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Am andern Morgen ließ Baron Egloff sehr früh seine Tochter zu sich bitten. Er wirkte wohl und stattlich trotz einer Nacht, die voll vom Seufzen der Bäume unter der Gewalt des Tauwindes gewesen war und die Menschen zu keinem Schlaf hatte kommen lassen. Die Festigkeit eines Entschlusses lag über den Zügen des Oberjägermeisters.
»Du hast recht mit deinem Plan, Ulrike. Wir fahren nach Berlin. Laß also packen. Ich habe schon mit Alexander gesprochen, er wird diesen Vormittag auf der Regierung Urlaub erbitten, dortselbst und beim Bürgermeister Gesuche an den König erwirken und uns dann nachreiten.«
Um Ulrikes zarten Mund flog ein Beben. Ja, Alexander mußte fort, gerade jetzt, da Marya, die Leichtbewegliche, in Gesellschaft ihres polnischen Vetters war, der vielleicht nur einzig und allein wegen seiner schönen Verwandten den Reiseweg über Bayreuth genommen hatte. Alexanders kluges Gesicht zeigte die Spuren ernster geistiger Arbeit; der Pole aber hatte das Lächeln des Weltmannes und war eine glänzende Erscheinung, mit der es hier keinen Vergleich gab.
Würde Marya in diesen kurzen Tagen der Gegenwart des Vetters nicht eine Machtprobe reizen? Ach, sie war ja oft sehr herzlich zu Alexander, sie zeichnete ihn vor allen anderen aus; es war kein Ball in diesem Winter gewesen, den er nicht mit ihr eröffnen durfte, bei jeder Schlittenfahrt überließ sie sich seiner Führung. Und doch, sie nahm ihn so hin, als sei er ein junger Student, den die gereiftere Frau in die Welt einführt, und dessen Huldigungen sie gnädig zuläßt. Dabei zählte Alexander von Egloff sechsundzwanzig Jahre und die Polin kaum zwanzig. Ehe sie nach Bayreuth kam, war sie mit ihrem Vater in Rom, Paris, Kopenhagen und im Baltikum gewesen. Ulrike kam sich neben ihr oft vor wie ein Kind vom Lande. Das schmerzte sie nicht, denn sie war des Glaubens, daß der Mensch zu der Erde gehört, die ihn geboren hat und ihm die Lebensaufgaben stellt.
Ulrike beredete mit dem Vater, was alles in die Seehundfellkoffer kommen solle. Gut, man reiste noch heute ab? Ulrike hörte, in zwei Stunden müsse das Gepäck fertig sein. Kleinigkeiten, die in der Eile des Aufbruchs vergessen würden, könnte man unterwegs kaufen.
Als Ulrike über einen der Korridore ging, sah sie draußen vor einem Fenster Heinrich Hügel vorübergehn. Ihre Hände zitterten, doch in ihren Augen leuchtete Freude auf. Er war schon da? Jetzt, zu Februarende gab die Universität Erlangen Ferien?
Der Vater durfte Heinrich Hügel nicht abweisen, der sicher nicht zu früher Morgenstunde kam, wenn er nicht etwas Wichtiges zu sagen hatte. Ulrike eilte über den Korridor nach dem Jagdzimmer des Vaters zurück, hörte die frische Stimme des Studenten mit dem Diener verhandeln und war zur Stelle, als Heinrich Hügel gemeldet wurde.
»Keine Zeit, keine Zeit«, rief der Baron. Doch Ulrike lächelte dem Vater zu: »Er wird etwas Neues wissen, höre ihn doch an.«
Sie blieb neben dem Vater stehen, und Heinrich Hügel, Studiosus der Philosophie und der Naturwissenschaften, überschritt die Schwelle. Er verbeugte sich, stand schlank und groß da, aus seinen blauen Augen traf Ulrike ein warmer Blick.
»Was gibt es, Herr Studiosus? Wir haben nämlich Eile – allergrößte Eile –«
Heinrich Hügel trat näher. Er sah mager und übermüdet aus.
