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Jean Paul saß, angetan mit seinem alten Schlafrock, über den die fürsorgliche Gattin noch einen wärmenden Schal gelegt hatte, schon in früher Morgenstunde in seiner Kornelkirschenlaube, die pünktlich zum ersten April ihre Blütenknospen hatte aufbrechen lassen. Bei Goethe in Weimar werden sie noch zurück sein, dachte Jean Paul und freute sich der Bevorzugung. Er war eben dabei auf dem Papier einen Morgen mit wunderbaren Naturschauspielen erglühen zu lassen, die er zwar nie gesehen hatte, aber doch aus vielen Lesefrüchten, Zettelnotizen und eigenem Enthusiasmus zusammenstellen konnte.
Der Dichter schrieb eifrig, als ihn ein rascher Männerschritt aufstörte. Er erkannte Heinrich Hügel. Ein Beweinter, ein Totgeglaubter stand vor ihm. –
Papiere flogen zur Erde, das Plaid glitt von den Schultern, Jean Paul breitete die Arme aus.
Er hörte vom Krieg, und das lautete anders, als er sich das Heldentum vorstellte. Er hörte von der Abweisung, die Ulrikes Jugendfreund vom Vater erfahren, und gedachte des adeligen Fräuleins, mit dem er einst versprochen gewesen.
Oh, es gab für Heinrich Hügel hier im Hause eine Dachkammer, um da im Verborgenen so lange zu verweilen, bis er sich mit Ulrike ausgesprochen habe. Am besten war es, Heinrich Hügel ließ sein Erbe an den verwandten Pfarrer schicken und verbreitete, daß er Bayreuth sofort wieder verließe. So würde Baron Egloff sich am ehesten beruhigen. Sobald Ulrike mündig sei, brauchte es weder Bitten noch Betteln bei einem Vater, der die Jugend und ihre heiligen Rechte nicht mehr verstünde – –
»Da war ein baltischer Baron«, erzählte Jean Paul, »ein Schwärmer, der in England eine religiöse Gemeine gründen will, und der in Löbichau bei der Herzogin von Kurland tanzte, als sei das Beinschwingen sein Lebensberuf. Er hat unsere liebe Ulrike wacker gequält und war doch sehr liebenswert. Ich glaube, seine Freundschaft – denn die gab er – hat Ulrike von Egloff über die bösen Jahre hinweggebracht. Sie dürfen ihm dankbar sein, lieber Hügel. Nein, nein, brausen Sie nicht auf«, rief Jean Paul, als er sah, daß helles Rot über Heinrich Hügels Gesicht flog. »Ulrike hat ein starkes und tapferes Herz bewiesen. Sie dürfen sie nicht mit Eifersucht plagen.«
Doch Heinrich Hügel fragte dringend: »Warum haben Sie in Löbichau der schwedischen Gräfin Munk erzählt, Ulrike sei mit dem baltischen Baron verlobt?«
Jean Paul lachte mit entwaffnender Herzlichkeit.
»Ich verstehe ja viele Sprachen. Aber wenn jene Reisegräfin auf Schwedisch oder Dänisch auf mich einredete, so nickte ich eben mit dem Kopf. Sie mag mir manche Vermutung erzählt haben, ohne daß ich ahnte, was sie meinte. Als ich mich noch in der Welt bewegte, habe ich gelernt, daß es ganz gleichgültig ist, ob man auf die Reden hochmögender und eigenwilliger Damen hinhört, oder nicht. Sie wollen ihre Irrtümer nicht berichtigt, sondern nur höflichen Beifall.« –
Gegen Abend kam Ulrikes Jungfer und brachte ein Briefchen. Als es dunkel war, ging Heinrich Hügel durch sein altes Bayreuth, kam aus dem Gewinkel um die Stadtkirche zur breiten Marktstraße mit ihren Brunnenläufen, sah lichtlose Häuser, bog ein zum Schloßplatz, stand vor dem Denkmal des Markgrafen, der sich in den Türkenkriegen Ruhm erwarb.
