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Alexander Panadelphos wohnte am Weichbilde Nordstads, dort, wo die neuesten Häuser in die Ebene hinausrückten. Hinter sich wußte der Dichter hier die Stadt, die er trotzdem immer wieder aufsuchte, wenn seine Sehnsucht nach Gemeinsamkeit rief. In der Vorstadt konnte er billig leben. Er hatte sich der Familie eines Postschaffners angeschlossen. Der Mann war den Tag über im Dienst, die Frau kochte für ihren Zimmerherrn, und die Kinder hingen an ihm, wie an einem guten Onkel. Die Enge der kleinen Leute verband sich mit der Weite des Ausblicks zu einem Weltbilde, das Panadelphos brauchte. Sein gebrechlicher Körper befähigte ihn nicht, stundenlang zu wandern oder das Sportsleben des Nordstaders zu führen – zugleich aber hatte sein Geist die Adlerschwingen der Sehnsucht, die bis in Nordlands Sagenkreis hinaufgezogen war. Panadelphos liebte das kleine und das große Leben; das machte ihn zum Märchendichter. Der Heimatlose baute sich auf fester Erde sein Nirgendwo.
Nichts war draußen in der Vorstadt ungewöhnlicher als ein königlicher Diener aus dem Nordstader Schlosse. An einem hellen Herbstabend ereignete es sich, daß die Bewohner der Oda-Marie-Straße solchen stolzen Mann im blauen Frack daherkommen sahen. Viele Augen blickten ihm nach und überzeugten sich, welches Haus er beglückte. Nummer fünfzehn war es – dort wohnten, wie überall, zahlreiche kleine Leute. Zwei mutige Nachbarskinder schlüpften hinter dem Lakai die Treppe hinauf, und eine alte Frau, die sonst vor Neugier eines verfrühten Todes gestorben wäre, wackelte sogar mit in die Wohnung. Dem Diener schien es bei seinem Auftrag nicht geheuer zu sein. Aber er war ja ein Lakai der Kronprinzessin, in deren Befehl er seltsamerweise geschickt worden, und da brauchte er sich über sonderbare Aufträge nicht zu wundern. Schon die Adresse des Briefes: Herrn Alexander Panadelphos, Dichter, bei Herrn Postschaffner Mikkel Beer, Oda-Marie-Straße 15, im vierten Stock, war bezeichnend. Der Lakai schüttelte noch einmal sein geöltes Haupt, bevor er klingelte. Frau Beer, die ihm öffnete, hätte nicht erstaunter sein können, wenn ein prächtig gekleideter Chinese vor ihr gestanden. Dennoch legte sich ihre Verwirrung bald, als sie hörte, daß der Herr zu Alexander Panadelphos wollte. Der bekam ja die wunderlichsten Besuche.
Sie führte Oda Maries Boten zu dem Dichter. Alexander Panadelphos fuhr aus der Arbeit auf. Er schrieb soeben die erste Szene einer Tragödie, die in nordischem Sagengewand von Oda Marie handelte. Als er den Lakai der Kronprinzessin vor sich sah, verwirrten sich ihm Phantasie und Wirklichkeit. Er ließ in seiner Dichtung einen Intriganten vom Hofgesinde über die Fürstin sprechen. Da geschah es dem Dichter, daß er den harmlosen Lakai mit böser Miene empfing. Dieser sah vollends, daß sein Auftrag an einen Buckligen gerichtet war, und blickte indigniert in der armseligen Behausung umher. Er wollte seinen Augen nicht trauen – das Zimmer des Herrn Panadelphos war von Bildern der Kronprinzessin erfüllt. Sämtliche Photographien Oda Maries, sogar ihre Bilder auf Ansichtspostkarten waren vorhanden. An allen Wänden hingen sie, gerahmt oder mit Nägeln befestigt. Auf dem Schreibtisch stand eine besonders schöne Photographie, die nicht in Nordstad aufgenommen sein konnte – sie stammte wohl aus Deutschland und war ein Mädchenbild der Kronprinzessin. Der Diener bekam ein Polizeigefühl. Er glaubte eine gefährliche Entdeckung gemacht zu haben. Als er dann aber den kleinen Mann mit seinem Hungergesicht und seiner schwarzen Künstlermähne am Fenster stehen sah, vollkommen fassungslos in das Schriftstück starrend, kam ein mitleidiges Lächeln auf seine glatten Züge. Wer wußte, was das wieder für eine Laune der Frau Kronprinzessin war.
