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Fünfzehntes Kapitel.

Eigentlich hatte eine glückliche Zeit für Nordstad begonnen, als der melancholische Johann gestorben und der lustige Arvid Thronfolger geworden war.

Arvid wurde mit Ueberschwang begrüßt. Enttäuscht sah man nur, daß eine seiner besten Eigenschaften, seine Frau, ihr »Versprechen« nicht hielt. Endlich hatte man die schöne Deutsche zu sehen bekommen – da war sie auch schon wieder zur Einsiedlerin geworden. Jetzt zog sie gar mit einem verrückten Poeten in der Welt herum. Was ihre junge Seele eigentlich suchte, vermied man zu ergründen. Man hatte sich nicht einmal aufgeregt, als es hieß, ihre Kinder seien krank. Die Wohltätigkeit der Prinzessin nahm man gleichmütig hin, als ob man sich nur in ihrem Interesse darüber freute. Barmherzig zu sein war ihr Lebenselement, also auch Egoismus; das machte einem keine Gedanken. Aber nun war sie fort. Sie kam vielleicht nicht wieder. Den größten Vorteil von der neuen Situation hatte Herr Konstantin Grimm, der Eigentümer des berühmten Kellers. Jegliches Odium war von seinem Lokal genommen. Kein Mann von Welt brauchte es mehr zu scheuen. Die vornehmen Fremden fragten sofort danach, als ob es die wichtigste Sehenswürdigkeit Nordstads wäre. Ein Schimmer sanktionierter Lebenslust umgab die niedrige Kellerpforte. Freilich mußte sich Herr Grimm nach dem Gast richten, dem er sein Glück verdankte. Nicht jedermann kam in das Allerheiligste, wo der Kronprinz zwischen den »Punschseelen« saß. Es gehörten schon ein hoher Name, ein großes Verdienst oder ein noch größerer Geldbeutel dazu. Das verstärkte den Reiz. –

Als der Sommer herannahte, wurden die Sportsfeste mit besonderer Freude erwartet. Kronprinz Arvid forderte die Jugend zu einer großen Frühlingsfeier auf. Aber nicht nur aus der Hauptstadt, sondern auch aus allen Provinzen sollten Teilnehmer kommen. Der Ruf des Kronprinzen wurde von den störrischsten Bauern gehört. Sie waren ja bei all ihrer Bodenständigkeit auch gute Geschäftsleute. Der freigebige Arvid zahlte jedem, der es wollte, das Reisegeld, und man konnte in der Hauptstadt gute Verkäufe machen, nützliche Verbindungen anknüpfen. Wenn es den Nordstadern für ihre Gastfreundschaft genügte, die bunten Trachten, blonde Frauen und rotwangige Kinder der Landleute zu sehen, wenn sie ein Vermögen für Tänze und Lieder ausgeben wollten, die man daheim alle Tage haben konnte – warum nicht? So kamen sie denn von Norden und Westen aus ihren bunten Häusern und brachten das goldblaue Maiwetter mit. Auch die entlegensten Bauern, Oda Maries Nachbarn aus dem Wallalande, erschienen. Sie hatten durch ihre Riesengestalten den größten Erfolg. Ihr Pfarrer, der sie führte, war sehr beglückt. Nur Gertrud v. Adlersfeld hatte ihren Leuten verboten, an dem Frühlingsfest in Nordstad teilzunehmen.

Es ist das Geheimnis großer Feste, daß der Zusammenhang über jede Einzelstimme forttäuscht. Das Auge des Beschauers ist vom Ganzen gebannt. Die Schale muß der Kern sein. Den Nordstadern ging es nicht anders. Als Kronprinz Arvid in all dem leuchtenden Rausch stand, nur Kräfte sah, nur Jubel hörte – da fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf: Was will sie eigentlich? Sie kennt uns ja gar nicht! So müßte sie uns sehen! Wenn sie jetzt hier wäre, statt mit ihrem buckligen Poeten zwischen antiken Trümmern herumzulaufen! Die Begrenzung meines Volkes, nicht seine Entfaltung hat sie gesucht! Jetzt würden alle ihre Bedenken fallen! Jetzt könnte sie wirklich meine Königin werden!