Alles war wie einst. Die lange Schloßfront lag in Verlassenheit. Das Gattertor zum Hofgarten hatte noch seinen alten Trick, ließ sich für den Eingeweihten öffnen. Hier war wohl des Großvaters letzter Weg gegangen. Gerührt dachte der Enkel an Jean Pauls Erzählung vom Sterben des alten Mannes, das so sanft gewesen. Ulrike hatte zuletzt noch mit ihm gesprochen …
Am andern Nachmittag kam Ulrike. Jean Pauls überließen den Liebenden das Musikzimmer. Niemand sollte die Stunden ihres Zusammenseins stören.
Als Ulrike, wie es die Sitte vorschrieb, von ihrer Jungfer Bärbel begleitet, über den Platz vor dem Gymnasium ging, der die Friedrichstraße teilt, sah sie kleine weiße Wölkchen am blassen Frühlingshimmel schweben. Sie lächelte, sie rief den Wölkchen ein frohes Wort zu. Glanz lag über Ulrikes Gesicht. In einer wundervollen Sicherheit ging sie dahin. Der Zorn des Vaters, sein heftiger Befehl, sie dürfe dem Gärtnerssohn, der immerhin den Anstand besessen, Bayreuth wieder zu verlassen, nicht mehr nachforschen – wie leicht wogen ihr jetzt diese Worte. Sie dachte einen Augenblick lang auch an Alexander, ihren Bruder, als eine Hilfe für später.
Ach, Frühlingswölkchen standen am blaßblauen Himmel. Ein sanfter Wind strich über die Straße. Ulrikes Blut aber rann als ein Strom von Glück durch ihr Herz. Minuten noch, und dann würde sie wieder in das geliebteste Antlitz schauen, nach dem sie sich durch all die Jahre gesehnt hatte. – –
Der kurzen Begegnung folgte, sobald der Frühling auch im rauhen Fichtelgebirge den Nadelbäumen helle Triebe aufsteckte und die Birken ergrünen ließ, eine Zeit märchenhaftesten Glücks. Dazu verhalf die Großtante, Gräfin Giech, die sich von einem Aufenthalt in Alexandersbad eine gute Wirkung für ihr Befinden erhoffte.
Die greise Reichsgräfin begab sich also im Gefolge von Diener und Kammerfrau in ihrer Reisekutsche auf die Fahrt und nahm zu ihrer Zerstreuung Ulrike mit. Denn es mußte etwas Jugendliches um Amelie Giech sein, auch brauchte sie eine Vorleserin, die fremder Sprachen mächtig war.
Der Gräfin Giech taten sich Räume in dem Schloß des letzten Markgrafen auf, der dem Bade seinen Namen gegeben hatte. Eine lange Allee senkte sich zu dem Gebäude herab, und das Badehaus lag in bequemster Nähe.
Heinrich Hügel war für die Zeit von Ulrikes Aufenthalt in ein stilles Haus bei Wunsiedel gezogen, wo ein schrulliger Gelehrter seinen Studien lebte. Er gab den Gast als seinen Neffen, den Magister Sommerfeld aus, und Heinrich Hügel schickte sich zum zweitenmal in ein Pseudonym. Denn zum Personal der Gräfin Giech durfte jetzt sein Name nicht dringen, sie selbst aber würde ihn kaum wiedererkennen. Ulrike, die auch seit dem Abschied von Lieven ihre charitativen Wege fortgesetzt hatte, wußte, daß sie in den Weilern und Dörfern des Gebirges Arme und Kranke finden würde und mit Billigung der Großtante betreuen konnte.
So war alles Äußerliche in Form gebracht. Ein Zufall wollte es, daß eine frühere Jungfer aus Giech unweit der Luisenburg verheiratet war, krank lag und besucht werden sollte.
So wurde das wunderliche Felseneiland inmitten des Gebirges zum Treffpunkt für die Liebenden.
Die Erlebnisse so vieler Jahre mußten ausgetauscht werden. Nach langen Fahrten war die Heimkehr geglückt, und nun wollte man so vieles voneinander wissen. Man suchte auch den Weg der inneren Reife zu erkennen, und wie manche geistige oder weltanschauliche Wandlung sich in ihnen vollzogen hatte.