Panadelphos nahm sich zusammen. Eine respektgebietende Würde kam über ihn. Die feine Hand zitterte, als er den Brief auf den Schreibtisch legte, aber er sagte mit fester Stimme: »Ich spreche Ihrer Königlichen Hoheit meinen ehrerbietigsten Dank aus. Ich werde mich zur angegebenen Stunde einfinden.« Diese Antwort klang formell. Der Lakai verbeugte sich vor dem Dichter, als ob er zu einem Herrn der vierten Rangklasse gekommen wäre – dann verschwand er. –
Oda Marie saß schon eine Stunde in ihrem Zimmer, bevor der Dichter erscheinen konnte. Sie dachte auch jetzt nur an sein Werk. Sie wartete nicht auf seine Person, nicht in einem Sinne, der sie beunruhigt hätte. Arvids spöttische Bemerkung war ihr nicht haften geblieben. Den Diener hatte sie nicht gefragt. Aber sich selbst hatte sie unbewußt zu einem persönlichen Eindruck vorbereitet. Freier und gütiger als vor Arvid regte sich weibliche Eitelkeit in ihr. Ein loses, weißes Gewand aus wunderbar schmiegsamer Seide hatte sie angetan. Schwere, rote Rosen hingen wie glühende Sehnsucht an ihrem Gürtel. Unirdisch schimmerte ihre hohe Gestalt in den Dämmerfarben des kostbaren Frauengemaches.
So stand sie, als Alexander Panadelphos bei ihr eintrat. Er verzagte, als er die Wirklichkeit erblickte. Er konnte nicht weitergehen. Mit gesenktem Kopf, ein dunkler Zwerg, blieb er an der Tür. Da ging Oda Marie ihm entgegen. Daß er ein physisch Enterbter war, sah sie, aber die freudige Erwartung seines Geistes brachte sie nicht einmal zum Bedauern. Frei war ihr Blick auf ihn gerichtet. Sie gab ihm die Hand.
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Wir wollen uns dort ans Fenster setzen. Da ist mein liebster Platz.«
Er hörte ihre Stimme. Sie war ihm mehr als Orlandos, des Geigenkünstlers, Klänge. Er folgte ihr, als ob er seine Zwerghaftigkeit zurückließe. Doch als er ihr im Abendlicht gegenübersaß, konnte er sie nicht ansehen, denn sie betrachtete ihn jetzt.