Wenn es dämmerte, wartete ein böser Feind auf die Frühlingsmenschen. Unter der Sonne, auf freiem Plan, hatten sie aus sich selbst das Feuer geholt. Da war das Vergessen spielender Kinder über sie gekommen. Doch wenn der Tag zu Ende war, kam der große Ruf nach Ruhe und mit der Ruhe die Feier des Sieges. Der lauernde Feind nahm die anmutigste Gestalt an – man sah es kaum, daß sein geschmeidiges Funkeln einen Schlangenleib umhüllte. Was zauberte der Alkohol nicht alles aus siegberauschten Köpfen! Der Alkohol war Ausgleich, Witz und Liebe. Der Geist siegte. Man hielt es für Geist, was dieser Feind schenkte, Nacht für Nacht. Arvids Frühlingsfest gab den Wirten Nordstads zu verdienen. In ihre Säle, Stuben und Keller strömte, was den Tag über auf Wiese und Wasser gewesen. Bei Morgengrauen zogen die Bacchanten durch die Straßen – geschmückte Dirnen hingen an ihnen. Frische Gesänge vom Tage her wurden ein Lallen bei Nacht. Das machte viele Kämpfer kraftlos für das kommende Spiel – aber Ersatz war immer da. Es gab ja noch viele Männer in dem weiten Lande.

Am Abend des letztem Festtages, dem Höhepunkt der ganzen Veranstaltung, war Kronprinz Arvid vor aller Augen in Grimms Keller gezogen. Es war ein eigenartiger Triumphzug der »Punschseelen« durch den König-Eriks-Korso, als es noch nicht Nacht war und zwischen den Mob die vornehme Welt sich drängte. Arvid und seine Begleiter trugen grüne Kränze um die Stirn, wie die Sieger der Spiele. Den Kronprinzen durchglühte noch der Stolz der Preisverteilung – man hatte ihm zugejubelt wie niemals. Oskar Löwenstern aber, der an das Schloß jenseits des Stromes dachte, hegte gegen den demonstrativen Zug Bedenken. An Oda Marie dachte er nicht, aber an den König – es konnte einen ungeheuren Skandal geben. Arvid hörte nicht auf ihn – er fühlte sich heute zu sicher als Herr von Nordstad. Er wagte sogar, dem Kaplan Schönwetter, den er unter der Menge entdeckte, zuzuwinken, obwohl er wußte, daß dieser Hohn sofort zum Bischof kam.

In Grimms Keller gab es heute die tollste Nacht. Maurice Mosson, der Komödiant, war auch wieder in Gnaden aufgenommen; Arvid spürte keinen Ekel mehr vor seinem gekünstelten Falstaff. Er spielte selbst den Prinzen Heinz, ohne aber an König Heinrich und das kommende Reich zu denken. Asta Karlsson und Melide Beutow lagen auf einem breiten Diwan, der mit seidigen Tierfellen bedeckt war. Zwischen den Frauen ruhte der Sultan, sie durften sich ihm nahen, wenn es seine müde Hand gewährte. Ethel Night verlangte am wenigsten nach Arvid. Die Tänzerin blieb im Taumel ihres Tanzes, den sie mit einem schlanken Neger immer neu gestaltete. Endlich wurde Orlando, der Geigenvirtuose, zum Spielen bewogen. An den Kellerfenstern graute schon der Tag. Die »Punschseelen« waren matt und schläfrig – in seligem Rausch lauschten sie den weichen Klängen.

Mehrmals hatte Jean, der Oberkellner, es versucht, an den Diwan zu gelangen, auf dem der Kronprinz lag. Immer wieder war er daran gehindert worden. Durfte er den hohen Herrn jetzt stören? Schließlich bemerkte Graf Löwenstern das verlegene Gesicht des Oberkellners. Er fragte ihn leise. – »Ein dringender Expreßbrief aus Rom«, war die Antwort. – »Sind Sie des Teufels, Jean? Damit wollen Sie den Kronprinzen hier behelligen?« – »Ich muß wohl, Herr Graf. Vielleicht eine wichtige Nachricht von der Frau Kronprinzessin. Wenn der Herr Graf die Verantwortung übernehmen wollen – ich drücke mich schon seit Stunden mit dem Brief herum.«

Löwenstern kannte Arvids Unberechenbarkeit. Wenn Oda Marie krank war, vielleicht im Sterben lag, und er erfuhr es zu spät – die Folgen waren nicht auszudenken. Löwenstern nahm Jean den Brief aus der Hand und steckte ihn, als Orlando sein Spiel beendet hatte, Arvid zu. – »Was ist das?« – »Expreß von Ihrer Frau.« – »Wer hat das gebracht?« – »Der Schloßkastellan. Es ist eine Unverschämtheit, aber …« – »Still! Unterhalten Sie die anderen! Man darf nichts merken!« – Die anderen waren damit beschäftigt, dem Geiger zu applaudieren – sie merkten wirklich nichts. Als sie dann nach einer Weile sahen, daß der Kronprinz das Zimmer verlassen hatte, glaubten sie, daß er bald zurückkehren werde, und schwatzten weiter. –

