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XII.
Ein letztes Geleit

Schwere Tage kamen für Ulrike. Baron Egloff hielt es wie die meisten Väter für seine Pflicht, ihr die gebotene glänzende Heirat mit immer neuen Farben zu schildern, und der landläufige Satz, daß die Liebe in der Ehe käme, wurde Ulrike zu einer verhaßten Alltagsweisheit. Endlich begriff der Vater – Ulrike wollte nicht.

Sie lernte Fassung bei all den Gesprächen, die sich in lange Abende hinein dehnten: sie gab Heinrich Hügel nicht preis. Denn ihr Herz war scheu, und sie wußte, der standesstolze Vater würde seinen ganzen Zorn auf Heinrich Hügel, den Enkel eines Gärtners, werfen, wenn er erfuhr, seine Tochter erwarte noch den Verschollenen oder sie trauere ihm nach. Besser noch schien es Ulrike, daß ihr Vater, ohne es direkt auszusprechen, wahrscheinlich glaubte, sie sei Lieven zugetan.

Baron Egloff fing an, sich mehr für Theodor von Lieven zu interessieren. »Unser tägliches Brot, der Balte, studiert jetzt die Mundharmonika sowie die Spitzenklöppelei und andere nutzbare Weiberarbeit«, erzählte er. »Er will in die Elendsdistrikte nicht nur die Herrnhutsche Art, sondern auch Musik und weiblichen Erwerb bringen. Er hat keine große Eile mit der Ausreise. Ich glaube, es hält ihn nicht nur der so leicht zu erreichende Hof in Löbichau bei seiner Herzogin von Kurland. Es muß wohl auch in der Stadt Bayreuth einen Magneten für ihn geben.«

Gewiß, es war etwas sonderbar, daß Lieven gar so lange brauchte, um seine Vorbereitungen zu treffen. Ulrike kannte freilich den letzten Grund seines Zögerns: er wollte sie an sich fesseln. Langsam und ohne daß sie sich dessen recht bewußt wurde, kam ihr sein zukünftiges Wirken nicht mehr so unsinnig vor, wie es zuerst gewesen war. Theodor von Lieven sagte, er habe nicht die Absicht, für österreichische, spanische oder französische Interessen auf einem Schlachtfeld zu verbluten. Riefe aber einmal der König von Preußen und mit ihm der Zar, würde er zur Stelle sein. Doch nach dem Frieden von Tilsit stand diese Zukunft auf lange Sicht.

Die Gründung einer neuen Kolonie war von Lieven schon in ersten Jünglingsjahren beschlossen. Vielleicht hatten die Einflüsse seiner englischen Mutter den Gedanken hervorgerufen. Ulrike war durch oftmalige und eindringliche Erzählungen schon vertraut mit dem Lande, und der Name Montgomery, Sitz der zukünftigen Herrnhuter Kolonie, hatte ihr einen gewohnten Klang. Dennoch blieb sie nicht ohne Widerspruch gegen den Balten. Sie behauptete, erst müsse man die materielle Lage der Armen verbessern, ehe man von ihnen eine Geneigtheit zu frommen und schönen Gefühlen erwarten dürfe.

»Du vergißt, daß der Geist Christi eine andere Kraft ist als ›zierlich Denken und süß Erinnern‹, wie Goethe sagt«, rief Theodor von Lieven. »Die Seligpreisungen der Bergpredigt müssen auch das stumpfste Gemüt aufrütteln. Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – welch ein ewiges Wort.«

Sie überhörte, daß er sie du nannte. Sie hatte es schon öfter überhört, wenn er so ganz ein Hingerissener war für seine Ideen.

Ulrike saß am Kamin und sah auf die knisternden Scheite. Der lange Winter brach herein. Sollte sie immer weiter im Schlosse von Bayreuth warten und warten? Ihr Herz war nicht fähig, an die Beglückung fremder und ferner Menschen zu denken.

Wieder klang Theodor von Lievens Stimme auf: »Verstehe es doch, Ulrike, es gibt nur die Erlösung durch Christus. Wir bleiben sonst ewig die Unvollendeten. Ethos und Wille, Vaterlandsliebe und Leistung, die höchste Form menschlicher Güte und Weisheit sind ein Unvollendetes vor unserer idealen Forderung.«

Sie fragte, warum er diese Erkenntnisse den Primitivsten bringen wolle. Ein Zug von Hilflosigkeit flog über sein Gesicht, er rang um Worte. Aber plötzlich lächelte er:

»Zu erkennen, daß wir eine Erlösung brauchen, ist keine gedankliche Spekulation, sondern eine elementare Erfahrung.«

Er sah edel aus, durchdrungen von religiöser Leidenschaft. Sie mußte zugeben, er war nicht vergleichbar mit jenen, die Ruhm oder Karriere suchten.

