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Dritter Teil


XVI.
Abendmusik im Palais Radziwill

Im Januar 1810 erhielt Alexander von Egloff eine Einladung zu musikalischer Abendunterhaltung im Palais Radziwill zu Berlin. Der Empfänger verstand nicht, wie er zu der Ehre käme, bis ihm sein Freund Bülow erklärte, er habe die Prinzessin Luise Radziwill, die Schwester von Prinz Louis Ferdinand, in Kenntnis gesetzt, wie sehr Alexander den Prinzen, der bei Saalfeld den Heldentod erlitten, betrauere und bewundere. Prinz Anton Radziwill würde durch seine kleine Hauskapelle Kammermusik Louis Ferdinands zur Aufführung bringen lassen und wohl auch selbst den Vortrag einiger Klavierstücke übernehmen.

»Vielleicht haben wir das Glück, die Königin zu sehen«, hoffte Bülow; denn im vorigen Herbst war die königliche Familie nach Berlin zurückgekehrt.

Bülow besorgte die Schlitten zu der Fahrt für sich, Egloff und noch ein halbes Dutzend Potsdamer Offiziere.

Der Ausflug machte Alexander Freude. Es ging über Wannsee, dann auf dem Kronprinzenweg durch tiefverschneiten Wald. Es war schön, einmal wieder ein Fest mitzumachen. Alexander hatte viele Wochen nur dem Dienst gelebt. Für die Parade, die der König nach alter Gewohnheit sehr früh im Jahre zu Potsdam abnehmen würde, gab es dringlichste Vorarbeiten. Die Potsdamer Offiziere wollten alles aufbieten, ihrem obersten Kriegsherrn eine verheißungsvolle Truppenschau zu zeigen. »Wir werden unter der Pracht der Wintersterne zurückfahren«, lachte Bülow, »und in der Paradeuniform unsere Wachtstuben alarmieren.«

Im Vestibül und auf den Treppen des Palais Radziwill drängten sich die Gäste. Die Damen waren noch fast unkenntlich in ihren Pelzvermummungen. Es gab ein ziemlich langes Warten für die Offiziere, bis Prinz Anton Radziwill, zierlich, elegant, sehr liebenswürdigen Wesens, in den Musiksaal bat.

»Sie haben die Ehre, Ihrer Majestät vorgestellt zu werden.«

Alexanders Augen leuchteten auf. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, die Königin Luise wiederzusehen. Es gingen allerlei Gerüchte, die Flucht nach der Schlacht von Jena und Auerstädt, der grausame Weg in Winterkälte über die Kurische Nehrung, die trostlosen Winter in Königsberg und Memel hätten ihre Gesundheit tief erschüttert.

Nun sah er sie, die er im Glanze ihrer Jugend im Fichtelgebirge erblickt, und die in jener verwirrten ostpreußischen Zeit mehrmals sehr freundlich zu ihm gewesen, wieder ganz nahe. Ein Lächeln lag über den Zügen, die der Gram gezeichnet hatte. Ein paar allgemein gehaltene Worte fielen. Die dunkle Stimme der Königin klang mühsam. Ihr Anblick war erschütternd. Als die Versammlung sich gruppiert hatte und die Musiker ihre Instrumente stimmten, standen die Potsdamer Offiziere an den Seitenwänden des Raumes, wie Schutz, wie Verheißung.

Alexander hatte die Augen auf die Königin geheftet. Sie saß zwischen Radziwills, der König war nicht gekommen.

Es wirkte so rührend, wie Luise immer wieder nach rechts und links den Nacken beugte; sie überragte auch im Sitzen die anderen Gestalten. Die Blicke unverwandt auf die Königin gerichtet, dachte Alexander: sie hat für ihr Volk und für den Staat in Tilsit den entsetzlichen Bittgang zu Napoleon gemacht. Was der König, was die Armee weder konnte noch durfte, hat sie ihrem Stolz abgerungen im Glauben, daß es die Menschlichkeit gibt. Nun ist sie wieder in Berlin. Sie hört – die Geigen klangen auf – die Musik des Preußenprinzen, der für Preußens Ehre fiel. Ruht die Hoffnung auf eine Befreiung der Nation hinter ihrer reinen Stirn? Lebt der Glaube an Deutschlands Einigung in ihrem Herzen?