Niemand erkannte den Mann, der in Zickzacklinien durch die Straßen lief. Zum Schlosse führte Arvid seine Flucht nicht – er eilte zum Hafen. Obwohl es ganz sinnlos war, im Morgengrauen ohne Handwerkszeug ans Malen zu denken, hatte Arvid doch den Wunsch, die Orte wiederzusehen, wo er unter Oda Maries Einfluß zuletzt gearbeitet hatte. So kam er zu den leise schwankenden Schiffen, deren Takelwerk schwarz von dem Frühlicht abstach. Der Hafengeruch, der aus den Ausdünstungen von Teer, Kaffeesäcken, Speiseabfällen und Seetang gemischt war, tat Arvid wohler als das Parfüm von Grimms Keller. Er starrte die Schiffe an, die zur Fahrt aufs Weltmeer gerüstet waren. Wie beneidete er die schlafenden Matrosen. Er hätte jetzt auch ein Handlanger sein mögen, ein Packknecht, ein armer Bengel mit unbeschwerten Sinnen. Dann lachte er plötzlich über seine Sentimentalität. Er war ja betrunken! Den mißtrauischen Blick eines Zollwächters, der ihm begegnete, erwiderte er herausfordernd. Der Beamte sprach ihn nicht an, von seiner vornehmen Kleidung eingeschüchtert. Das konnte kein Schmuggler sein. Aber er erkannte den Fremden nicht.

Um so besser hatte ihn ein anderer Spaziergänger dieser Nacht erkannt. Als Arvid durch die enge Gasse geeilt war, die zum Hafen führte, hatte er einen Mann gestreift, der im Schatten eines Haustores gestanden. Ahnungslos war Arvid an August Grönvold vorübergekommen. Den Kolonisten von »Deutsch-Freiland« hätte er hier auch nicht vermutet. Doch Grönvolds dunkel grübelnder Kopf hatte die Erscheinung Arvids wie ein Blitz getroffen. Das war mehr als eine zufällige Begegnung! Das war Schicksal! Grönvold folgte dem Kronprinzen. –

Der Graveur war in dem ärmlichen Hafenviertel zu Hause. Sein Heimweh, das ihn gegen Herzog Karl untreu gemacht, hatte ihn als bürgerlich gesicherten Mann nach Nordstad zurückgeführt. Den Widerspruch seiner Frau hatte er zu beschwichtigen gewußt. Seine Genugtuung war da – er brauchte keine Fässer mehr zu schleppen, er konnte eine stattliche Werkstatt gründen. Doch als er so sicher und glücklich lebte, waren auch die Freunde wiedergekommen, die Kampfgenossen von einst. Sie achteten August Grönvold, sie hörten auf seine neue, von »Deutsch-Freiland« befeuerte Rede. Aber die Not, unter der sie einst gelitten, war noch dieselbe. Jetzt erst begriffen sie sie, als sie Grönvolds Glück sahen. Aus ihrer dumpfen Lethargie wurden sie aufgerüttelt, und Hoffnung glimmte in ihnen. Grönvold war ein fanatischer Prediger gegen den Alkohol. Er wußte, daß das Volk vor diesem Moloch auf den Knien lag. So fand der Abstinenzbund Nordstads in ihm eine mächtige Stütze. Um den Hafen herum lebte ein anderes Nordstad als am Königsschlosse. Hier war das moralische Gewissen erwacht, hier dachte man noch an seine Kinder. Ein ehrliches Bekenntnis der geheimen Qual gab nicht so blondes Haar und so helle Augen. Am Hafen liebte man die fröhlichen Lebenskomödianten nicht. Der Nordstader, dem es seelisch besser ging, hatte graue Schläfen, Runzeln und ernsten Blick. Aber so war ihm auch die grausame Ungerechtigkeit der Güterverteilung doppelt zum Bewußtsein gekommen. Früher war er nur ein murrender Prolet gewesen. August Grönvold eiferte gegen den passiven Widerstand. Die mißverstandene Lehre Herzog Karls wirkte in ihm nach, als er den freien Arbeitsmenschen predigte. Aber er fühlte es selbst, daß er mit dem, was er aus Deutschland mitgebracht, in leere Phrasen geriet. Hier traf die schöne, ruhige Weisheit des Herzogs nicht zu. Hier war Knechtschaft, unerhörter Druck. Christus wohnte in den Kirchen – zum Volke kam er nicht. Man lachte Grönvold aus, als er immer wieder Herzog Karls Predigt kopierte. Man wollte Tatsachen, Taten.