Auch sie hungerte und dürstete nach Gerechtigkeit, Heinrich Hügels Los, ihres Bruders Herzensschicksal bewegten sie. –

In den Weihnachtstagen kam endlich Nachricht von Alexander. Der Vater brachte den Brief, las ihn vor:

 

»Ich blieb lange Zeit im Osten, unfähig zu jeder Leistung. Manchmal wurde ich von unserem Königspaar eingeladen. Ich danke es Friedrich Wilhelm und der Königin, wenn ich wieder zu meiner Pflicht gefunden habe. Um kurz zu sein, seit gestern bin ich Leutnant im Ersten Garderegiment in Potsdam, eingegliedert und eines Zieles bewußt.

Wie tausendmal meine Gedanken Euch suchten, müßt Ihr wissen. Wofür ich jetzt lebe, brauche ich nicht auszusprechen. Was wir Offiziere vorbereiten, ahnet Ihr –«

 

Vater Egloff weinte über diesen Brief. Unbeholfen sagte er, daß es um Potsdam Wälder und Seen, eine schöne Natur gäbe. Und die Natur enttäuscht nie ganz.

Auf das Wohl des preußischen Offiziers mußte alter Würzburger Wein aus dem Keller geholt werden. »Sei stolz, meine Tochter«, befahl er dann, als die Gläser klangen. Theodor von Lieven, der auch in dieser Stunde anwesend war, hob in weltmännischer Höflichkeit sein Glas und sprach den alten preußischen Ordensspruch: »Suum cuique« (»Jedem das Seine«). –

Als Lieven gegangen war, sagte der Ober Jägermeister vor sich hin: »Wartet dieser baltische Herr eigentlich noch auf sein heiratsfähiges Alter? Ist er denn noch nicht fünfundzwanzig? Da muß er doch seine Revenuen bekommen.«

Ulrike lächelte und bog allen weiteren Anspielungen aus mit der Bemerkung, Lieven habe im November den siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Es lebte sich nun leichter im Hause. Der Vater nahm auch wieder etwas Verkehr auf, den er in der ersten Zeit der französischen Besatzung vermieden hatte. Der einquartierte Offizier war abberufen worden, und so befand sich nichts Störendes mehr in der Wohnung.

Ulrike wartete auf weitere Nachrichten von Alexander. In Potsdam konnte er sich doch besser umhören, wo noch Gefangene von der Schlacht von Jena her sein sollten. Sie wußte von Bekannten, daß man in Preußen nichts unversucht ließ, sich diesen Festungsgefangenen zu nähern. Überall sollte es brave Leute geben, die sich mittels ihres Berufes, sei es als Ärzte, Prediger, Handwerker, bäuerliche Lieferanten Zutritt zu den von den Franzosen besetzten preußischen Waffenplätzen verschaffen konnten.

Der Hofgärtner, Heinrich Hügels Großvater, nahm es in Gelassenheit hin, daß sein Enkelsohn nicht schrieb. Der Dichter Jean Paul hatte dem Alten in einer, Ulrike aus dem Spiel lassenden Form erzählt, Heinrich Hügel sei verwundet in Gefangenschaft geraten. Da der Studiosus Heinrich Hügel die französische Sprache so perfekt verstünde, würde er sich ohne Zweifel eine leidliche Lage verschafft haben.

»Der Baron Alexander hat auch erst geschrieben, als es ihm gut ging. Das müßte kein junger Mann sein, der Klagebriefe nach Haus schickt«, meinte der Großvater.

Als die ersten Märztage Sonne und warmen Wind brachten, sah man den Alten schon frühmorgens bei seinen Gartenweibern und den jungen Lehrburschen. Die Komposthaufen, die Frühbeete wurden gerichtet, die Gebüsche ausgeholzt und von Laubresten befreit. Amseln rannten über die Rasenflächen, ihre aufrührerischen Rufe erfüllten Ulrikes Herz wieder mit Hoffnung, wenn sie die alten Parkwege entlangging in dieser blauen Zeit.