»Sie wollen aus der Stadt kommen? Am besten fahren Sie auf Ihr Landgut, Herr Baron.«
Baron Egloff lachte: »Nein, lieber Hügel, wir reisen nach Berlin.«
Der Gast warf erneut einen raschen Blick auf Ulrike.
»Das Landgut böte Sicherheit, Herr Baron. Ich – ich bringe leider böse Nachricht – der Marschall Bernadotte ist vor vier Tagen in Ansbach eingezogen.«
»Bernadotte in Ansbach? Das kann nicht wahr sein –«
»Doch, es ist wahr. Ich habe es selbst gesehen. Die Frau Prinzessin Solms, Schwester der Königin Luise, hat mich doch jede Woche einmal zum Flötenspiel bei ihrem Hofkonzert befohlen. Als ich das letztemal hinkam, ist das prinzliche Paar in einer Hast, die der Flucht glich, nach Berlin gereist. Ich blieb noch etwas in Ansbach und habe gesehen, wie der Marschall Bernadotte einzog –«
Der Baron bemeisterte kaum seine Erregung.
»Sie haben es gesehen, und womit konnte dieser Einzug gerechtfertigt werden?«
Der junge Mann senkte die Stimme: »Am 15. Februar wurde zwischen General Duroc und Graf Haugwitz ein Vertrag abgeschlossen, wonach Preußen an Napoleon das seit 1331, also 475 Jahre im Besitz der Hohenzollern gewesene Fürstentum Ansbach abtrat. Ansbach, Herr Baron, das heißt ja Ansbach-Bayreuth. Ich ahne nicht, wie rasch die französischen Truppen hierherkommen, darum bin ich Tag und Nacht unterwegs gewesen, um zu warnen.«
Er wandte sich mit einer flehenden Gebärde zu Ulrike, besaß aber doch so viel Fassung, vor ihrem Vater die förmliche Anrede zu gebrauchen: »Sie müssen fort, gnädige Baronesse, entweder nach Schloß Giech oder nach Egloffstein. In die Wälder kommen die fremden Truppen zunächst doch nicht. Aber für Bayreuth kann eine Plünderung bevorstehen –«
Ulrikes schmale Hände formten eine Gebärde: »Sollen wir nicht alle in solcher Zeit an unserem Platze sein?«
»Es gibt auch in der Einöde Pflichten«, antwortete der junge Mann. »Der König ruft uns nicht zu den Waffen. Wir sind gezwungen, zu warten, bis unsere Stunde kommt. Aber sie wird kommen, das weiß ich gewiß.«
Er hob die Hand, als sollten seine Worte ein Schwur sein.
»Und was tun Sie jetzt?« fragte der Oberjägermeister.
»Leider nicht viel, Herr Baron. Sofort werde ich Schulkameraden aufsuchen, in jedes Haus muß Warnung kommen. Selbst die ärmsten Leute besitzen noch ein wenig Zinn, Kupfer oder einen Silbertaler mit dem Bild von Fridericus Rex.«
Baron Egloff war erschüttert. Seine Augen bekamen einen Blick ins Leere, und über sein volles Gesicht flog ein Zug von Gram.
»Hätte Gott doch dem großen König hundert Jahre geschenkt«, klagte er.
»Sage lieber, wie gut es ist, daß er diese jetzige Wirrnis in Europa nicht sieht«, rief Ulrike. »Nun müssen alle Bayreuther zusammenhalten. Sie bleiben doch hier?« fragte sie den Gast. Sie errötete unter seinem Blick.
»Ich könnte vielleicht die Vertretung meines Großvaters übernehmen, der Winter hat ihm bös zugesetzt. Aber ich weiß noch nicht, was ich tun werde.«
Er bat Ulrike, sie möge Schmuck und Silber packen lassen, in einigen Stunden hoffe er, wieder vorsprechen zu dürfen. Er wisse ein für jedermann unauffindbares Gewölbe unter der Hofgärtnerei.