Nacht für Nacht fanden die Sitzungen des geheimen Bundes statt. In Grönvolds Hause versammelte man sich. Frau Susanne war machtlos. Sie sah Verarmung und Gefahr, aber der furchtbare Eid band auch sie. Was sie dem Herzog Karl nach Udde schrieb, durfte von der eigentlichen Not nichts verraten. Soviel die Männer aber überlegten – immer blieb das Ergebnis: Propaganda der Tat. Ein Opfer mußte fallen. Wer zugriff, packte am besten den Stamm. An dem Tage, da sein Frühlingsfest begonnen, wurde Kronprinz Arvid zum Tode verurteilt. Was ihm den jubelnden Dank des hellen Nordstad eingetragen – im dunkeln war es die letzte Herausforderung. Man haßte dieses Frühlingsfest. Man wollte mit einem blutigen Protest erwidern. So wurde denn gelost, wer die Tat begehen sollte. Auf August Grönvold fiel das Los.

Als er die Entscheidung in seinen zitternden Händen hielt, verstand er sie anfangs nicht. Sein erstes Bewußtsein war: Das ist unmöglich! Durch mich darf er nicht fallen! – Mit fliegender Brust sprach er es aus. Wütende Enttäuschung umtobte ihn. »Was? Bist du ein Feigling? Warum soll es ein anderer tun? Nicht du?« – »Weil Oda Marie seine Frau ist! Weil Oda Marie die Tochter meines Herzogs ist!«

Man begriff ihn nicht. Als man aber seine Verzweiflung sah, gab man ihm Bedenkzeit. Grönvold irrte ruhelos umher. Er mied seine Frau, seine Kinder. Er konnte nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Aber so klar und unerbittlich er auch denken wollte – immer wieder erschienen die vorwurfsvollen Gestalten aus Udde. Ratlos ging er wieder zu den Freunden: »Macht mit mir, was ihr wollt!« – »Es läßt sich nicht ändern, Grönvold. Wenn wir das Los umwerfen, werfen wir die Sache um. Opfern müssen wir uns alle einmal.« –

Der Tag nach dieser Entscheidung war der letzte auch des Frühlingsfestes. Grönvold mischte sich unter die Tausende, die dem Wettrudern auf dem Strom zusahen. Da waren alle so fröhlich und guter Dinge. Ach, es bedeutete wohl nur einen »Wahn«, das ganze Dasein! Wer nichts mehr glaubte, nur lebte – der hatte recht. So waren die Nordstader seit Jahrhunderten gewesen. Warum vermaß sich August Grönvold, anders zu sein? Was Weiber und Kinder bejubelten, das sollte er töten? Er sah ihn auf der Tribüne stehen. Lachend griff der Kronprinz nach einem Goldpokal, dem höchsten Siegeszeichen. So fern das Opfer ihm auch stand, Grönvold packte doch einen Augenblick den Revolver, den er im Gürtel trug. Aber als er ihn lockerte, hörte er ein tosendes Jubelgeschrei. Das Volk huldigte Arvid.

Da war der traurige Befreier wieder in die Hafengasse gegangen Er schloß sich ein. Susanne klopfte vergebens bei ihm an – sie konnte nicht zu ihm gelangen. In tiefstem Gram ging sie endlich mit ihren Kindern schlafen. Um Mitternacht schlich sich August Grönvold wieder aus dem Hause. Bis der Morgen graute, blieb er unterwegs. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück. Schon spielte er mit dem Gedanken, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Ein ehrloses Ende – aber er verging sich nicht an Herzog Karl.

Als er noch einmal unschlüssig vor der Haustür stehenblieb, hörte er Schritte durch die Gasse hallen. Wunderliche Erregung durchzuckte ihn – er wartete. Bald streifte ihn der duftende Mantel eines vorübergehenden Herrn. Sonderbare Erscheinung in der Hafengasse! … Aber die Linie des Rückens, der Gang, der blaue, schöne, unstäte Blick – es war unmöglich, doch er konnte sich nicht getäuscht haben. Arvid war es! Der Kronprinz! Spiegelte ihm sein böses Gewissen ein Trugbild vor? Rief ihn das Schicksal? Er hörte eine eherne Stimme – er eilte auf den Zehen dem nächtlichen Wanderer nach. Bald wußte er bestimmt, das es Arvid war. Weit draußen auf der Mole stand der Kronprinz und nahm seinen Hut ab, um sich von der Frühluft umspielen zu lassen. Grönvold sah das feine Profil von König Eriks Sohn. Wie verträumt mußte er sein, daß er den näherkommenden Mann nicht bemerkte. Der Kronprinz stand auf einer Stelle, wo er vor Monaten gemalt hatte. Als ihm eben der Gedanke kam, ob er nicht einmal versuchen sollte, Oda Marie zu porträtieren, hob Grönvold seinen Revolver. Ja, er mußte es jetzt tun! Dieser Fluch des Landes mußte fallen! Ein Schuß krachte – Arvid stürzte zu Boden. Als August Grönvold sich in wahnsinniger Angst abwandte und davonrannte, lief er dem Zollwächter in die Arme. –