Die Musik, von Louis Ferdinand in frohen Stunden ersonnen, hatte kein kriegerisches Gepräge. Es schwang noch etwas darin von Sanssouci, von frederizianischer Anmut. Vielleicht war es gerade dieses Heitere, Lichte, das in seinem Kontrast zum Jetzt manche der Damen weinen ließ. Einige Spitzentüchlein setzten sich in Bewegung. Jemand räusperte sich hörbar. Ohne es zu wollen, wandte Alexander den Blick nach der Richtung, glaubte eine Sekunde lang, er täusche sich, und wußte zugleich, es war kein Irrtum: jener Herr, der seinen ordenübersäten Nachbarn eine kleine goldene Dose mit Bonbons reichte, war Graf Lagienski.

Alexander erschrak bis ins innerste Herz. Wo der Graf war, würden auch Smirnows sein. Alexander senkte die Augen, um sie, wie gezwungen, wieder zu erheben und über die festliche Versammlung schweifen zu lassen. Er wußte nicht, daß seine Hände zitterten, er wußte nicht, daß er wie unter einem tödlichen Schreck erbleichte. Freund Bülow ergriff mit starkem Druck seinen Unterarm. »Ich sehe die Polin schon lange, contenance«, flüsterte er.

Das Konzert dauerte, wohl in Rücksicht auf die Angegriffenheit der Königin, nur eine Stunde. Sie wurde mit ihrem Gefolge von Radziwills bis zum Wagen begleitet. Sie neigte vor der Versammlung zum Abschied den schönen Nacken.

»Ich muß hier weg«, flüsterte Alexander seinem Freunde zu. Doch Bülow schob seine imposante Gestalt vor. »Wir alle haben Tischdamen zum Souper. Fortgehen ist ganz unmöglich.«

Wachskerzen ließen die Prismen der Kronleuchter erstrahlen. Der schimmernde Damast einer hufeisenförmigen Tafel war mit Silber und Kristall übersät. Aus diesen silbernen Tellern wird man Geld für die Kriegskassen prägen, dachte Alexander, sich gewaltsam ablenkend.

»Ein alter Bekannter, so sagt mir Graf Lagienski«, sprach Anton Radziwill ihn an, als er ihn zur Gräfin Marya Smirnow herangewinkt hatte, damit er sie zu Tisch führe.

Alexander hatte sich kalt und knapp verbeugt, als er unter dem Zwang des Gastgebers Marya den Arm bot. Er sah, sie fiel auf durch ihre Eleganz, durch ihre Schönheit. Bewundernde Blicke folgten ihr. Und nun saß er mit der so sehr Geliebten der Jugend am Tisch eines Polen, am Tisch einer geborenen Prinzessin von Preußen.

Was wollen diese Polen hier? dachte Alexander finsteren Gesichts. Graf Lagienski war preußischer Bevollmächtigter in Bayreuth gewesen, er trat vermutlich nach dem Tilsiter Frieden in den Aufstand der Polen über – und nun ist er in Berlin wieder zur Stelle? Er wird empfangen? Steht es mit Preußen so, daß es Tagesfreundschaften annehmen muß?

Hundertmal hatte Alexander von Egloff bedacht, wie er sich verhalten würde, wenn er Marya noch einmal begegnete. Ja, er hatte diesen Augenblick herbeigesehnt, um der Treulosen seine Nichtachtung zeigen zu können, oder sie mit bösen Worten zu verwunden.

Alexander wußte, daß er sich unmöglich dieser fürstlichen Tafel entziehen, daß er ebenso unmöglich wie ein steinerner Gast hier sitzen konnte. Tischnachbarn warfen die Frage auf, wie lange man im Schlitten nach Potsdam brauche? Andere redeten vom neuesten Stück im Schauspielhause und erzählten, daß der König gerne Lustspiele sähe. Denn, so betonte eine Stimme: jeder Mensch braucht, um sein seelisches Gleichgewicht halten zu können, den Kontrast. Nur ein unpsychologisch Denkender kann es als Oberflächlichkeit nehmen, wenn Männer, die vor größten Entscheidungen stehen, sich an heitere Dinge erinnern lassen.

Alexander von Egloff dachte: Maryas Aufenthalt in Berlin zeigt mir so recht deutlich, was gespielt wird. Der Kaiser der Franzosen ist wohl seiner Sache nicht ganz sicher, wenn er polnische Edelleute wieder nach Berlin dirigiert. Wer weiß, welche Mission diese vornehm-elegante und sehr schöne Frau hat, die neben mir sitzt, und die mir einst ihre Neigung versicherte. Er fand die Sprache wieder:

»Gefallen Sie sich in Berlin, Gräfin Smirnow?« fragte er in spöttischer Höflichkeit.