Ulrike von Egloff sah ihrem Jugendgefährten nach, als er sich mit seinen weitausgreifenden Schritten der Stadt zuwandte.
*
Unterdessen ritt Alexander von Egloff schon seit zwei Stunden auf den Wegen um Philippsruh auf und ab. Die Sonne stand am Himmel, in die Straßengräben rann raschen Laufs das Wasser der Schneeschmelze. Er wartete voll Pein, er hatte in Philippsruh nur Dienerschaft getroffen, Lagienskis waren mit Graf Smirnow ausgeritten, ohne Anordnungen für eine Mahlzeit zu hinterlassen. Die Leute sagten, die Herrschaften hätten den Weg gegen Berneck eingeschlagen. Welch ein Unsinn, in diesem Tauwetter über Gebirgswege zu reiten! Sicherlich mußten sie umkehren. Er wurde immer ungeduldiger, sah in immer kürzeren Pausen auf seine Uhr. Endlich ritt er nochmals an Philippsruh vorüber, gab dort seine Karten ab und galoppierte dann auf dem Königsweg zurück. Die zur Abfahrt nach Berlin bestimmte Zeit war schon überschritten, der Vater mochte in schlimmer Laune sein.
Alexander fand den Vater an seinem Schreibtisch von Tabakswolken umgeben. »Wir fahren nicht, Alexander. Bernadotte hat Ansbach besetzt. Es ist alles aus.«
Der Sohn trat einen Schritt zurück und stammelte: »Unmöglich.« Dann hörte er beklommen die Wiederholung der schrecklichen Nachricht und die Bitte:
»Geh doch in die Hofgärtnerei. Hol mir den Heinrich Hügel. Bringe ihn mit zu Tisch.«
Alexander von Egloff schritt die Gartenfront des markgräflichen Schlosses ab, sah einzelne harmlose Spaziergänger in den Alleen. Man wußte also die böse Nachricht noch nicht. Heinrich Hügel war rascher gewesen als ein Kurier.
Ansbach-Bayreuth französische Provinz? Ein Waffenplatz für französische Truppen, um von da aus Sachsen und Thüringen und dann Preußen zu nehmen? Entsetzlicher Gedanke.
Alexanders mageres Gesicht, das ein wenig an holländische Vorfahren erinnerte, verzog sich in Bitternis. Er dachte an einen alten Astrologen, der ihm einmal gesagt hatte, seine Gestirne wiesen auf eine unruhvolle Zeit, böse bestrahlt vom Mars. Damals hatte der preußische Referendar gelacht. Er wollte dem Staate als Beamter in der Verwaltung seines Heimatlandes dienen.
Sein Herz schlug heftiger. Wo war Marya? Vielleicht machte sie nur aus Laune einen ihrer tollkühnen Ritte und benutzte den Verwandten aus Polen als Partner? Vielleicht bekam Alexander noch zum Abend eine Einladung von ihr? …
Aus der Türe der Hofgärtnerei trat ein Trupp Bayreuther Männer. Sie hatten sich rasch bei dem Studenten Heinrich Hügel versammelt und seine Anweisungen gehört. Man konnte einige Stellen des kleinen Mainflusses abdämmen und dort Kisten mit Wertsachen versenken. Es gab auch höhlenartige Plätze im Walde um die Bürgerreuth. Eile war geboten; niemand erwartete Schonung von den Franzosen.
Alexander traf Heinrich Hügel allein im Hause:
»Mein Vater läßt Sie zu Tisch bitten, unser Oberjäger holt einige Herren dazu, die gestern abend die Lage beraten haben. Ist denn Bernadottes Einzug in Ansbach mehr als ein Durchmarsch?«
Der junge Hügel nickte und bat, sich etwas zurechtmachen zu dürfen. Er war tagelang nicht aus den Kleidern gekommen.