Oda Marie war von Rom ohne Aufenthalt zurückgekehrt. Ihre Begleitung bestand jetzt nur noch aus der Baronesse Adams, der Zofe Sophie und einem Diener. Schlecht war die Baronesse daran. Ihr geistiges Mittelmaß brauchte fortwährend Unterhaltung. Um mit der Zofe zu plaudern, war sie zu hochmütig, und die Schwermut der Prinzessin wagte sie nicht zu stören. Kurz bevor man von Berlin abfuhr, kaufte Baronesse Adams einige Zeitungen. Man hatte ein reserviertes Coupé – Oda Marie saß in ein Kissen gelehnt und wandte zufällig den Blick auf ihre Hofdame. Da sah sie die Adams mit totenblassem Gesicht, die runden Augen ratlos auf ihre Herrin gerichtet. Das Zeitungsblatt zitterte in ihren Händen. – »Was gibt es denn, Leonie? Was haben Sie gelesen?« – »Oh, es ist ganz entsetzlich, Königliche Hoheit …« – Oda Marie nahm das Blatt an sich und las ein Telegramm. Es kam aus Nordstad. Auf den Kronprinzen sei nachts ein Attentat verübt worden. Am Außenhafen habe ein Mann auf ihn geschossen. Nähere Nachrichten fehlen noch. Oda Marie lehnte sich zurück. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, aber sie wollte sich gewaltsam fassen. – »Wie schrecklich, Königliche Hoheit!« Hofdame und Zofe weinten. – »Steht noch mehr in der Zeitung? … In einer anderen? … Suchen Sie!« – Die Baronesse durchwühlte sämtliche Blätter – endlich fand sie noch etwas. Ein zweites Telegramm: »Kronprinz Arvid befindet sich nicht in Lebensgefahr. Die Kugel hat die Lunge gestreift und konnte von den Aerzten entfernt werden. Die Bevölkerung Nordstads umsteht zu Tausenden das königliche Schloß. Die Teilnahme an dem Unglück des allbeliebten Thronfolgers ist ungeheuer. Wütend verlangt man Lynchjustiz an dem Attentäter. Wie dieser das Verbrechen eigentlich verübt hat, ist noch ziemlich unklar. Die Tat muß zwischen 4 und 5 Uhr morgens geschehen sein. Der Kronprinz, der am Tage zuvor die Preisverteilung des großen Frühlingsfestes vorgenommen und dann ein mondänes, von ihm viel frequentiertes Lokal besucht hatte, wurde auf der Mole des Außenhafens gefunden, sein Skizzenbuch neben ihm. Kein Begleiter war in der Nähe.« – Dann ein drittes Telegramm: »Es hat sich soeben herausgestellt, daß das Attentat auf ein anarchistisches Komplott zurückzuführen ist. Der Attentäter hat gestanden, verweigert aber, Mitschuldige zu nennen. Sein Name ist jetzt festgestellt: er heißt August Grönvold, ist Graveur in der Hafengasse und als fleißiger Mann bekannt. Früher hat er in Deutschland gelebt und war ein Bewohner der Kolonie ›Deutsch-Freiland‹, die Herzog Karl in Udde gegründet hat. Herzog Karl ist bekanntlich der Schwiegervater des Kronprinzen. Das Befinden des Verwundeten hat sich gebessert. Die Aerzte hoffen, ihn am Leben zu erhalten.«

Nun wußte Oda Marie schon viel. Sie glaubte das Zeitungsblatt in den Händen zu halten, aber es entglitt ihr. Plötzlich ohne jede Devotion ergriff es die Baronesse und las es mit der Zofe zusammen. Oda Marie saß bleiern in ihr Kissen gelehnt. Sie wußte nicht, wohin sie getragen wurde. Als sie zu ihren Frauen hinübersah, spürte sie mit halbem Bewußtsein, daß der Blick der beiden Nordstaderinnen etwas Vorwurfsvolles enthielt. Oda Marie schüttelte sich plötzlich. Ein krampfartiges Schluchzen packte ihre Brust. Da sprangen die Frauen ihr bei. –

In der deutschen Hafenstadt erwarteten Gunhild und einige Herren vom Hofe die Kronprinzessin. Gunhild umarmte ihre Schwägerin: »Es geht besser, Oda Marie! Ich habe heute schon mit Arvid gesprochen! Er verlangt nach dir!« – Oda Marie ging an ihrem Arm auf das Schiff. Viele Neugierige hatten sich angesammelt, wie damals, als sie die Neuvermählte gewesen. Stumme Teilnahme umgab sie heute. In der vordersten Reihe stand ein Mann, den die Kronprinzessin trotz ihrer angstvollen Eile bemerken mußte. Mochte es die überschwengliche Ehrerbietung seines Grußes sein oder die leuchtende Glatze, die ihren empfindlichen Blick traf – sie empfand eine halbe Erinnerung, daß sie den Mann hier schon einmal gesehen hatte. Als der Dampfer den Hafen verließ, ging Herr Michael Kleinholz mit feierlichen Schritten nach Hause. Welche Motive hatte er nun für das Gedicht, das er auf das tragische Ereignis in Nordstad plante. –