Eines Morgens vermißte sie den alten Gärtner, er fehlte auch am nächsten Tage, und als Ulrike wieder durch den Park lief, begegnete sie Jean Paul, der schon ein seltsames Frühlingsgewand angelegt hatte. Um den kragenlosen Hals war ein grünes Seidentuch geknüpft, und die Beinkleider zeigten ein farbenfrohes kariertes Muster.

»Es ist doch mein Geburtstagsmonat«, sagte er wie entschuldigend und pries laut, daß der Lenz nun in das Bayreuther Tal herabstiege. Sein von der Luft und eiligem Gehen stärker als sonst gerötetes Gesicht nahm in jähem Wechsel eine betrübte Miene an: »Der Frühling bringt nicht nur, er nimmt auch. Es wird so mancher morsche Baum zusammenstürzen, ehe er noch ein letztes Grünen hervorbringt. Ja, meine liebe Baronesse, unser alter Freund, der Hofgärtner, hat sich zu lange in der starken brausenden Luft bewegt. Nun sitzt er in seinem Ohrenstuhl, nicht eigentlich krank, nur müde. Allzu müde. Der große Himmelsgärtner wird ihn wohl heimholen.«

Sie erschrak und fragte, was sie tun könne, welche Stärkungsmittel erwünscht seien. Jean Paul wehrte ab. Baron Lieven habe schon alles mögliche gebracht und säße nun bei dem Alten. Doch wenn es erlaubt sei, würde er, Jean Paul, gerne ein wenig mit der bejahrten Köchin des Egloffschen Hauses sprechen.

Ulrike hatte völlige Freiheit, der Oberjägermeister war für ein paar Tage ins Fichtelgebirge gefahren. Als Jean Paul mit seinem Küchengespräch fertig war, erwartete ihn im Jagdzimmer ein Krug seines unentbehrlichen Bayreuther Bieres.

»Ich mußte Ihre Köchin so allerlei aus der Vergangenheit fragen, und sie hat mir auch bestens Bescheid gegeben. Unser guter Alter ist sechsundachtzig Jahre, die Markgräfin Wilhelmine bevorzugte ihn sehr und schenkte ihm zur Hochzeit eine Flöte und chinesisches Porzellan, welch letzteres für einen Gärtnerhaushalt sowohl sehr ehrenvoll als sonderbar war. Was aber den Markgrafen Alexander und seine Lady Craven betrifft, so haben sie unseren Freund nach Alexandersbad berufen, sowie später der Fürst Hardenberg ihn nach Ansbach befahl. Das sind so die äußeren Höhepunkte seines Lebens. Was der brave Mann gefühlt hat, als Sohn und Schwiegertochter an einem Tage miteinander von durchgehenden Pferden in den Hochwasser führenden Main geschleudert wurden und nur als Tote geborgen werden konnten, wollen wir nicht berühren.«

Ulrike wurde es unheimlich zumute. Sie fragte beklommen, ob der Herr Legationsrat denn dem alten Manne schon bei Lebzeiten einen Nachruf schreiben wolle.

»Oh nein«, lächelte Jean Paul. »Ich denke auch nicht weiter an die Todesfälle, sondern nur daran, daß dem Großvater nun der Enkel so ganz gehörte. Wissen Sie, meine liebe Baronesse, schon in der Jugend hatte ich den Gedanken, nichts wäre gütiger gegen einen Sterbenden, als ihm Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten zu geben. Nun weiß ich, dank Ihrer getreuen Köchin, Bescheid, und wir wollen heute gegen Abend unser Bestes tun, den alten Mann abzulenken.«

Es war Ulrike bang ums Gemüt, als sie sich am Spätnachmittag der Hofgärtnerwohnung näherte. Sie trug in einem Körbchen allerlei Leckerbissen und ein kühlendes Getränk und dachte, ob man wohl dem alten Manne die fromme Lüge sagen dürfe, sein Enkelsohn habe durch einen Soldaten Botschaft senden lassen. Aber nein, das ging nicht, sonst wollte der Großvater den Soldaten sprechen. Sie traf Jean Paul vor der Hofgärtnerei, wo er auf sie gewartet hatte und ihr noch Weisungen für ihren Krankenbesuch gab. Eines Sterbenden Augen, sagte er, können schon erloschen sein, doch die Ohren bleiben noch eine Weile lebendig. Man darf ihnen deshalb nicht die scharfen Mißtöne des Lebens nachschicken; das Leben soll nur wie ein Echo in immer weichere und tiefere Klänge verwehen. Der Mensch erinnert sich lieber der kleinsten Freude, die er einem Sterbenden mitgab, als vieler größeren, die er an Gesunde austeilte. Der Mensch sollte beherzigen, wie leicht jede Güte als eine letzte gegeben oder empfangen werde.

