter keinen Umständen der Gefahr eines Refüs aussetzen.«
»Ist die Komtesse Seckendorf nicht auch in Doktor Wanner verknallt?«
Miß Bottchen zuckte die Achseln.
»Mein Gott, wie alle Damen an Bord! Das brauchen Sie um so weniger ernst zu nehmen, als dieser 140 Herr nach unseren soeben getroffenen Vereinbarungen ja vollkommen ausschaltet.«
Herr Testini erhob sich jetzt wirklich. Seine Züge waren durch das lange Gespräch sichtlich müde geworden.
»Ich bin Ihnen für Ihre Anregungen äußerst dankbar, auch wenn sie mir etwas plötzlich, etwas überraschend kommen. Ich glaube beinahe selbst, daß in der Angelegenheit zwischen uns noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Mehr möchte ich im Augenblicke nicht sagen. Ich rechne mit Ihrer Diskretion. Ich rechne damit, daß Sie zu niemandem ein Wort verlieren werden. Insbesondere wäre es mir peinlich, wenn diese Frage zwischen Ihnen und meiner Tochter berührt würde.«
»Sie dürfen sich auf mich verlassen, mein Herr. Takt entscheidet in derartigen Dingen alles. Darf ich Ihnen zuletzt noch sagen, daß ich über Ihre Antwort sehr, sehr glücklich bin. Sie hätte nicht so ausfallen können, wäre mein Instinkt nicht auf der richtigen Spur gewesen. Ohne daß Sie sich darüber klar gewesen sind, muß bereits unter der Schwelle Ihres Bewußtseins irgendein Gefühl für Fräulein von Seckendorf geschlummert haben. Über den Scharm – die Bildung – mit einem Wort, über die geistige Bedeutung der jungen Dame brauche ich Ihnen gewiß nichts zu sagen.«
Menschen betraten das Schreibzimmer – und Herr Testini machte sich unauffällig davon.
Die Bottchen blieb noch einen Moment in sich versunken stehen – dann eilte sie in das Büro und 141 erbat die Schiffsliste. Da stand, weiß Gott, schwarz auf weiß gedruckt: Doktor Ernst Wanner. Also auch der Vorname stimmte . . .
Sollte sie doch eine falsche Spur verfolgen! . . . Die Blamage war nicht auszudenken!
Sie riß ein paar Seiten aus ihrem Notizbuch und schrieb in fliegender Hast zwei Telegramme. Das eine war an das Berliner Polizeipräsidium gerichtet und lautete: Erbitte Bild und genaue Nachrichten über den Nobelpreisträger Doktor Ernst Wanner – Angaben über sein Alter und seine bisherige Tätigkeit – insbesondere, ob er an öffentlichem Krankenhaus oder Universität wirkt. Das zweite trug die Adresse des Detektivbüros Phöbus: Stellet über Privatleben und Vergangenheit Testinis Recherchen an. Ermittelt, ob er jüdischer Herkunft – und bejahenden Falles, seit wann er Glauben gewechselt.
Mit diesen Blättern begab sie sich in die Funkstation und überreichte sie dem dort diensttuenden Offizier.
»An das Polizeipräsidium, Berlin«, las der junge Mensch. »Das sind chiffrierte Depeschen?« fügte er hinzu.
Sie nickte.
»Ich darf wohl um strengste Diskretion ersuchen?«
»Selbstverständlich, Miß Bottchen!«
»Verbindlichen Dank.«
Als sie wieder auf Deck trat, begegnete sie Wanner und ging schnurstracks auf ihn los.
»Erwische ich Sie endlich – darf ich ebenfalls meine aufrichtige Gratulation an den Mann bringen? 142 Das platzte ja wie eine Bombe herein! Sagen Sie mal, in der Aufregung habe ich das ganz überhört, für welche wissenschaftliche Leistung haben Sie eigentlich den Preis erhalten?«
»Sie würden es doch nicht kapieren, Miß Bottchen, – im übrigen lehne ich es grundsätzlich ab, über medizinische Fragen mich mit Laien zu unterhalten.«
»Hm, das kann ich verstehen, dagegen läßt sich nichts einwenden.«
Sie schritten stumm nebeneinander.
»Weshalb weigern Sie sich eigentlich, Fräulein Testini zu heiraten?« begann sie unvermittelt von neuem.