»Weiß Arvid, wer es getan hat?« fragte Oda Marie plötzlich ihre Schwägerin. – »Nein,« lautete die herbe Antwort. – »Er darf es auch nie erfahren!« – Gunhild zuckte die Achseln. »Wenn du das verhindern kannst …« – Beide blickten nun schweigend auf die dunkelblauen Furchen, die der Kiel des Schiffes in das Wasser schnitt. –

Am Bahnhof und auf den Straßen Nordstads glaubte Oda Marie überall dem leisen, stechenden Vorwurf zu begegnen, den sie zuerst bei der Baronesse und der Zofe beobachtet hatte. Auch Gunhild war nicht frei davon. Man brachte die Kronprinzessin irgendwie mit dem, was geschehen war, in Zusammenhang. Noch nie hatte Oda Marie sich so fremd in Nordstad gefühlt. Aber sie blieb gefaßt. An Arvids Eltern, die nur an ihren Erben dachten, nicht an ihren Sohn, an den Höflingen, die Arvids Genesung um des eigenen Vorteils willen ersehnten, eilte sie vorüber. Bald war sie bei dem Kranken. Er war verändert – mager, bleich und schwach. Seine Freude über das Wiedersehen rührte Oda Marie. Jetzt hatte er wieder das Kinderlächeln, das sie einst so geliebt hatte. Sie saß an seinem Bett und streichelte seine Hand. – »Was sagst du dazu, Oda Marie? … Ich hätte nie gedacht, daß in meinem Volk mir jemand nach dem Leben trachten könnte! … In meinem Volk … Du hättest das Frühlingsfest sehen sollen! … Da liebten sie mich alle! …« Er schluchzte plötzlich. Oda Marie beruhigte ihn. Bald gelang es ihr, was ohne narkotische Mittel noch nicht gelungen war – der Kranke schlief. Es war sein erster Genesungsschlaf. –

Oda Marie war in ihrem Zimmer allein. Wieder befand sie sich in dem großen Schlosse zu Nordstad. Allmählich gab sie sich Rechenschaft über das, was sie empfand. Wenn sie sich genau prüfte, mußte sie gestehen, daß Arvid nicht ganz in ihrer Empfindung lebte. Sie wandte ihr Mitleid auch dem Verbrecher zu. Arvid lebte und würde bald wieder der Alte sein – der Verbrecher sollte sterben. Oda Marie sprach Grönvold nicht frei, aber sie wollte wissen, ob er ganz zu verurteilen war. Den Weg, den dieser Mann von »Deutsch-Freiland« bis zu solcher Tat gegangen, verstand sie nicht. Er kam von ihrem Vater und wollte ihren Gatten töten? Sie mußte den Menschen begreifen, an dem ihr Vater umsonst gearbeitet hatte. Sie mußte es: es galt im Innersten ihres Vaters Werk. Ruhelos schritt sie umher. Ein kühner Entschluß reifte. August Grönvold durfte seine Tat nicht büßen, bevor er sie ihr gebeichtet hatte. –

Es gelang ihr, in das Staatsgefängnis zu kommen. Der Kutscher, der sie hinausfuhr, war zuverlässig, und der Direktor der Anstalt, ein humaner Mann, nahm den sonderbaren Schritt der Kronprinzessin in sein Amtsgeheimnis auf. Er führte Oda Marie zu Grönvolds Zelle. Unterwegs sagte er: »Grönvold wird nicht mehr lange leben, Königliche Hoheit. Das Verfahren gegen ihn wird beschleunigt. Wir fürchten täglich einen Sturm des Pöbels auf das Gefängnis.« – »Was Pöbel heißt, hat zu schweigen«, antwortete Oda Marie. – Der Direktor zuckte die Achseln. Er trat in Grönvolds Zelle. Nach einigen Minuten kehrte er zurück. »Ich darf Sie hineinführen, Königliche Hoheit, aber ich muß Zeuge dieser Unterredung sein.« – Oda Marie wollte noch einmal bitten, aber sie sah den unbeirrbaren Willen des Direktors und folgte. In der halbdunklen Zelle stand sie wirklich August Grönvold gegenüber. Der Direktor blieb an der Tür stehen.