Heinrich Hügel hatte das gradlinige Verlangen, daß der Staat Friedrichs des Großen wiederhergestellt würde, und war bereit, sein Leben einzusetzen, wenn der König rief. Er war Royalist und glaubte fest an die Gerechtigkeit in zivilisierten Staaten. Als Sohn und Enkel von Gärtnern hatte er es zum Studenten und zum Offizier gebracht. Die Natur bestimmt unsere Fähigkeiten, der Wille in uns bahnt den Lebensweg, war seine schlichte Überzeugung. Wer verkommt, hat es verdient, und wer den Ereignissen nachhinkt oder sich ihnen nicht entgegenwirft, ist bestenfalls zum Ährenleser bestimmt.
In Ulrike waren durch Theodor von Lieven noch andere Probleme gefördert worden. Daß sie nur mit einem Körbchen voll Kleidern oder Lebensmitteln, mit Handreichung und Trostworten sich der Armut und der Not näherte, schien ihr selbst ein wenig kleinlich. Ihr Sinn war durch Rousseau und Zinzendorff gebildet, und diese wunderliche Mischung hatte sich in ihr verschmolzen zu einem großen sozialen Mitleid.
Ihr liebster Mensch meinte sich und sie, wenn er »wir« sagte. Sie sah noch ein anderes »Wir«: die großen Helfenden und die Hilfsbedürftigen. Sie hoffte, es würde für sie die Zeit kommen, da ihr Dienst an den Menschen nicht nur in einer Hand voll Alltagsgaben bestünde.
Ulrike von Egloff hatte in den Jahren ihrer großen inneren Einsamkeit schweigen gelernt, und sie war klug genug, dem gewesenen Kriegsgefangenen von Küstrin nicht mit Dingen zu kommen, die ihm jetzt fern lagen. Doch in ihm selbst lebte der Wunsch nach Aussprache. An einem Nebeltag, der jäh die Erinnerung aufrief an den Himmel, der über dem Schlachtfeld von Jena gestanden, begann er, von den toten Kameraden zu sprechen.
»Gelt, du bist fromm, Ulrike«, sagte er unbeholfen. Und als sie nickte und hinzufügte, sie hoffe, auch er habe sich den gemeinsamen Glauben bewahrt, flog ein kleines Lächeln um seinen Mund: »Weißt du, die überlangen Predigten in der Stadtkirche machten den Schüler oft sehr ungeduldig. Dachte man, eine Predigt habe zwei Teile, so wurden oft fünf daraus, und wir mußten standhalten. Auch habe ich gar nicht begriffen, daß ein Heiland, ein Erretter stirbt. Der Befreier mußte doch über die Feinde triumphieren, nicht wahr, so dachte man als Junge. Freilich sagte mein Großvater, ein Tod bringt immer Erbschaft. Aber diesen Spruch nahm ich damals nur als materiell.«
Heinrich Hügel sah in den Nebel hinaus. Scheu lag über seinen Zügen. »Weißt du, Ulrike, ich habe es mir so zusammengedacht: Viele standen im Feld und hofften nur auf Karriere und Heimkehr. Anderen, den Besten vielleicht, mochte es bewußt sein, daß sie dem Opfertod fürs Vaterland entgegengehen. Und nun verstehe ich diesen Opfertod. Er geschah nicht umsonst. Er entsühnte die Niederlage. Christus starb für uns, die Gefallenen starben für uns. Christus entsühnt das Dunkle in uns –«
Ulrike strich leise über Heinrich Hügels Hände.
