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VIII.
Der Gefangene

Die sieggewohnten französischen Truppen hatten nach dem Zusammenbruch des preußischen Heeres ein leichtes Spiel. Keine der Festungen des frederizianischen Kernlandes war auf eine lange Belagerung gerüstet, denn niemand hielt es vor Jena für ausdenkbar, daß feindliche Armeen bis in das Herz der Monarchie vordringen könnten.

König Friedrich Wilhelm III. hatte nach den verschwenderischen Zeiten seines Vaters ein Regime der Sparsamkeit eingesetzt. Er hielt als ein guter Hausvater dafür, Ausgaben müßten nach den Einnahmen bemessen werden, und er wußte nicht, daß Wagemut ein Teil des Erfolges ist. Er war als der rechtlichste Mann seiner Zeit hineingerissen in eine Epoche, die dem Abenteurer die Sieges- und Erntekränze zuwarf.

Der Rang preußischer Festungskommandanten ward durch lange Dienstzeit erreicht. Ihr Pflichtgefühl erwuchs mehr dem Standesstolz als der Vaterlandsliebe. Große, jüngere Begabungen blieben überalterten Stabsoffizieren untergeordnet und ausgeschlossen von entscheidenden Kommandos. Die preußische Armee war, wie die Königin Luise sich äußerte, »eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen«.

Das entsetzliche Erwachen fand die alten Kommandanten ratlos und verwirrten Sinnes. So wurde es möglich, daß Erfurt sogleich nach der Schlacht von Jena kapitulierte, und bald auch die Hauptfestungen, der Stolz des Staates, Magdeburg, Küstrin, Stettin, sowie kleinere Waffenplätze ihre Tore dem Feinde öffneten.

Das treue Volk sah dies ohne Begreifen und in aufwallendem Zorn. Junge Offiziere zerbrachen ihre Degen, denn ihre Ehre schien ihnen vernichtet. Einfache Soldaten gaben einander den Tod, um die Schande der Kapitulation nicht zu erleben.

In Küstrin, der alten Oderfestung, wo einst Friedrich der Große die Tragödie seiner Jugend durchlitten hatte, herrschte nun ein französischer General. Er war von Verachtung erfüllt gegen die eingelieferten Kriegsgefangenen und ließ sie wie Zuchthäusler Arbeit tun. Arbeit ist Wohltat, ist dem gesunden Menschen Lebensbedürfnis, weil sie etwas schafft und zu einem Ziele führt. Aber es gibt auch die nutzlose Arbeit, Anstrengung ohne Zweck, Ermüdung ohne Sinn. Das ist, wenn Gefangene, wie in Küstrin, heute Sand und Steine von einem Platz der Wälle karren und morgen auf die frühere Stelle wieder zurückbefördern müssen. Nutzlose Arbeit ist, wenn Soldaten die sumpfigen Wassergräben ausbaggern und dann den Befehl erhalten, den übelriechenden Schmutz den Sümpfen wieder einzuverleiben.

»Sie geben vor, Offizier zu sein und sind in einem Bauernkittel und ohne Degen gefangengenommen worden«, rief der französische Machthaber Heinrich Hügel zu, als es diesem endlich gelungen war, vorgelassen zu werden.

Heinrich Hügel kannte die Schwere seiner Mißlage. Er wußte bestimmt, daß man ihm, der auf dem Transport wieder ohnmächtig geworden war, seine Uniform gestohlen und mit Bauernkleidern vertauscht hatte. So waren auch alle Papiere und Ausweise verlorengegangen. Kein Brief, zu dem sich die Gefangenen mühselig das Papier verschafft hatten, wurde befördert. Die Welt war wie verbaut.

»Wenn Sie mir nicht die Gerechtigkeit erweisen wollen, an mein Regiment nach Naumburg schreiben zu dürfen, so lassen Sie doch ein Examen mit mir anstellen, Herr Kommandant!« Und Heinrich Hügel bot an, in der lateinischen Sprache, in Geographie, in Geologie, in den Infanteriewissenschaften zu beweisen, daß er ein Anrecht auf den Offiziersrang habe.

»Ein Examen? Sonst wünschen Sie nichts?« lachte der Franzose spöttisch auf. »Nun, wenn Sie so gelehrt sind, werden Sie eine Einzelzelle bekommen. Dort können Sie den Code Napoléon studieren.«

Heinrich Hügel erhielt die Zelle mit Pritsche, Tisch und Stuhl. Durch eine Fensterluke in der dicken Wand konnte man das welke Schilf am Odergraben sehen, dieses Schilf, das so gespenstisch rauschte, trotzdem es schon zerknickt und hinfällig war. In der qualvollen Enge und Einsamkeit des Raumes lernte Heinrich Hügel erst ganz verstehen, was Gefangenschaft für einen kräftigen jungen Mann heißt. Es war gegen dieses Elend eine Wohltat gewesen, in Herbststürmen, in bitterster Kälte die Arbeit eines Kärrners zu leisten. Da hatte man den Himmel über sich gesehen, in Menschenaugen blicken können, und wenn die Aufseher weit waren, auch mal ein Wort mit den anderen Unglücklichen gewechselt. Man hatte wohl auch Pläne geschmiedet, wie eine Flucht möglich sei.