Grönvold verhielt sich regungslos. Er starrte Oda Marie wie eine überirdische Erscheinung an. – »Sie kennen mich doch?« – Er regte sich; seine Ketten klirrten leise. »Ja, Fräulein Prinzeß …« – Oda Marie konnte nur mühsam aufrecht bleiben. Diese Anrede erschütterte sie. In der Gefängniszelle tauchten längst versunkene Tage auf. Fräulein Prinzeß! So hatte sie einst der Kolonist von »Deutsch-Freiland« genannt! – »Verstehen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin?« – »Nein, das versteh' ich nicht …« – »Sie haben sich schwer an mir versündigt.« – »Das kann wohl sein.« – »Und waren ein Pflegling meines Vaters.« – »Ja, das war ich.« – »Ich bin nicht gekommen, um Ihnen Vorwürfe zu machen, sondern um Sie zu verstehen. Mir liegt daran, daß das Werk meines Vaters nicht besudelt wird.« – »Ich hab' es nicht besudelt, Fräulein Prinzeß!« – »Sie waren in Udde so glücklich. Ich hab' es doch mit angesehen …« – Grönvold zitterte. Er tastete mit den Händen umher. »Sie waren immer gut zu mir. Aber reden Sie bitte nicht davon!« – »Nein, Grönvold. Sie hätten davon reden, daran denken müssen. Ich bin auch nicht das Fräulein Prinzeß mehr – ich bin die Frau des Kronprinzen, den Sie töten wollten.« – Der Direktor machte eine Bewegung, als wollte er eingreifen. – »Ich habe nicht an Sie gedacht, als ich das getan habe!« – »Unverschämt!« rief der Direktor. – Oda Marie hob beschwichtigend ihre Hände: »Er brauchte nicht an mich zu denken! Aber an meinen Vater! Mein Vater glaubte den Heiland in euch lebendig zu machen! Mein Vater hat euch zu freier Arbeit erlöst! Sie haben ihn verlassen, um das zu tun?« Grönvold wandte sich heftig zu dem kleinen vergitterten Fenster. »Halten Sie mich für einen Schuft, Fräulein Prinzeß?!« – »Nein, Grönvold!« – Er starrte sie an. »Das war gut! Das war nicht feige! Sie sind wohl noch, was Sie waren! Ich habe mich auch nicht verändert! Erlauben Sie mir, daß ich ganz offen bin: Sie sind mit dem Kronprinzen nicht glücklich geworden, und unserem Volk ging es wie Ihnen! Wir hatten keinen anderen Ausweg! Männer müssen anders denken als Weiber! Ihr Vater ist auch ein Mann! Aber ein Fürst! Ich habe erst in seinem Sinn geredet – dann mußte ich den anderen recht geben! Als ich die Wirklichkeit sah! Ich wollt' es nicht von selbst tun – das Los hat mich getroffen! Ist es denn schlecht, wenn man alles, was man hat, für eine gute Sache opfert? Wollte Ihr Vater etwas anderes? Die Sachen sind doch bloß verschieden! Was ist das Ende? Ich werde geköpft – meine Frau und meine Kinder geraten ins Elend! Der Kronprinz wird König werden! Aber ich hinterlasse doch was! Ich sterbe als freier Mann! Das sagen Sie Ihrem Vater, Fräulein Prinzeß!«

Der Direktor trat jetzt neben Oda Marie. »Gestatten, Königliche Hoheit, daß ich Sie hinausführe?« – Oda Marie blickte unverwandt auf August Grönvold. »Ich komme … Ja, ich komme gleich! … Ich glaube Ihnen, Grönvold – ich glaube, daß Sie leben bleiben, um büßen zu können, was nicht zum freien Mann gehört! …« – »Sie wollen sich wohl für mich verwenden? Ach, Fräulein Prinzeß! Dann komm' ich für immer ins Zuchthaus! Glauben Sie mir, da wird man auch nicht besser! Verlassen Sie meine Frau und meine Kinder nicht – wenn Sie das tun wollen, weiß ich, warum ich in ›Deutsch-Freiland‹ gewesen bin!«

Oda Marie folgte dem Direktor. Die Tür der Zelle, schloß sich hinter ihr. Herzog Karls Tochter aber wurde von steigender Sehnsucht gejagt, Grönvolds Leben zu retten. Es war ja noch der Rettung wert. Galt es nicht die Seele, um die Christus rang? Arvid genas – also war der Weg zur Verzeihung angebahnt. Oda Marie überlegte, wie er am schnellsten zu beschreiten war.