*
Das Gebirge erstrahlte wieder im Sonnenlicht. Die Liebenden feierten Frühlingsfeste. Das Land stand um sie in bräutlichem Glanz, im Aufstrahlen der Natur. Über der Luisenburg schimmerte das Baumdach noch zart und scheu vor des Himmels Helle. Moos und Farnkraut grünten im Grund um die uralten Findlingsblöcke, die einzeln lagen wie geduckte graue Riesentiere. Einst in Gletschermühlen aufeinandergetürmte Steine ruhten mittels kleinster Basis aufeinander. Man meinte, ein winziger Anstoß könne genügen, sie abrollen zu lassen. Um einzelne der gewaltigen Felsmassen hatten sich kleine Teiche gebildet, so daß es wirkte, als baue sich eine Wasserburg auf. Über andere war ein flacher Granitblock geschoben, und es entstand das Bild eines Riesenpilzes oder Regenschirmes.
Diese Spielereien der Granitwelt, durch die man stundenlang wandern konnte, um immer wieder Neues zu erblicken, oder um zu merken, man hatte sich in ein Labyrinth verloren und fand den Ausweg nicht mehr, waren Ulrike neu. Der Vater hatte sie wohl schon im Wagen zur Luisenburg mitgenommen und ihr von der Straße aus flüchtig die Felswände und Felskamine gezeigt, die einst den Hintergrund einer Theateraufführung für die Königin Luise gebildet hatten. Doch zum erstenmal wanderte Ulrike jetzt zu Fuß durch die Wildnis des Fichtelgebirges. Heinrich, der hier Weg und Steg kannte, hatte seine Freude an Ulrikes Staunen und lachte, wenn sie immer neue Überraschungen entdeckte. So genossen sie den Aufbruch bräutlicher Zeit, umgeben vom Glanze des Frühlings und den wunderlichsten Naturschauspielen des fränkischen Gebirges.
»Man meint, hier tritt man zurück in die Urzeit, in unermeßliche Ferne.«
»Hast du Angst vor all den Felsenungetümen, Ulrike?«
Heinrich Hügel nahm eine pathetische Stellung an, deutete nach einem besonders seltsamen Granitgefüge und rief wie befehlend jenes Wort Bonapartes aus, gesprochen zu den Soldaten im Angesicht der Pyramiden:
»Les siècles vous regardent!«
»Du hast recht, Heinrich, wir dürfen nicht vergessen, daß noch der böse Wille des großen Eroberers über deutscher Heimat steht.«
»Ja, Ulrike, wir vergessen weder die innere noch die äußere Bereitschaft für den Aufbruch.«
Er beugte sich zu ihr, hüllte sie in Zärtlichkeit.
»Aber diese Stunde gehört uns noch ganz allein.«
Musik klang um sie. Die Waldvögel sangen ihr Lied. Meisen läuteten. Spechte hämmerten zu all dem Flöten- und Pfeifenspiel. Mit ihren klugen Gesichtern guckten Eichhörnchen aus stolzer Höhe auf die Wanderer herab, stießen kleine nervöse Töne der Furcht aus, warfen wohl auch abgerissene Fichtensprossen herab.
Heinrich Hügel führte Ulrike den Steilweg zu der Kösseine hinauf. Über glitzernde Trümmerfelder von Granitplatten, über grünes Polstermoos ging es zu dem Aussichtspunkt, von dem man über schier endlos scheinende Wälder schaute. Wie verwunschen schien Ulrike das alte Gebirge! Sie sah stille, fast kraterartig runde Gewässer, Regenansammlungen in alten Bohrlöchern, an denen seltsame weiße Blumen blühten; die kleinen Teiche hatten Namen wie Zinnschüsselweiher, Arzweiher und ähnlich. Heinrich Hügel konnte nicht nur von Erzgräbern, Holzfällern, Harzsammlern und Bergsteigern erzählen, er wußte auch von unsichtbaren Waldwesen, den Holzfräulein, die da im Moose schlafen und nach ihrer Verheiratung in den Bäumen wohnen. Sie baden im Tau und verhüllen ihr Gesicht mit grauem Moosgehänge. Das Volk hat den Wald mit geheimnisvollen Geschöpfen bevölkert: Die »Schrazen« sind Nomaden, besuchen gute Leute und bringen ihnen durch ihre Gegenwart Glück. Auch Zwerge, »die Hankerli« genannt, leben in den Wäldern, und die Hutzelweibchen, kleine graue Waldgeister, darf man nicht beleidigen.