»Berlin ist die Stadt ungeheurer Möglichkeiten geworden, Baron Egloff – ich sage ›Baron‹, denn mir scheint, Sie lieben die Titel!« fügte sie lächelnd hinzu. –

Prinz Anton Radziwill hielt die Tischrede. Er sprach von der bewegten Zeit, von der Unruhe über Europa, er pries sich und seine Gäste glücklich, daß es noch die Musik als tröstende und erhebende Kraft gäbe, und er schloß mit einem Hoch auf die hohe Frau, deren ganze Erscheinung, deren Seele Musik sei: die Königin Luise.

Die Gläser klangen, die Unterhaltung wurde lebhafter, Maryas Kelch berührte den Alexanders. Sie flüsterte: »Sie sehen, Alexander, es ist nicht der Wille des Schicksals, daß unsere Vergangenheit in einer Dissonanz begraben bleibt.«

Ihre dunklen Augen mit dem feuchten Schimmer waren ihm nahe. Er spürte den Duft ihrer dunklen Haare, der dem von Weichselholz ähnlich war. Und zugleich wußte er, wie unsäglich er sich nach dem Klang ihrer Stimme gesehnt hatte.

Gewaltsam gebot er sich Kälte und Vorsicht. Er würde nicht der Narr sein, sich zum zweitenmal, und sei es nur für eine Stunde, von Maruschka betören zu lassen. Die Gräfin Smirnow ging ihn nichts mehr an. Ihr Gatte, so hatte sie zu dem Tischgenossen zu ihrer Rechten erwähnt, sei schon in Paris, sie fahre mit ihrem Vater nach. Wer die Kaiserin kenne, vermöge es nicht zu unterlassen, von Zeit zu Zeit sie aufzusuchen. Vielleicht wird Graf Smirnow französischer Minister des Auswärtigen und kann dem preußischen Staat Wohlwollen beweisen, dachte Alexander grimmig.

Endlich hob Prinzeß Radziwill die Tafel auf. Ein wenig Tanz, nicht wahr? Überall tanzte man in Berlin. Die Ängstlichen und die Armen verkrochen sich in ihren Hütten oder Wohnungen. Das offizielle Berlin und das Stadtbild zeigten eine Vergnügungsfassade. Ob das eine Parole der Regierung war, um den »verbündeten« Feind, der im Lande saß, zu täuschen? Wagte man es nicht, all die Existenzen, die der unselige Krieg auf rätselhafte Weise zu Geld gebracht hatte, Order parieren zu lassen: niemand wußte es.

Die schöne polnische Gräfin wurde um den ersten Tanz bestürmt. Ihr Vater trat an Alexander von Egloff heran, sagte rasch und sehr angelegentlich: »Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen. Sie erhalten ein Billet von mir. Im Moment kann ich noch nicht über meine Zeit disponieren.« Er wandte sich, ehe Alexander etwas erwidern konnte, dem Prinzen Anton Radziwill zu.

Alexander tanzte ein paar Pflichttänze. Dann wurde er zur Prinzessin befohlen. Luise Radziwill, geborene Prinzessin von Preußen, hatte erfahren, daß er aus Bayreuth stammte. Die Prinzessin Ika Solms, Königin Luises Schwester, saß neben ihr. Sie war vor dem Einzug Bernadottes mit ihrem Mann aus Ansbach geflohen. Alexander sollte berichten, wie es nun in den hohenzollernschen Stammlanden unter bayrischer Herrschaft stand. Er antwortete seinem Herzensgefühl entsprechend.

Die fürstlichen Damen hörten seine Worte gerne. Nach kurzer Zeit wurde auch Marya in das kleine Wohnzimmer der Prinzessin Radziwill gebeten. Sie sollte aus Warschau berichten. Doch ehe es dazu kam, meldete Prinz Radziwill selbst seiner Gattin, daß ihr Bruder, Prinz August, soeben eingetroffen sei. Sie erhob sich freudig, verließ den Raum, die anderen Herrschaften folgten: Alexander von Egloff sah sich jählings mit Marya allein. Auch sie war aufgestanden, trat unter die Türe, winkte Alexander zu sich heran und durchschritt mit ihm schnell einen menschenleeren Salon.