Beim Vater Egloff warteten bereits Jean Paul, sowie der Professor und der Stadtpfarrer, die gestern den Brief an den König unterschrieben hatten. Als Heinrich Hügel eintrat, dachte Ulrike, wie hochgewachsen ist er doch selbst neben meinem Vater und meinem Bruder.
Die Herren begrüßten ihn nicht ohne eine Spur von Herablassung, die unbewußt seiner einfachen Herkunft galt. Doch Jean Paul hatte bewundernde Blicke für den so frei und kraftvoll wirkenden Jüngling. So sehr der Dichter ein Anwalt der Abseitigen und Seltsamen war, solche junge Männlichkeit begeisterte ihn.
Noch vor Tisch sollte der Student erzählen. Ja, er hatte es mit angesehen, als Bernadotte vor dem Schlosse zu Ansbach hielt. In goldüberladener Uniform, von hoher Gestalt, mit gebräuntem Gesicht und blitzenden Augen, wirkte er so recht wie ein Sieggewohnter.
»Und die Bevölkerung?« fragte Jean Paul.
Heinrich Hügel verzog den Mund. »Die Bevölkerung wurde mutig durch Neugier. Sie sah sich das Schauspiel an. Nach drei Tagen – denn so lange wartete ich, weil Gerüchte gingen, es handele sich nur um kurze Rast des Marschalls – liefen beim Magistrat schon unzählige Hilferufe der Bevölkerung ein. Die vordringlichsten Klagen gingen dahin, daß das französische Militär die kostbarsten Speisen und Weine fordere. Weigerung, oder Unmöglichkeit der Beschaffung, führte zu Gewalttätigkeiten und Mißhandlungen.
Auf die Vorstellungen des Bürgermeisters erließ Bernadotte sofort durch seinen Generalstabschef einen Tagesbefehl.«
Heinrich Hügel griff in seine Tasche, zog ein zerknittertes Blatt Papier hervor.
»Ich habe mir eine Abschrift verschafft, um meine Aussagen gewissermaßen legitimieren zu können.«
Er las den Text vor:
»Große Armee. I. Korps. Französisches Kaisertum. Generalstab. Im Hauptquartier zu Ansbach, 26. Februar 1806.
Der Herr Marschall, der erfahren hat, daß Soldaten, welche bei den Einwohnern einquartiert sind, zu ihrem Unterhalt weit mehr fordern, als ihnen nach dem Reglement zukommt, der diese Mißbräuche aber abgeschafft und die Hilfsquellen des Landes geschont haben will, befiehlt, daß der Soldat täglich nur zu fordern hat: eineinhalb Pfund gutes Brot, ein halbes Pfund Fleisch und Zugemüse und eine Flasche Bier oder halbe Flasche Wein.«
»Das ist Schonung«, rief Alexander von Egloff bestürzt, »und Schonung bedeutet Besitzergreifung.«
Hügel fuhr fort: »Bekanntlich schrieb Napoleon einmal an seinen Bruder Joseph: ›Die Generale müssen im Überfluß leben.‹ Ich erfuhr noch von einem jungen Magistratsschreiber, der mir eine Fahrgelegenheit bis über Nürnberg verschaffte, daß der neue Stadtkommandant General Pakthod außer Bedarf für seine Wohnung an Silber, Möbeln und Wäsche, täglich verlange: dreißig Pfund Rind-, zwanzig Pfund Kalb-, zwanzig Pfund Hammel- und Schweinefleisch, dazu Geflügel, zwei Pfund Kaffee, sechs Pfund Zucker und so weiter. Wein gegen vierzig Flaschen, darunter Champagner. Woher das nehmen, wo die kolossalen Summen auftreiben, dies alles in dem reichen Nürnberg zu kaufen?«
Jean Paul dachte an seine armselige Jugend in der Stadt Hof und hörte nicht auf die erregten Gespräche der anderen. Sein altes Bayreuther Land sollte eine französische Provinz werden? Er sah mit seinen grauen verschleierten Augen über die kleine Runde hin, sah Aufruhr in allen Gesichtern und Gebärden.