Eine schöne Klugheit des Herzens ging von den Worten des Dichters aus. Aber daß eine junge Dame leicht erregbare Nerven haben könne, schien er nicht zu wissen. Ulrike war bange vor den nächsten Stunden. Beim Anblick des alten Hofgärtners, der zusammengesunken in seinem Ohrenstuhl saß, konnte man kaum mehr erwarten, daß er sich wieder erhole. Der Alte hatte noch sein volles Haar, das wirkte fast wie ein Wunder. Doch die Augen schienen die Anwesenden nicht mehr zu erkennen. Er sagte nur ein allgemeines »ich dank gar schön«.

Theodor von Lieven sprang von seinem Fensterplatz auf. Er hielt eine Flöte in der Hand. »Ich habe schon ein paar Liedchen geblasen, das freute unseren guten Freund, denn sein Enkel hat auch Flöte gespielt. Ich bin also der Platzhalter.«

Das Wort erregte Ulrike. Sie vergaß für Augenblicke die Situation. Theodor nannte sich den Platzhalter von Heinrich? Wenn Heinrich dies wüßte! Warum ließ er sie ohne Nachricht? Er lebte doch, er mußte leben, sie bot ihr Herz auf, es zu glauben.

Sie nahm den zweiten Fensterplatz ein, hörte Theodor ganz leise weiche Klänge spielen. Es war keine Melodie, sondern eine Nachahmung von Vogelstimmen. Jean Paul saß dicht neben dem alten Mann, hielt seine Hand und sprach zu dem Flötenspiel leise Worte.

Er ließ die Ehrungen vorüberziehen, die der alte Mann erfahren hatte. Er baute die schönen Gärten auf, in denen jener sein Dasein verbracht hatte. Der Dichter ließ die Bäume reden, die Großvater Hügel gepflanzt hatte.

»Der Enkel, der Heinrich, ist herangewachsen wie ein gesunder Baum, hell und schlank gleich einer Birke. Der Enkel kommt wieder – ganz fern, ganz in der Weite hören wir den Klang seiner Schritte.«

Ulrike mühte sich, aufsteigende Tränen zu verbergen. Sie meinte, das alte Zimmer nicht mehr ertragen zu können. Alle Dinge, alles Gerät schienen zu fragen: wo ist Heinrich?

Sie wollte dem alten Mann gern auch ein Wort sagen, vertraute aber ihrer Stimme nicht. So führte sie ihm ein Glas mit Wein an den Mund.

»Gut, gut«, dankte der Greis.

Jean Paul sprach in seiner gewohnten, gehobenen Art weiter: »Hast du nicht das Wesen erkannt und gefühlt, dessen Unendlichkeit nicht nur in Macht und Wahrheit und Ewigkeit besteht, sondern auch in Liebe und Gerechtigkeit? Kannst du die Tage vergessen, wo sich der blaue Taghimmel und der blaue Nachthimmel dir als die blauen Augen auftaten, mit welchen der sanfte Gott dich erblickte? Hast du nicht die Liebe des Unendlichen empfunden, wenn sie sich in ihrem Widerschein verbarg, in liebenden Menschenherzen: wie die Sonne ihren hellen Tag nicht nur auf den nahen Mond für unsere Nächte wirft, sondern auch auf den Morgen- und Abendstern und auf die fernsten Wandergestirne?«

In das alte Zimmer schien jetzt die Abendsonne, erfüllte Möbel und Gerät wie mit neuem Leben. Da stand bei Heinrichs Büchern sein Flötenkasten, da hing seine Erlanger Studentenmütze, weiß und rot, in den fränkischen Farben. Ulrike sehnte sich, sie mitnehmen zu dürfen. Wie war er stolz darauf gewesen!

Immer noch hatte Jean Paul weiter gesprochen. Endlich lehnte er sich aufatmend zurück, denn der Greis schien eingeschlummert zu sein. Man hörte nur das Summen einer Winterfliege und die leisen Flötentöne. Dann trat Lieven heran. Warum störte er den Müden auf?