Temperamentvoll und von Wärme durchbebt, kamen Maryas Worte: »Ich bin dir Rechenschaft schuldig, Alexander. Mein Leben steht erneut an einer Wende. Komm morgen nachmittag ins Hotel de Rome.«

Er hörte die vertraute, weiche Stimme, er sah Maryas schöne Züge in heftiger Bewegung. Es war eine Sekunde der Genugtuung für ihn. Er antwortete:

»Pardon, Gräfin, ich habe morgen Dienst.«

Er hörte Schritte, Potsdamer Offiziere traten ein. Sie verabschiedeten sich durch Verbeugungen von der Gräfin Smirnow. Alexander eilte, sich bei Prinz und Prinzessin Radziwill zu beurlauben.

Die Schlitten klingelten durch Berlin. Man sah noch viele Vergnügungslokale beleuchtet. Lärmende Menschengruppen stapften durch den Schnee. Ja, Berlin war noch immer eine elegante Stadt mit einem Nachtleben.

*

Fröstelnd stand Alexander am frühen Morgen auf dem Exerzierplatz. Sein Kopf schmerzte, er hatte wohl ungewohnt viel Wein getrunken.

Der Nachmittag war dienstfrei. Alexander lief durch den Park von Sanssouci, suchte beim Anblick des Schlosses seine Gedanken zu konzentrieren, stieg die wie gleitenden Stufen zur Terrasse hinauf. Dort verweilte er lange – dann sah er von den Kolonnaden aus nach der schmiedeeisernen Pforte, durch die Friedrich der Große einst in den Siebenjährigen Krieg aufgebrochen war. Für seine letzte Fahrt in die Garnisonkirche öffnete sich wieder das Tor. Seitdem war es verschlossen geblieben …

Pforten schließen sich und stehen verlassen. Auch Türen von Herzen können verschlossen sein und keinen Einlaß mehr geben.

Marya hat mir etwas zu sagen, Maruschka steht vor einer neuen Lebenswende? Die Worte wollten sich nicht vertreiben lassen.

Es half auch nichts, daß Alexander mit ausgreifenden Schritten durch den hemmenden Schnee sich Bahn brach, als habe er im Neuen Palais eine dringliche Meldung zu erstatten.

Er stand im Anblick der rosenfarbigen Mauern, sah auf die Steingestalten von Friedrichs drei Feindinnen (Maria Theresia, Kaiserin Katharina, Madame de Pompadour), die auf erhobenen Armen die preußische Königskrone tragen – und war doch nicht imstande, das Bild der schönen Polin zu verdrängen. Sie wartete diesen Nachmittag auf ihn. In Ungeduld? In einer Laune? Wohl, sie mochte warten.

Vielleicht erinnerte ihr Vater, der Graf Lagienski, den König an seine treuen Dienste, geleistet zu Bayreuth. Welcher Art diese Dienste gewesen waren, wußte niemand genau. Vielleicht hatte damals der König manche Edelleute aus Polen berufen, um in Warschau zuverlässige altpreußische Beamte an ihre Stelle setzen zu können. Von 1796 bis 1806 war Warschau eine preußische Stadt gewesen. Wohl zwei Jahre lang schenkte Marya von Lagienska diesem deutschen Baron Alexander von Egloff ihre verheißungsvolle Freundschaft. War das vielleicht sehr lange für ein flatterhaftes polnisches Herz gewesen?

Alexander zerstampfte den Schnee unter seinen Füßen, lief weiter, suchte den Weg durch verschneite Gebüsche und kam zu dem Freundschaftstempel, den Friedrich der Einzige seiner Schwester Wilhelmine, der Markgräfin von Bayreuth, errichtet hatte. Da saß die zierliche Gestalt, Schnee wehte zu ihr herein. Verlassenheit umgab sie.

Du kannst mich nichts lehren, wollte Alexander dem Steinbild zurufen. Doch dann überwältigte ihn Erinnern: hatte diese kluge, und bei allem Verstand so rätselhafte Frau nicht Bayreuth die Gestalt gegeben, die er so liebte? Er sehnte sich heim. Er wünschte, er könne die Jahre des Grams vernichten, die jetzt über Preußen und seinem eigenen Geschick lasteten.

Im Dämmern des späten Januartages kam Alexander in seine aus zwei Zimmern bestehende Wohnung in der Jägerstraße. Frau Zahlmeisterswitwe Klinke, die Hauswirtin, berichtete, seit einer Viertelstunde warte oben der Herr Premierleutnant von Bülow; sie habe Feuerung nachgelegt und, mit Verlaub zu sagen, auch Danziger Goldwasser geholt, wie es doch immer der Fall sei, wenn der Herr von Bülow käme.