»Haugwitz hat den König verraten. Der König müßte Truppen in unser Land schicken. Wir wollen niemals Franzosen werden. Nein, Pastor, stecken Sie Ihren Bibelspruch ein, daß jedermann der Obrigkeit gehorsam sein soll, die Gewalt über ihn hat, weil jede Obrigkeit von Gott eingesetzt sei. Bonaparte ist das Böse schlechthin.« – –
Heinrich Hügel war es gelungen, mit Ulrike an das Tafelklavier zu treten, wo sie ihm einige neue Noten zeigte. Er beugte sich über die Blätter und flüsterte:
»Sie dürfen nicht in der Stadt bleiben, Ulrike, wenn die französische Invasion kommt. Das Schloß wird sicherlich von vielen Offizieren besetzt werden und die Gesinderäume von Mannschaft.«
Sie antwortete leise: »Ich habe doch Vater und Bruder als Schutz, und es ist nicht meine Art, mich zu fürchten.«
Er berührte leise ihre Hand. »Ich gehe jetzt nicht nach Erlangen zurück. Ich kann hier den einfachen Leuten gewiß manches raten, das ihre Unbeholfenheit sonst nicht fände. Die Stadt muß auch eine Einrichtung treffen, daß ganz armen und alten Leuten täglich Essen angewiesen oder zugetragen wird. Wir müssen vor allem das Volk ruhig zu erhalten suchen. Der Besitzende muß Geldopfer bringen –«
Er brach ab, griff leise ein paar Akkorde auf dem Tafelklavier und flüsterte dabei: »Ist es Ihnen recht, Ulrike – ich will, wenn ich hier meine Pflicht getan habe, und vor allem, wenn ich Sie in sicherer Hut weiß, zum preußischen Jägerregiment in Naumburg gehen. Bis der unvermeidliche Krieg zwischen unserem König und Bonaparte kommt, will ich eine Ausbildung haben, die mich zum Offizier berechtigt.« Er lachte kurz auf: »Bei den Kriegen, die Preußen bevorstehen, wird man nicht fragen, ob die Vorfahren eines gesunden Mannes die Kreuzzüge mitmachten. Der bürgerliche Offizier wird auf den Kampfplatz treten.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. Er las darin den Widerschein alter Zeiten, wo sie zusammen im Hofgarten gespielt hatten –
Jean Pauls Gattin trat jetzt an das Klavier heran und kam auf das vorige Gespräch zurück. Es wäre eine vortreffliche Idee, die Stadt zu einer weitgreifenden Armen- und Siechenpflege zu veranlassen. Gelänge es, daß hierfür sofort beträchtliche Gelder gegeben würden, so entgingen diese Summen dem französischen Marschall.
Jean Paul selbst aber wußte auf unauffällige Weise das Paar zu trennen. Er bat den Studenten Hügel um einen Gang durch die Stadt. Er war voll Sorge: eine Baronesse aus altem, reichsfreiherrlichem Geschlecht und der Enkel eines Gärtners – welche See von Plagen mußte sie umbranden, wenn sie ihre Neigung zu einem leidenschaftlichen Gefühl anwachsen ließen! Baron Egloff würde keine einfache, seinem Stand ungemäße Heirat für die Tochter wollen. Und wenn der junge Hügel gar unter die Soldaten ging, was bei seinem kraftvollen Wesen und der Lockung, die der Offiziersberuf hatte, nahe lag: ein Mann, der sich dem Kriegsglück anvertraut, würde wohl noch manches andere Weiberauge auf sich gerichtet sehen.
*
Während Alexander von Egloff einen zweiten Ritt nach Philippsruh machte, um dort wieder eine rätselhaft verschlossene Tür zu finden, saß Marya Lagienska mit Ladislaus Smirnow allein in einem kleinen Salon neben dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Der polnische Herr weihte die schöne Kusine in seine Pläne ein: im Morgengrauen des nächsten Tages wollte er nach Paris aufbrechen. Die Kaiserin Josephine wäre ihm sehr gnädig gesinnt, sie wüßte sicher, daß Warschau nicht mehr lange preußisch bleiben würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach kehrte auch der Kaiser bald nach Paris zurück.