»Da ist eine junge Nachbarin aus Ihrem Hofgarten hereingekommen, Meister Hügel. Die liebe Baronesse Ulrike.«

Der Alte zwinkerte mit den Augen. »Danke schön, liebe Baronesse«, stammelte er. »Haben Sie den Heinrich gesehen?« Ein Lächeln flog über das alte Gesicht. »Der Bursch ist mir ein mutiger Gesell. Der führt Krieg. Wann kommt er denn heim? Sein General muß ihm doch Urlaub geben.«

Ulrike raffte sich zusammen: »Heinrich kommt bald«, brachte sie hervor, und ihre junge Stimme war klar und hell.

Jean Paul hielt noch immer die Hand des alten Mannes, dessen Züge jetzt jäh ganz verfallen waren. Theodor von Lieven nickte Ulrike zu und öffnete ihr leise die Türe.

Im Hausflur sagte er: »Nun begleite ich dich durch den Garten, Ulrike. Der Dichter dieses Landes wird dem Gärtner der alten Markgrafschaft noch das letzte Geleit geben in die große Stille.«

Sie gingen schweigend nebeneinander durch den Märzabend. Die Amseln sandten ihre aufrührerischen Rufe in die blaue Luft.

»Ich bin der Platzhalter –«. Lange, lange lief dies Wort Ulrike nach. Sie mußte noch daran denken, als der alte Gärtner längst unter der Erde schlief, die er so geliebt hatte …

*

Als die Baronesse von Egloff nun nicht mehr mit dem Großvater über Heinrich Hügel sprechen konnte, hielt es Jean Paul für seine Pflicht, sie öfters in sein Haus zu bitten. Daß dann stets wie zufällig auch der baltische Baron kam, mochte als freundliche Fügung gelten. Der Balte verreiste zuweilen, aber er schien sich immer noch nicht reif genug für seine Beglückungspläne zu fühlen. Seine Fahrten gingen öfters zu der Herzogin von Kurland nach Löbichau. Diese eigenartige Dame hatte auch schon Jean Paul ihre Teilnahme erwiesen, und es freute den Dichter, wieder von ihr zu hören.

Ulrike wurde eines Morgens von Jean Pauls Kindern in das kleine Gärtchen geführt, wo der Dichter in seiner Kornelkirschenlaube saß. Er entschuldigte sich, daß er noch in Morgentoilette sei, die leichte Gewandung wäre gut für einen Sommermorgen.

»Nehmen Sie nur unbefangen Platz, liebste Baronesse«, lächelte er und schob eine Menge gerollter Papiere von der Bank. »Hier sind keine Mücken zu fürchten. Noch niemals hat mich hier ein Insekt gestochen. Der Kornelkirschenbaum muß einen für unsere Sinne nicht wahrnehmbaren Aushauch haben, der die lästigen Mücken vertreibt.«

Jean Paul sprach weiter über die Gewohnheiten und Gebräuche der verschiedenen Insekten. Da kam das zweite Töchterchen gestürzt und hielt dem Vater eine Visitenkarte entgegen.

Er besah sich die Schrift, fragte ratlos: »Ist sie wirklich da?«

»Ja«, beteuerte das Kind, »die Magd hat sie auf das Sofa gesetzt, da wartet sie nun.«

»Geht zu der Dame, ihr drei. Seid recht artig. Ich komme bald.«

Die Kinder enteilten. Der Dichter seufzte: »Gerade heute muß meine gute Frau abwesend sein. Gott steh mir bei; nun sitzt eine schwedische Gräfin Munk auf unserem Kanapee und will mir Grüße von der Reiseschriftstellerin Friederike Brun bringen, die sie in Rom kennenlernte, wie auf der Karte vermerkt ist. Ich glaube, da muß ich mich in die Schlafkammer schleichen und einen Frack anziehen.«

»Ich glaube das auch«, lachte Theodor von Lieven, der inzwischen auch gekommen war.

Jean Paul tastete nach seinen Haaren, deren Wirrnis doch den gelichteten Scheitel nicht verbarg.

»Liebste Baronesse, lieber Baron, ist es sehr unbescheiden von mir, wenn ich Sie bitte hinaufzugehen und diese Gräfin zu unterhalten, bis ich etwas anders aussehe?«

Sie waren belustigt und leisteten gerne die kleine Hilfe. Die fremde Dame rief bei ihrem Eintritt zwanglos aus, sie habe sich den Dichter und seine Gattin nicht so jugendlich gedacht. Ulrike machte keinen Einwand zu Lievens Erklärung, daß sie seine Kusine sei. »Jean Paul kommt eben von der Gartenarbeit zurück, Frau Gräfin wollen ihn einige Minuten entschuldigen.«

Gräfin Munk war noch in den schönen Frauenjahren, blond, groß und heiteren Sinnes.