Eine sparsame Kerze brannte in dem Raum mit den bürgerlichen Barockmöbeln. Bülow hatte das Zimmer in Tabakrauch gehüllt. Massig und behaglich rekelte er sich in einem weiten Armsessel.

»Tag, Egloff. Na siehst du, jeder vertreibt sich auf seine Weise den Kater von Radziwills schwerem Burgunder. Du mit Spazierenlaufen, ich mit Tabak. Vivat dem Soldatenkönig, der den Tabak liebte, Vivat seiner Königin, für die gewiß auch dieser Armstuhl erweitert wurde. Klopfe dir den Schnee ab, ich habe eine hochwichtige Mitteilung für dich.«

Alexander hing den feuchten Mantel gegen den Ofen, entkorkte die Goldwasserflasche und brachte die Gläser der Zahlmeisterswitwe herbei.

»Also, lieber Freund, unser Oberst läßt dir Stubenarrest ankündigen. Na Prost.« Bülow lachte hell auf, freute sich an Alexanders Schrecken, fuhr aber dann gleich fort: »Keine Sorge, ich scherze nur, du bist drei volle Tage dienstfrei und kannst nach Belieben aus und ein gehen. Dein prachtvolles Französisch trägt dir ein, daß du in sauberster Schrift und wortgetreu ein Dutzend Briefe übersetzen sollst, was für dich keine Arbeit ist. Man hat nämlich soeben einen Uhrmacher namens Naundorff aufgegriffen, der vorgibt, der Sohn Ludwig XVI., also der arme Dauphin aus dem Temple zu sein. Natürlich ist das Unsinn. Aber wir können augenblicklich sehr schlecht einen bourbonischen Prätendenten brauchen. Er sitzt in einem wohlwollenden Gefängnis, wird da besser verpflegt, als er es in seiner Armut sich leisten könnte. Doch man will gerecht gegen ihn sein und seine Papiere, unorthographische Briefschaften, von mehreren Gutachtern prüfen lassen. Also, du bist als erster Beurteiler erwählt. Der seltsame Prätendent mietete sich bei einem Feldwebel unserer Kompanie ein, darum kommt die Sache ans Regiment.«

Wunderliche Ablenkung. Alexander las reiz- und belanglose Briefe, die von einem Absender geschrieben waren, der elsässische Dialektworte mit einem aus dem Wörterbuch geholten Französisch vermengte.

»Monseigneur mon prince, mein Tanteli elle-même dit, vous êtes der leibhaftige Dauphin – –«

Welch ein Zeuge für einen Kronprätendenten!

Alexanders Gewissenhaftigkeit gebot ihm, nicht obenhin zu urteilen. Vielleicht stammte die Zuschrift von einem treuen, ehrlichen Mann?

Bald aber lagen andere Briefe auf Alexanders Schreibtisch: Billets, erst durch die Post, dann durch einen reitenden Boten gebracht: Marya schrieb vornehm-höflich, daß ihr Vater Alexanders Besuch erwarte. In einem zweiten Briefchen sprach sie den Wunsch aus, durch Alexander von ihrer lieben Freundin Ulrike und Bayreuth zu hören. Das dritte Billet, welches in der Dämmerung eintraf, war ein Temperamentsausbruch. »Wir reisen nach Paris, ich spreche die Kaiserin, verstehst du nicht, daß ihre Wünsche großen Einfluß auf Napoleon haben? Die Königin Luise ist dir doch teuer.«

Alexander verzog die Mundwinkel. Eine polnische Gräfin hatte den Wahn, bei der Kaiserin Vorteile für die Königin Luise und damit für den preußischen Staat erwirken zu können? Er saß in Nachdenken. Aber was wußte er von Hofintrigen, von Launen einer Kaiserin? Kaiser Napoleon gehorchte seinem Dämon, seiner Willkür – aber die Frauen hatten in Frankreich immer große politische Rollen gespielt. Wäre es nicht möglich, daß auch Napoleon alter französischer Sitte folgte und der Kaiserin noch manchen Einfluß einräumte?

Alexanders Tabaksbeutel leerte sich, sein Zimmer war blau von Rauch. Und während er die konfusen Briefe übersetzte, die man bei einem zugewanderten Uhrmacher gefunden, der sich mit dem Titel des unglücklichen letzten Dauphins von Frankreich »Herzog der Normandie« benannte, zog er immer wieder Maryas Billet heraus, das in stolzen Schriftzügen von ihrem Einfluß bei der französischen Kaiserin sprach.