Sie fuhr zu Jakob Kadmus. Der Ministerpräsident wollte sich erst verleugnen lassen, aber sie eilte an dem Diener vorbei. – »Es ist Sache des Justizministers, Königliche Hoheit«, war Jakob Kadmus' verlegene Antwort. »Ich kann Ihren Wunsch unmöglich erfüllen. Der Justizminister legt Seiner Majestät das Todesurteil vor und kann eventuell die Begnadigung befürworten.« – »Ist dieser Minister nicht auch von Ihnen abhängig, Exzellenz? Sie sind doch der Präsident des Staatsrats? Eine gewöhnliche Begnadigung kann hier nichts nutzen. Wenn Grönvold lebenslänglich ins Zuchthaus kommt, wird er nie die Buße finden, die ich ihm wünsche.« – »Königliche Hoheit! Wünschen Sie denn, daß ein Hochverräter frei umhergeht? Ein Mann, der auf Ihren Gatten geschossen hat? Ein Anarchist, der auf den Sturz unserer Dynastie bedacht war?« – »Exzellenz werden wissen, daß ich es so nicht meine. Ich fordere den Staat nicht heraus. Der Staat mag Grönvold jahrelang die Freiheit nehmen, nach bürgerlichem Recht, aber er soll ihm auch die Hoffnung lassen –« – »Hoffnung gibt es nicht für einen Staatsverbrecher!« – »Kann man ihn nicht als einen Menschen betrachten, der sich an einem Menschen vergangen hat? Mein Mann lebt und wird gesund – man lasse auch den Attentäter der Gnade Gottes teilhaftig werden!« – Der Ministerpräsident erhob sich. Sein hageres Gesicht wurde grünlich – er stützte die weißen Fäuste krampfhaft auf den Tisch. »Ich darf Ihnen nichts versprechen, Königliche Hoheit! Es muß einmal gesagt werden – es handelt sich nicht um utopische Ideale, sondern um das monarchische Prinzip! Um das zu erhalten, werden wir schonungslos vorgehen! Und ich warne Sie, in unsere Schritte nochmals einzugreifen! Das Wohl des Staates macht vor keiner Person halt!« – Oda Marie starrte den Staatsmann an. »Jetzt weiß ich, was Sie gewollt haben, als Sie mit Arvid nach ›Deutsch-Freiland‹ kamen!« – »Nun, was denn, wenn ich fragen darf, Königliche Hoheit?« – »Sie wollten in eine deutsche Spielzeugschachtel greifen!« –

Oda Marie kehrte in das Schloß zurück. Sie blieb in ihrem Arbeitszimmer, Tag und Nacht. Niemand konnte zu ihr gelangen. Die erste völlige Ratlosigkeit kämpfte um ihre Seele. Am nächsten Vormittag flüsterte ihr die Baronesse Adams zu: »Königliche Hoheit … Fassen Sie [sich] doch, Königliche Hoheit! … Der Kronprinz steht im Vorzimmer und will durchaus herein!« – Oda Marie fuhr hoch. Bald trat Arvid ein. Er ging auf einen Krückstock gestützt, obwohl er schon fast so kräftig war wie zuvor. Sein verschleierter Blick richtete sich in glimmender Feindseligkeit auf Oda Marie. »Ich muß mir wohl selber helfen«, sagte er heiser. »Das seh' ich schon … Du hilfst mir immer auf die eigentümlichste Weise …« – »Was meinst du damit, Arvid? Wir wollen Gott danken, daß er dir geholfen hat. Jetzt handelt es sich –« – »Es handelt sich! Jawohl! Aber hier wird nicht mehr gehandelt!« – »Was ist dir denn? Bist du … Du bist wohl noch wirr von der Krankheit …« – Nun brüllte Arvid fassungslos: »Nein! Ich bin klar!! Ganz klar!! Ich weiß, daß du bei diesem Scheusal gewesen bist, bei diesem Verbrecher, der mich umbringen wollte! Du, meine Frau, meine zukünftige ›Königin‹! Die ganze Stadt, das ganze Land spricht davon! Es ist ein horrender Skandal! Diese schamlose Sache wird man dir nicht verzeihen!« – »Arvid!!« – »Leugnest du? Die Sörensen hat dich beobachtet! Ja, unsere gute Sörensen – die ist noch was wert! Du konspirierst mit einem Anarchisten! Das hätte ich nicht erwartet!« – »Auf solche Torheit kann ich dir wirklich nichts erwidern! Mäßige dich, Arvid, und erinnere dich, daß christlich an einem Unglücklichen gehandelt werden muß!« – »Christlich?! Das ist schon geschehen! Soeben hat der König das Todesurteil unterschrieben! Morgen früh werden die Nordstader sehen, wie es einem Königsmörder ergeht!« – »Das Urteil wird vollstreckt?« – »Ja, Oda Marie! Und du – laß dich warnen! Noch kannst du dich halten – an mir! Um unserer Kinder willen laß dich warnen! Daß du meiner sicher bist, schützt dich nicht vor dem König und vor dem Volk!«

Arvid ließ seine Frau allein. Sie starrte auf das Bild ihres Vaters – dann brach sie zusammen.


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