Als eine Reisende, sozusagen von Profession, machte sie gerne Bekanntschaften. Ihre blauen Augen lichterten zwischen Ulrike und Theodor von Lieven hin und her, während die beiden sich an ihrer Erscheinung erfreuten. Sie sahen die neuesten Moden: ein Florentiner Strohhut mit fremdartigen Blumen und köstlichen Bändern wiegte sich bei jeder Kopfbewegung, das hochgegürtete Seidenkleid zeigte apartes Blau, ein Umhang von elegantem Schnitt ließ den schönen Hals frei, um den eine Kette römischer Perlen lag.

Die schwedische Gräfin verfügte über eine große Beredsamkeit, sprach gut Deutsch, mischte französische Worte ein. Sie berichtete, daß sie mit Begeisterung Jean Pauls »Titan« gelesen hätte, diesen wunderbar romantischen Roman. Sie fühle die dringendste Lust, die deutschen Schauplätze der Dichtung aufzusuchen. Jedoch mit Isola Bella, da stimme es nicht so ganz. Die Gräfin war mit ihren Bekannten dort gewesen und hatte alles ziemlich anders gefunden, als Jean Pauls Held.

Theodor von Lieven antwortete gewandt: »Verehrteste Gräfin, es gibt wohl kein Ding an sich. Wie bei einem Porträt die Ähnlichkeit im Auge des Beschauers liegt, so wird der Eindruck einer Landschaft durch die Gemütslage, auch die männliche oder weibliche Einstellung des Wanderers bestimmt.«

Wie zartfühlend Theodor ist, dachte Ulrike. Er will verschleiern, daß Jean Paul nie in Italien war, nie große Reisen machen konnte, nie den Hauch der weiten Fremde gespürt hat.

»Sie sind ein Philosoph, Baron Lieven«, antwortete Gräfin Munk, »aber gottlob nicht so unverständlich wie Herr Immanuel Kant in Königsberg.«

Lieven plauderte weiter, und auch Ulrike war angeregt. Man sah so selten eine fremde Weltdame in Bayreuth. Die fremde Dame ihrerseits hatte die Neugier aller lebensinteressierten Frauen. Ein noch nicht offizielles Paar, dachte sie von Ulrike und Lieven. Die deutschen Jungfrauen sollen so spröde sein, ja oft wahre Festungen, die lange dem Ansturm widerstehen. Nur bei Herrn von Goethe sehen sie sich meist nicht recht vor, und rennen in ihr Unglück.

Jean Paul ließ sehr lange auf sich warten. Der gute Mann hat keinen Kammerdiener und heute keine Frau – weiß der Himmel, er muß das Hemd wechseln, bedachte Lieven, und er stand auf. »Herr Legationsrat Richter soll vielleicht irgendwelche Deputation abfertigen, da werde ich einspringen«, entschuldigte Lieven sein Gehen.

Gräfin Munk ließ ihren Fächer spielen, wandte sich in neuer Frische an Ulrike und nannte den Gasthof, in dem sie abgestiegen war. »Ist dies ein gutes Haus? Oder raten Sie mir ein anderes? Ich werde mir vielleicht Zeit lassen, hier auch alle Erinnerungen an die Markgräfin Wilhelmine, die Schwester unserer in meiner Kindheit verewigten Königin Ulrike, aufzusuchen.« Die Gräfin lächelte: »Ich hörte Sie von Ihrem Vetter Ulrike genannt, nun, das ist uns Schweden ein vertrauter Name. Eh bien, ich werde Sie besuchen, Baronesse. Sie leben bei Ihren Eltern?«

Man hörte jetzt Schritte im Nebenzimmer. »Nun erscheint endlich der Dichter«, rief Gräfin Munk. »Schön, liebe Baronesse, ich komme am Nachmittag, wenn es paßt. Laden Sie doch bitte Ihren Vetter Lieven dazu ein, ich habe Bekannte in Kurland, nach denen ich fragen möchte.«

Jean Paul trat ein. Er sah geradezu ordentlich aus.

»Du bist sein Kammerdiener gewesen, Theodor?« lachte Ulrike auf dem Heimweg. »Und die Reisegräfin wird jetzt deine Dienste heischen, sie läßt dich zu uns einladen.«

»Dann hat sie auch ihr Gutes«, fand der Balte.


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