Der Gedanke, preußische Truppen müßten kommen und Küstrin zurückerobern, erhielt sie aufrecht. Aber die preußischen Truppen kamen nicht.

Wenn der Wärter Heinrich Hügels Zelle in Ordnung brachte, ihm frisches Wasser, Brot, ein Löffelgericht oder in jähem Mitleid auch mal einen Kerzenstummel brachte, suchte der Gefangene ihn durch ein Gespräch zu fesseln. Der alte französische Korporal war nicht ganz ohne Höflichkeit. Ab und zu bewilligte er einen Barbier oder auch reine Wäsche; der Korporal befand sich im Besitz der Geldbörse des Offiziers, eines Beutels, den Heinrich Hügel auf der Brust getragen hatte. Dies brauchte der Gefangene aber nicht zu wissen.

Der Korporal wollte zuweilen seinen Angehörigen in der fernen Provence ein Lebenszeichen geben und war doch ein Feind der Feder. So konnte Heinrich Hügel sein Sekretär werden, ja er durfte dann auch eigene Briefe schreiben und dem Mann anvertrauen. Daß diese Briefe der Festungskommandant ins Herdfeuer werfen ließ, wußte ihr Verfasser nicht.

Er grübelte, warum nie Antwort kam? Hatte man keinerlei Mittel, mit Kriegsgefangenen in Verbindung zu treten? Sollte es wahr sein, was der alte Korporal, was der junge Barbier daherschwatzten? Sie erzählten, die Franzosen herrschten in Berlin, der König von Preußen lebte als Privatmann in Memel, es gäbe keine preußische Armee mehr, alle Offiziere hätten sich ergeben und wären in die Dienste Seiner Majestät des Kaisers getreten.

Die Leute lügen, wußte Heinrich Hügel. Ja gewiß, es würde Unglück im Lande sein, es würde wohl auch noch eine böse qualvolle Zeit vergehn, bis Küstrin wieder in preußische Hand kam. Vielleicht waren andere Festungen wichtiger für die neuen Operationen. Vielleicht sammelte sich das Heer in Ostpreußen oder in Schlesien, um die Niederlage bei Jena wieder gut zu machen. Denn an die Niederlage mußte man wohl glauben. Heinrich Hügel hatte an jenem schrecklichen Oktobertag bis in den sinkenden Abend hinein gekämpft, er hatte die wilde Flucht seiner Kameraden gesehen und war auf seinem Platz geblieben, bis ihn Granatsplitter niederwarfen. Er wußte auch noch, daß er von einer freundlichen Frau in einem Bauernhaus gehört hatte, er müsse sich verborgen halten, denn alles wäre verloren. –

Gibt es denn das, sann er in endlosen Tagen und Nächten, in denen der Herbst zum Winter, der Winter zum Vorfrühling geworden war, daß eine einzige Schlacht einen stolzen Staat zertrümmern kann?

Der Code Napoléon, seine einzige Lektüre, konnte darüber keine Auskunft geben. Der Gefangene haßte dieses Buch, publiziert am 30. Ventose XII, also in der anmaßlichen Zeitrechnung der Franzosen, und er las, um die quälenden Gedanken zu verscheuchen, doch wieder darin von »des biens et des différentes modifications de la propriété« oder »des différentes manières dont on acquiert la propriété«.

Für die Gefangenen in Küstrin fanden diese Heilsworte keine Anwendung!

Flucht, Flucht! Aber Jahrhunderte haben an den Mauern und Wällen von Küstrin gebaut. Mit den Fingern und ein paar Stücken Holz kann kein Gefangener sie zerbrechen. Man vermag auch nicht Streifen aus einem Leintuch zu reißen und sie zum Rettungsseil zusammenzuflechten, wenn man kein Leintuch besitzt. Man kann auch nicht in einer einzigen Nacht die schweren Wände um das spannenbreite Fenster so erweitern, daß ein Sprung in die Tiefe möglich wäre.

Hier in Küstrin harrte einst Kronprinz Friedrich seines Schicksals. Hier bangte er um die Schwester und um Katte. Hier hatte er das blutige Ende des Freundes mitansehen müssen.

Die Gestalt Friedrichs des Einzigen ward für Heinrich Hügel immer erneut lebendig. Wer vorbestimmt ist, für sein Vaterland, für sein Volk etwas zu leisten, geht nicht in einem Gefängnis unter. Sowenig Brandenburg, das Kernland der preußischen Monarchie, je versinken kann, sowenig wird der Gefangene auf der Bastion Brandenburg der Festung Küstrin der Willkür der Fremdherrschaft oder einer Krankheit erliegen.