Ulrike lächelte: »Womit kann man die Unsichtbaren kränken?«
»Wenn man nicht an die Wunder des Waldes glaubt«, antwortete Heinrich Hügel und hielt Ulrikes Arm fester.
Über ihnen klang das ewige Rauschen der Wipfel als das festliche Lied des Lebens – –
*
Heinrich Hügel trieb seine Studien im Hause Sonnenfeld weiter. Er hatte guten Mut. Ein neuer Krieg konnte nicht mehr fern sein.
Ulrike wußte von ihrem Bruder, wie sehr die Offiziere darauf warteten, Napoleon die Revanche für Jena zu geben. Auch im Volke, soweit sie ihm nähertreten konnte, spürte sie mehr und mehr innere Auflehnung gegen die herrschende Lage. Die Last fremden Druckes (denn der bayrische König handelte ja nur den Anweisungen Napoleons gemäß) bewirkte Sehnsucht nach Befreiung und ließ das Gefühl erwachen, daß man nicht in Untätigkeit verharren dürfe.
An einem Juniabend wanderte Heinrich aus Alexandersbad in das Haus Sonnenfeld zurück und versäumte in seiner glücklichen Stimmung die bisher beobachtete Vorsicht, die Stadt Wunsiedel zu umgehen.
Er kam an einem hübschen Gasthof mit Gartenbetrieb vorüber und hörte sich plötzlich angerufen. Er wollte schon den Namen »Herr von Reinosch« hinter sich verklingen lassen, hielt aber doch einen Augenblick lang den Schritt an. Sollte ihm Major von Lastrow eine Nachricht senden?
Ein Mann kam herangekeucht, winkte mit den Händen und rief: »Gottlob, daß ich Sie treffe, ich bin doch Ihr Bote, der August Hicketier. Sie müssen mir die Genugtuung geben, mich aussprechen zu dürfen.«
Der Mann dienerte und bat. Heinrich Hügel, noch in schwebender innerer Bewegung von den letzten Stunden her, vergaß seine Wachsamkeit und trat in den abendlichen Wirtsgarten ein.
»Ich wagte mich nicht zurücke, der Herr Großvater war gestorben, die Dame verreist, mein Geld zerfloß mir im Warten«, so begann sein Bericht. Dennoch war August Hicketier von Bayreuth aus wieder nach Wunsiedel gelangt, und in diesem Haus mit der schönen Wirtschaft, wo er Verwandte besaß, aufgenommen worden. »Und nicht wahr«, fuhr der einstige Bote fort, »weil meine Base schon eine Weile Witwe war, und ihre Kinderli noch klein sind, da hat sich eben das Weitere von selbst ergeben.«
August Hicketier brachte Kulmbacher Bier herbei, stellte seine Gattin vor und fing an, noch Einzelheiten zu berichten. Irgendwo in schlechter Herberge hatte man seine Kleider des Nachts, während er schlief, aufgetrennt, ihm Geld und alles Schriftliche gestohlen. Ohne jede Legitimation, abgerissen und armselig, fand er keinen Zutritt im Schloß Bayreuth. Als er später schon als der installierte Gastwirt wiederum vorsprach, fand er abermals die Wohnung verschlossen.
»Ich hatte Angst, mich jemand anzuvertrauen, denn ich habe es doch gewußt, daß Sie von Küstrin geflohen sind. Sie hatten ja ein Hemd mit einem großen Stempel an, als Sie aus der Oder kamen.«
Heinrich Hügel war es, als hörte er aus einer nahen Laube ein spöttisches Männerlachen. Er verabschiedete sich von seinem einstigen Boten, der ungebeten völliges Schweigen versprach. Da er nun Hicketier wieder getroffen hatte, hielt es Heinrich Hügel für besser, aus der nächsten Umgegend von Wunsiedel zu verschwinden. Die Übersiedlung in ein anständiges Alexandersbader Gasthaus ging rasch vonstatten.