»Das ist wohl das Tollste, was mir je begegnet ist. Erst bespitzeln Sie mich wie den gemeinsten Verbrecher – möchten mich am liebsten dem Staatsanwalt ausliefern – und zugleich wollen Sie mich durchaus verkuppeln.«
»Das ist eine fixe Vorstellung von Ihnen, Mister Wanner! Ich – Sie verfolgen? Die größte Närrin müßte ich sein.«
»Miß Bottchen, bei mir sind Sie an die falsche Adresse geraten.« Sein Mund verzog sich zu grausamer Ironie.
»Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, mich für einen Moment in meine Kabine zu begleiten – würden Sie Ihr blaues Wunder erleben.«
»Die Einladung muß ich zu meinem Bedauern ablehnen.«
»Dann erwarten Sie mich in einer Minute auf dem Balkon der Tanzdiele.«
143 Sie war in der Dunkelheit verschwunden – und Doktor Wanner überlegte, ob er ihrer Aufforderung Folge leisten sollte. Langsam entschloß er sich dazu.
Miß Bottchen hatte in der äußersten Ecke Platz genommen und winkte ihm lebhaft zu.
»Bitte, lesen Sie.«
Sie überreichte ihm das Schriftstück der deutschen Gesandtschaft zu Athen.
»Wenn Sie jetzt Ihren verrückten Verdacht noch aufrecht halten, vermag ich Ihnen nicht zu helfen!«
Er überflog erst das amtliche Schreiben, las es dann Zeile für Zeile noch einmal, und ein maßloses Staunen spiegelte sich in seinen Zügen.
»Sie sind wohl das infamste Frauenzimmer auf Gottes Erde«, sagte er tonlos.
»Ich bin die ehrlichste, aufrichtigste Person. Nur ein Narr wie Sie kann das bezweifeln. Um Ihren geliebten Homer zu zitieren: ἔσσεται ἦμαρ ὅτ ἄν – die Stunde wird kommen, wo Sie mich um Verzeihung bitten werden.«
»Glauben Sie?«
Miß Bottchen richtete sich auf.
»Ich schwöre Ihnen beim Andenken an meine seligen Eltern.«
»Lassen Sie die wenigstens ungestört in ihrem Grabe ruhen«, antwortete er kühl.
Sie überhörte seine Worte.
»Weshalb lehnen Sie es so entschieden ab, Fräulein Testini zu heiraten – glauben Sie im Ernst, daß Sie jemals eine bessere Gelegenheit finden werden, sich zu sanieren?«
144 »Gebranntes Kind scheut das Feuer«, entschlüpfte es ihm unwillkürlich – »das ist natürlich nur ein Scherz«, setzte er sichtlich erschrocken hinzu.
»Ach, Sie spielen auf die Dame an, die diesen verhängnisvollen Prozeß verschuldet hat?« sagte sie in völlig harmlosem Ton.
Er hatte eine leidenschaftliche Erwiderung auf der Zunge, die er mit letzter Selbstbeherrschung unterdrückte.
»Ahnen Sie denn, um welche Summen es sich bei einer Heirat mit Fräulein Testini handeln würde?«
»Miß Bottchen, Sie entschuldigen mich! Ich bin sehr abgespannt und möchte in die frische Luft!«
Sie blickte ihm verblüfft nach! Das ist ein ausgemachter Schubiak, der gefährlichste Verbrecher, auf den ich je gestoßen bin. Mit seiner Verlogenheit wird er alle meine Projekte durchkreuzen. Nein, fuhr sie im stillen mit einer durch nichts zu erschütternden Hartnäckigkeit fort, mag er sich krümmen und winden, ich lasse ihn nicht mehr los!
Fräulein Testini näherte sich. Ihr Gesicht war umdüstert.
»Ich glaube, Sie haben etwas zu viel versprochen«, sagte sie mit leisem Vorwurf.
»Bitte, mich nicht zu drängen«, entgegnete Miß Bottchen, die, im Besitz der beiden Akzepte und ohnehin ein wenig gereizt, ihre demütige Haltung aufgegeben hatte. »Nichts ist in solchen Fällen weniger angebracht als Überstürzung. Blinder Eifer schadet nur.«
Dann mit sanfterer Stimme einlenkend und 145 Fräulein Testinis Hand wie die eines kranken Kindes streichelnd: »Miß Bottchen hat noch nie in ihrem Leben ein Versprechen nicht eingelöst. Mit Ihrem Herrn Vater ist die Angelegenheit all right – und was Mister Wanner betrifft – so können Sie sich beruhigt schlafen legen. Dieser Herr wird sich, bevor wir noch in Venedig sind – alle zehn Finger nach Ihnen ablecken.«