Diese Trostworte, tausendmal erneuert, hatten Sinn für den, der sie sich immer wieder vorsprach.

Der Beistand eines Predigers war hier verboten. Vielleicht mühten sich die Geistlichen des Landstriches darum, vielleicht machten sie unermüdliche, aber vergebliche Versuche, zu den Gefangenen gelassen zu werden.

Durch die enge Fensterluke sah man ein Stück vom Lande Lebus: Pappelalleen, Felder, ferne Dörfer. Dieses schmale Bild ließ wenigstens wissen, daß die Welt nicht nur aus Festungsmauern bestand. Die Augen sogen sich fest an der kargen Aussicht. Der Wechsel der Jahreszeiten spiegelte sich darin: Amselruf und Lerchengesang zeigten an, daß man aus dem Vorfrühling in die österliche Zeit und dann in den Mai gekommen war.

Im Fichtelgebirge mochte der Schnee geschmolzen sein. Im Hofgarten von Bayreuth blühte der Flieder. Und wie erging es Ulrike?

Sie mußte längst erfahren haben, daß er in Gefangenschaft war. Doch man würde wohl nicht wissen, wo die einzelnen Vermißten sich befanden.

Der Korporal hatte zugegeben, daß er keine Briefe des Gefangenen befördern durfte. So besaß niemand in Bayreuth Kenntnis von seiner Lage, nicht Ulrike, nicht der Großvater, nicht der gute Jean Paul. Gefangene Offiziere, gefangene Soldaten waren abgeschnitten von jeder Nachricht, sie lebten unbekannten Aufenthaltes für ihre Freunde, oder sie wurden als tot betrauert.

Ulrike! Sie besaß den Schutz von Vater und Bruder; aber es war kein Trost, zu wissen, daß Väter und Brüder ihren Töchtern und Schwestern die Ehe wünschen, die Werbung geeigneter Freier befürworten. Erriet man, um wen sie wohl traurig war? Hatte sie, die so tief zurückhaltend ihr Herz bewahrte, doch eine Aussprache gesucht? Er ahnte es nicht, er zerquälte sich in Vorstellungen. Vielleicht dachten Menschen, die nie eine Schlacht mitgemacht hatten, ein Offizier siegt, oder er fällt mit dem Degen in der Faust. Vielleicht lag Schimpf über jeder Art von Gefangenschaft!

Aber Ulrike würde sicher sein, daß er nicht zu denen gehören konnte, die dem Feind ihren Degen überreichen! Heinrich Hügel dachte der Kindertage, der Knabenjahre. Wie oft hatte er, wenn sie in einem Versteck im Hofgarten saßen, von kühnen Jagden, von großen Eroberungen erzählt, die er machen würde, wenn er erst älter wäre. Verrauschte Zeit!

Wann kam die Stunde der Befreiung?

Der preußische Angriff zur Entsetzung von Küstrin, immer von neuem ersehnt, trat nicht ein. Bei den ganz seltenen, streng bewachten und kurzen Wegen über den Schloßhof von Küstrin hatte Heinrich Hügel nur heitere, unbesorgte französische Offiziere gesehen. Furcht vor den Preußen war nicht zu spüren.

»Preußen kaputt, Berlin kaputt.« In diesem Deutsch übten sich zuweilen Soldaten der Großen Armee, die an der Bastion Brandenburg zur Wache aufzogen.

Heinrich Hügels Eingaben an den Kommandanten mit der Bitte um ein erneutes Verhör blieben unbeantwortet. Vielleicht starben Gefangene, denn einmal wurde Heinrich Hügel ein preußischer Soldatenrock zugewiesen. Er streichelte das rauhe, blaue Tuch. Er trug dann den Rock des toten Kameraden. Der alte Korporal lachte dazu und warf hin, der preußische Rock sei ungünstig für Fluchtpläne. Dann ging der Korporal zum schmalen Fenster und hob einige Steine heraus, die Heinrich Hügel in mühseliger Nachtarbeit gelockert hatte.

In der nächsten Stunde erschien der Maurer. Es war ein Graukopf mit einem klugen Altmännergesicht, schmalen festgeschlossenen Lippen. Er tat seine Arbeit so langsam und gründlich, daß dem Korporal das Warten zuviel wurde, denn es war die Stunde, da die Mittagrationen verteilt wurden. »Der Erste schöpft immer das Fett ab«, rief der Maurer, als der Korporal zur Türe ging, um dann draußen die Riegel klirren zu lassen.

Appetit geht vor Wachsamkeit, dachte der Gefangene und wandte sich an den Maurer. Der Mann mit dem deutschen Bauerngesicht machte ihm ein Zeichen, näher zu kommen, und während er heftig auf die Steine klopfte, flüsterte er:

»Werden Sie krank. Viele sind krank. Unser Dorfarzt behandelt manchmal die Gefangenen.«


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