Nun war er Ulrike ganz nahe. Er konnte sie sehen, wenn sie mit der gebrechlichen Tante durch die schöne, große Allee ging, er konnte ihr Grüße zuwinken und sie schon auf dem Wege zur Luisenburg treffen. Dort, wo halbversunkene graue Findlingsblöcke im Preißelbeerkraut lagen wie die Rücken schlafender Urweltstiere, wartete er und horchte, bis Ulrikes leiser Schritt erklang. Am Abend strich er dann um das kleine Schloß, grüßte ihr Fenster, bekam einen Gegengruß, wenn alles schlief.
Er rechnete, wie lange die schöne Zeit hier noch dauern durfte. Bekam er nicht bald Antwort von seinem Naumburger Regiment, so würde er die Reise nach Berlin wagen müssen.
Im Schloß ging es heute lebhaft zu, hatte er beim Vorübergehen gesehen. Der bayerische Generalkommissar Graf Thürheim, so erzählte der Wirt, hatte Wunsiedel besucht und beehrte nun Alexandersbad. Das militärische Gefolge des Exzellenzherrn musterte im Fichtelgebirge Rekruten aus.
Ich werde auf meinem Zimmer bleiben, beschloß Heinrich Hügel.
Doch noch vor dem Mittagessen erschien der Wirt und meldete erregt, der Herr Generalkommissar ließe den Herrn Magister Sonnenfeld ins Schloß bitten.
Heinrich Hügel erschrak. Er hatte den einzigen Gedanken: Flucht. Doch da stand, den Wirt zur Seite drängend, ein bayerischer Offizier unter der Türe, schloß sie hinter sich, grüßte knapp und sagte: »Kein Aufsehen, bitte. Keine Ausreden, bitt' schön. Sie werden wissen, daß Sie bayerischer Untertan sind, und daß es Pflicht eines Rheinbundstaates wäre, einen französischen Kriegsgefangenen auszuliefern. Aber Seine Exzellenz, der Graf Thürheim ist ein sehr loyaler Herr, er achtet die Empfindungen, die in unseren neuen Provinzen noch leben. Also, der Herr Exzellenzgraf will ein Auge zudrücken und nicht recherchieren lassen, sondern er stellt Ihnen die Wahl: Wollen Sie als ein Flüchtling, der sich unter verschiedenen Namen herumtrieb, nach Küstrin zurückgeliefert werden, oder wollen Sie heute nachmittag mit mir und meiner Mannschaft nach München? Im letzteren Fall bekommen Sie Ihren Rang in der bayerischen Armee zurück.«
Heinrich Hügel stand steif, wandte den Kopf, sah nach dem Fenster und wußte doch, zwei Stockwerke hoch kann man nicht herunterspringen.
Der bayerische Adjutant stieß ein kurzes Gelächter aus, und Heinrich Hügel wußte, diesen rauhen Klang hatte er schon einmal gehört: in der Gartenwirtschaft des August Hicketier kam es aus einer Laube.
Der Adjutant bearbeitete mit den Fußspitzen den Bretterboden: »No also, nehmen's doch Vernunft an. Ihre G'schicht' is heraußen. Doch der Exzellenzherr hat eine gnädige Gesinnung. Nämlich, die Gräfin Giech, was eine gar alte Dame ist, und ihre nièce, die sehr hübsch ist, waren Ihre Fürsprecher. En avant, ich werde Sie Seiner Exzellenz vorstellen.«
Leb wohl, Ulrike, leb wohl, Heimat, dachte Heinrich Hügel auf dem kurzen Weg ins Schloß. Unter einem Lindenbaum, dessen Blüten in der Nacht aufgebrochen waren und nun ihren Duft verströmten, sah er einige erregte Frauen und Mädchen. Sie riefen es einer Neuhinzutretenden weinend zu: »Die Königin Luise ist gestorben.«
Heinrich Hügels Fuß stockte. Er nahm den Hut ab.
Auch der bayrische Adjutant blieb einen Augenblick stehen. »Soll eine schöne Frau gewesen sein, schad' um sie. Ja, die Preißen ham kein Glück.«