Die Naundorffschen Briefe waren keine ungute Nachbarschaft für die Zeilen der polnischen Gräfin. Das Unglück hat viele Formen, dachte Alexander von Egloff, riß seine Fenster auf und machte sich ausgehfertig. Er ließ sich dann beim Abendbrot im Kasino von den Kameraden ein wenig hänseln als »Schriftgelehrter« und hörte allerlei Gerüchte, die besagten, der Zar sei des Tilsiter Bündnisses mit Napoleon überdrüssig. Wenn das wahr wäre und zu einem Entschluß führte, dachte Alexander, dann wüßten wir, daß wir unsere Soldaten nicht zum ehrenvollen Untergang gegen eine kolossale Übermacht ausbilden. Preußen und Rußland als Waffengenossen: dies war die einzige Möglichkeit zu einer Befreiung vom napoleonischen Joch.

Nach Hause gekommen, warf Alexander Maryas Billets in die noch glimmende Asche des kleinen Ofens. Er kauerte vor der Feuerstelle, sah das Papier sich krümmen, zerfallen und spürte jäh Maruschkas Parfüm. Sehnsucht überflog ihn, die Sehnsucht nach alten, unwiederbringlichen Tagen …

Am anderen Morgen war ein neuer Brief von Marya da. Der Überbringer wurde von der Zahlmeisterswitwe, Frau Klinke, persönlich die steile Treppe heraufgeführt, denn es war der würdige Oberkellner vom Potsdamer »Hotel zum Einsiedler«, ein Mann, dem man ungefähr Rang und Weltbildung eines herrschaftlichen Kammerdieners zubilligte. Der Oberkellner, der die Allüren vieler vornehmer Persönlichkeiten zu einer Form in sich umgemodelt hatte, meldete mit Zurückhaltung und Liebenswürdigkeit, er habe Antwort zu erbitten.

Alexander las, Marya sei mit ihrem Vater auf dem Wege nach Frankfurt am Main, sie erwarte Alexander um vier Uhr im »Hotel zum Einsiedler«. Es sei die letzte Möglichkeit einer wichtigen Begegnung. Der Oberkellner wartete in unverhohlener Neugier auf Alexanders Antwort.

»Sagen Sie der Frau Gräfin, ich werde zur Stelle sein.« Es hilft nichts, Lagienskis brauchen das Quartier eines preußischen Gardeleutnants nicht zu sehen, dachte Alexander. Marya würde kommen, wenn er nicht kam. Es gab keinen Ausweg mehr. »Und nähme ich Flügel der Morgenröte«, flüsterte er vor sich hin.

Es war Mittag. Er wollte nicht ins Kasino gehen, der Weg konnte eine Begegnung auf der Straße herbeiführen. Die Zahlmeisterswitwe brachte unter vielen Entschuldigungen, daß sie nichts Besseres im Topf habe, ein einfaches Mittagsgericht. Aber sie würde dem Herrn Baron-Leutnant einen Kaffee kochen, einen Kaffee, wie er im »Einsiedler« nicht besser zu haben sei. Denn gerade heute, auf den Tag, sei ein Paket von ihrem Schwager aus Java eingetroffen.

»Danke vielmals. Das ist sehr lieb von Ihnen, wenn Sie mir ein wenig frisch gebrannten Kaffee bereiten, meine gute Frau Klinke.«

Sie brachte den Kaffee »in der Tasse«, und Alexander wußte, die Tasse war das Heiligtum des Glasschrankes, einer früheren Witwe Klinke von Friedrich dem Großen zum neunzigsten Geburtstag geschenkt. Gewiß hatte der große Friedrich das Ding nie in der Hand gehabt, aber es vermittelte doch sichtbarlich einen Hauch seines Zeitalters.

Friedrich der Einzige hätte für Weiberfürsprache bestens gedankt. Man brauchte keine französische Kaiserin als Hilfe für die Königin von Preußen!

Als Alexander sich dem »Hotel zum Einsiedler« näherte, kündete es von der Garnisonkirche die vierte Nachmittagsstunde, und das Glockenspiel setzte sein rührendes Klingen ein. »Üb immer Treu und Redlichkeit.«

Marya war in dieses Getön geflüchtet? Ach, sie kannte wohl das Liedchen sowenig, wie ihr Herz seinen Sinn.

Der Oberkellner geleitete ihn die Treppe hinauf in einen Wohnraum, der schon das Gepräge der Reisenden trug. Ledermappen häuften sich auf einem Schreibtisch, Kerzen und Siegellackstangen waren da, ein kostbarer Frauenpelz lag lässig über einem Stuhl, ein offenes Buch deutete an, man hatte Zeit zum Lesen gehabt.