»Ehe er in Warschau einzieht, muß er sich meinen Namen gemerkt haben. Verstehst du, Maruschka?«
Sie lächelte, von ihm das alte Maruschka zu hören, das ihre russische Mutter gebraucht hatte.
Marya verstand vollkommen. Wenn das alte Königsschloß in Warschau ein französisches Statthalterpalais war, so mußte ein junger Herr aus altem Polengeschlecht der Statthalter sein. Ein Statthalter hat die Macht in der Hand. In dem Augenblick, da Bonapartes Stern sank, konnte ein mutiger Pole aufrufen zur Befreiung.
»Antoine Radziwill?« fragte Marya, ohne dem vornehmsten polnischen Namen ein weiteres Wort beizufügen.
»Wir wollen ihn Klavier spielen und komponieren lassen. Er denkt an Konzerte. Er hat feingliederige Musikerhände.«
Graf Smirnow umfaßte Marya, ließ sie sekundenlang seine Kraft fühlen.
»Die Krone von Polen ist schwer, Maruschka. Wer sie sich aufs Haupt setzt, braucht eine starke Hand.«
Sie lächelte damenhaft gnädig, als habe sie Geduld der phantastischen Ruhmsucht eines Knaben gegenüber. Dies Lächeln erregte den Polen. Er sprach lauter, leidenschaftlicher von seinen Plänen in Paris. Dann wieder beugte er sich zu ihr hinab und flüsterte:
»Vielleicht reist ihr mir bald nach. Ich weiß, daß dein Vater persönlich dem König von Preußen ergeben ist und ihm nie sein Wort brechen würde. Aber dieser Friedrich Wilhelm wird wohl bald in der bitteren Lage sein, polnische Edelleute, die ihm den Treueid leisteten, von ihren Verpflichtungen zu entbinden. Und dann – dann –« Graf Smirnow ließ Blicke und zärtliche Gebärden sprechen. Er liebte die schöne Marya, aber er wollte nicht am Hof der Kaiserin Josephine als ein Mann erscheinen, der sein Herz schon vergeben hat.
Marya war bezaubert von seinen glänzenden Reden. Das Wort »Krone von Polen« ließ sie erschauern. Sie dachte zurück an weite Fahrten durch endlose polnische Wälder, sie dachte an Herbsttage mit blaßblauem Himmel und gilbendem Gras, an Ritte mit jungen Freunden zur Jagd. Sie dachte aber auch ein paar Augenblicke an Alexander von Egloff, an sein vergeistigtes Gesicht, sein scheues Werben. Wenn er in ein Zimmer kam, war es, als müsse man vor ihm allzu laute oder heftige Worte unterdrücken. Betrat Ladislaus Smirnow einen Raum, so erfüllte er ihn mit seiner Atmosphäre: man spürte den Reiter, den Krieger, den leidenschaftlichen Mann, den Herrn schlechthin.
Wohin ging ihr Wille? Den einen behalten, den anderen nicht verlieren? Ihre Jugend und, wie sie wohl fühlte, die gegenwärtige Stunde, forderte noch keine Entscheidung von ihr.
»Über diese alte Stadt wird bald die Unruhe kommen, französische Offiziere bringen Leben und Bewegung mit sich«, sprach Smirnow. Wieder beugte er sein Gesicht zu Marya herab und flüsterte: »Vergiß die Krone von Polen nicht! Wenn ich dich morgen verlassen muß, so ist es nur um unserer Heimat willen, die wieder frei werden muß für uns freie Menschen.«
Er hielt sie mit seinen Armen umschlungen, preßte seinen Mund auf den ihren. Sie dachte im Aufruhr ihrer Sinne: ist dies ein Abschied, ist es eine Verheißung?