Über dem Raume schwebte aufreizend und eindringlich Maryas Parfüm.

Alexander stand, die Linke mit der Mütze und den Handschuhen am Säbelknauf, ein wenig steif in der Mitte des Zimmers. Er gab sich krampfhaft Mühe, jede Erinnerung an früher zu verscheuchen. Marya sollte nicht ahnen, wie sehr er um sie gelitten hatte.

Sie trat ein. Unbefangen gab sie Alexander die Hand. In ihrer Stimme schwang kein erregter Ton. Sie tat, als sei diese Zusammenkunft selbstverständlich, und nicht durch Briefe und Boten erzwungen.

Zögernd nahm Alexander den gebotenen Stuhl. »Aber du wirst doch erst den Säbel ablegen, Alexander. Wir stehen doch nicht in Waffen gegeneinander.«

Weich, fast sanft war die Stimme der Frau, die ihre Waffen gar gut kannte.

»Wir waren Kinder in dem verträumten Bayreuth, das Leben schien uns aus Festen und schönen Gärten zu bestehen. Ich hielt meinen Vater für einen mächtigen, unabhängigen Herrn. In einer sehr bitteren Stunde habe ich umlernen müssen.«

Alexander von Egloff sah auf seine Hände. »Oh, es gab bittere Stunden für die Gräfin Smirnow?« Seine Stimme klang spröde, ironisch. Marya beugte sich vor. Ihr dunkles Haar war in leichten Wellen aufgenommen, an ihren weißen, schmalen Händen funkelte nur ein einziger Ring mit einem großen Smaragd.

»Ja, Alexander, es gab sehr bittere Stunden. Ich erfuhr, daß mein Vetter Smirnow seit Jahren Hand auf unsere Güter in Polen gelegt hatte, und daß ich ihm längst zur Heirat versprochen war. Es handelte sich um ein Ehrenwort meines Vaters.«

Alexander war nicht mehr der Jüngling aus alten Gärten, der eine solche Erzählung glaubte oder sich gar von ihr erschüttern ließ. Seine Antwort klang fast begütigend: »Es kommt noch dazu, daß Graf Smirnow als ein glänzender Kavalier wohl auch mit seiner Person einen Sieg erfocht.«

Sie bog sofort um: »Jeder Irrtum hat seine Grundlagen, Alexander. Ich gestehe dir, vielleicht war ich neugierig auf ein ganz großes Weltleben. Vielleicht lag eine Lockung darin, durch die vielen Umwälzungen in Europa und den kühnen Staatsstreich eines ehrgeizigen Mannes auch einmal Reine de Pologne zu werden.«

Der preußische Gardeoffizier sah auf, lächelte, als höre er die Fabeleien eines verwöhnten Kindes, und sagte: »Oh, bitte.«

Aber seine Hände waren unruhig. Seine Linke tastete nach seinem Portepee. Ich darf hier nicht bleiben, wußte er, selbst wenn sie mir Märchen vorredet, ihr Wesen macht mich erneut zum Toren.

Sie fühlte die Veränderung in ihm, erhob sich, trat ihm näher, strich wie in alten Zeiten über sein helles Haar.

»Maruschka, es ist doch alles vorüber –«, sagte er.

Sie glitt auf ein Taburett neben seinem Stuhl. Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. »Ich habe unsere Bindung nie vergessen, Alexander. Drei Jahre sind es nun, daß ich – eine kinderlose Frau – dem Ehrgeiz meines Vaters und meines Mannes dienstbar gewesen bin. Drei Jahre, Alexander. Graf Smirnow ist schon in Paris, um die polnischen Angelegenheiten weiterzuführen. Ich habe ihm nichts vorzuwerfen. Ich habe keine Anklage gegen ihn. Er hat nicht die Hand, die mich zu meinem Herzen führte.«

Alexander von Egloff schwieg. Maryas Nähe ließ ihn für Augenblicke die Jahre des Grams vergessen. Er träumte sich zurück in jene Zeiten, da er durch sie zum heißen Gefühl des Lebens erwacht war: Sternennächte im Park von Eremitage – weite Ritte durch das heimatliche Land – Tanz und Spiel – bebende Erwartung, Erfüllungen durch einen Blick, durch ein Lächeln: Jugend – ach Jugend! Ich muß fort, fühlte er und wußte zugleich, wenn diese Stunde vorüber war, hatte er wieder durch Einsamkeiten zu gehen, kalt und schwer wie Schneewehn.

Vor den Fenstern sank die Dämmerung. Marya ging zu Armleuchtern auf dem Kamin, entzündete mit einem kleinen Licht, das vor einem Heiligenbild brannte, die großen honigfarbenen Wachskerzen. Alexander kannte diese Gewohnheit, der alte Duft war ihm Erinnerung.

»Mein Vater und ich fahren morgen früh weiter nach Frankfurt und Mainz«, sagte sie fast gleichmütig. »Es wird wieder eine jener vielen Reisen, die hinter mir liegen. Ich weiß es nicht mehr, wie oft wir schon Rheinbrücken passiert haben.«

Alexander stand schwerfällig auf. »So leb wohl, Marya.«

Sie lag an seiner Brust. Ihre heißen Lippen suchten die seinen, sogen sich fest.

Du warst mir der Himmel, fühlte er erschauernd, fühlte den Sturz seines Blutes, den Schlag von ihrem Herzen.

Bald gibt es Krieg, zuckte es durch ihn hin. Bald bin ich vielleicht nichts mehr als ein Erinnern. Der heilige Trieb der Natur, ist er an Bürgermoral gebunden? Umfangen von Maryas Zärtlichkeit und Liebeswillen stieß er heraus: »Weißt du nicht, wie sehr ich dich und deine Nation gehaßt habe, du?«

Sie lachte ein dunkles, weiches Lachen. »Du hast das nun vergessen.« Ihre Stimme glitt in das ihr gewohntere Französisch: »Aime et tu renaîtras, Alexandre.«

Vom Turm der Garnisonkirche schlug es die fünfte Stunde. Erschreckend laut klang es in das Zimmer. Hoch und spitz tönte des Glockenspiels altes Lied »Üb immer Treu und Redlichkeit«.

Alexander ließ die Arme sinken. Die Glockenrufe ernüchterten ihn. Marya eilte an ein Fenster, sah auf verschneite Bäume hinaus, atmete die kalte Luft ein. Nach ein paar Minuten des Schweigens schloß sie den Fensterflügel, nahm Platz auf einer Couchette. Das leichte seidene Gewand zeichnete den schönen Umriß ihrer Gestalt ab. Sie saß vorgebeugt, stützte die Stirne in eine Hand und sprach fast ruhig: »Ich kann mich frei machen, Alexander. Wenn ich all meine Beziehungen spielen lasse, werden die Formalitäten nicht sehr lange Frist beanspruchen. Ich gehe auch nicht als eine Bettlerin aus meiner Ehescheidung hervor. Du brauchst nicht zu bangen, daß ich in eine böse wirtschaftliche Lage käme.«

Vielleicht wäre Alexander von Egloff von Mitleid ergriffen worden, hätte sie gesagt, sie wolle lieber einsam in die Armut fliehen, als länger ihre Ehe ertragen.

Ende, Ende! wußte er. Keine Erzählung mehr, daß vielleicht ein Schloß in Polen warte, oder ein Reiseleben –

»Du hast längst gewählt, Marya. Du wähltest die Treulosigkeit, oder die Stellung zu deinem Vater und die Wiederbeschaffung seiner Güter.«

Über ihre Züge glitt ein Erstaunen. Rasch wechselte sie den Ton. »Du kannst mir nicht verzeihen, Alexander?«

Ich könnte es, ich kann es, ich habe es schon getan, dachte er. Er stand vor ihr. Er nahm ihre Hand an seine Lippen, wie es die Höflichkeitspflicht seiner Zeit war.

»Leb wohl, Marya. An dir lag es, daß unsere Wege auseinanderführten. Ich habe dir nichts mehr zu verzeihen. Wir sind quitt. Aber es gibt etwas, das ich mir selbst nie verzeihen könnte – das wäre ein treuloser Sohn – oder eine treulose Tochter.«

Er sah sich nicht mehr um. Er ging.

Sehr aufrecht durchschritt er die verschneiten Straßen der Soldatenstadt. In seiner ärmlichen Stube war das Feuer erloschen. Der preußische Gardeoffizier saß im Dunkel. Er dachte, bald gibt es Krieg, und nichts anderes gilt mehr als das Vaterland.

Die Zahlmeisterswitwe kam die Treppe heraufgekeucht. In ihrer Hast ließ sie, ehe sie anklopfte, vor der Zimmertüre Holzscheite auf die Diele poltern. So blieb Alexander von Egloff Zeit, sich zu fassen.


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