»Sie sind Grieche, Herr Panadelphos?« – Er senkte den Blick. »Ja, Königliche Hoheit!« – »Leben Sie schon lange in Nordstad?« – »Drei Jahre. Ich kam aus Deutschland.« – »Wie ich.« – Nie vergaß er diese zwei Worte: »Wie ich« … Er sah sie an. Ihr schönes, lebensvolles Gesicht war leicht gerötet. Das Feuer ihrer dunklen Augen brannte mild. Sie ließ den Blick nicht von dem seinen, als fürchtete sie, auf seine Gestalt hinabzugleiten. – »So haben Sie also Ihre Heimat lange nicht gesehen? Ich kenne Ihre Heimat.« – »Waren Sie in Griechenland, Königliche Hoheit?« – »Ja, mit meinem Vater. Als wir von Palästina kamen. Stammen Sie aus Athen?« – »Aus Athen. Aber ich bin lange fort. Ich konnte kein ›Neugrieche‹ sein. Die Ideale, die man jetzt dort hat, gehen mich nichts an. Weder Kreta noch der Kampf gegen die Türken. Ich suche europäische Kultur. Deshalb lebte ich lange in Deutschland. In Berlin, in München und in Dresden … Aber Verzeihung, daß ich so viel von mir erzähle …« – Oda Marie lächelte. »Das soll ich Ihnen verzeihen? Das möchte ich gerade. Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich den Mann kennenlernen möchte, der ›Die gläubigen Augen‹ geschrieben hat. Bitte, sagen Sie mir alles! Waren Sie in Deutschland nicht gern? Kamen Sie hierher, weil Sie glaubten, daß Sie hier etwas fänden, was Ihnen Deutschland nicht geben konnte?« – »Es war ein unbestimmter Drang nach Norden, Königliche Hoheit. Ich liebe die nordische Sagenwelt.« – »Das versteh' ich. Aber ich weiß nicht – die Menschen sind hier alle so gegenwärtig – man ist doch mehr auf Altertümer angewiesen, wenn man ihre Größe sucht, als auf sie selbst?« – Panadelphos nickte und schwieg. – »Sie sagten, daß Sie kein ›Neugrieche‹ sein könnten. Gehören Sie denn nicht der Antike, Ihrer Antike, die so viel reicher ist als die nordische?« – Das blasse Gesicht des Dichters lächelte bitter. Nach einer Pause erwiderte er: »Es ist die Tragik meines Vaterlandes, Königliche Hoheit, daß wir Lebendigen uns vor den Toten nicht behaupten können. Wir sehen das Parthenon, diese ›Sehenswürdigkeit‹. Es weckt das Griechentum in unserer Kinderseele schon. Aber gerade, wenn es ein gewaltiges Erlebnis ist, müssen wir es von uns werfen. Der deutsche Reisende kommt und geht. Für ihn ist die Antike Bildung – für uns müßte sie Leben sein. Ich bin ein besonders mißlungener ›Hellene‹. Aber auch meine glücklicheren Freunde gaben das alte Spiel bald auf. Um sich nicht lächerlich zu machen, bekannten sie sich zu neuen Idealen. Doch diese Ideale haben das Format der Zeit. Es handelt sich mehr um Geschäfte als um Freiheit.«
Panadelphos schwieg. Oda Marie hatte, in seinen Augen lesend, zugehört. Dann blickte sie in den Abendhimmel hinaus und erwiderte: »Trotzdem glaube ich aus Ihrem Buche ersehen zu können, daß Ihre Flucht zur nordischen Sagenwelt nur ein Uebergang ist. Verzeihen Sie. Meine Bemerkung klingt vielleicht unbescheiden, aber sie kommt aus ehrlichem Interesse. Ihr Buch hat mich wunderbar berührt. Ich möchte sagen, es ist der erste heimatliche Ton, den ich hier gehört habe. Daß ich das nur zu Ihnen sage, ist selbstverständlich. Ich wollte es dem Dichter sagen. Wahrscheinlich erfahren Sie viel zu wenig von der Wirkung Ihres Buches?« – Panadelphos' kleine Gestalt sank noch tiefer in den Sessel. »Diese ist die höchste«, erwiderte er flüsternd. »Einer anderen bedarf es nicht.« – Sie errötete und sah auf ihre feinen, geschmückten Finger. »Lassen Sie mich das so verstehen, daß wirklich eine Verwandtschaft zwischen uns besteht! Das wäre mir eine große Freude. Da Sie gekommen sind – ich hatte nämlich doch ein bißchen Angst, daß Sie fortbleiben würden –, möchte ich jedenfalls verhindern, daß es nur eine flüchtige Begegnung wird. Ich kann Ihnen einen Vorschlag machen, der, glaub' ich, für beide Teile gut ist.«
Panadelphos sah die Wunderfarben des Traumes über die Wirklichkeit ziehen. Rächte sich das Leben jetzt an seiner Willkür, indem es selbst dichtete? Er war durch Spott und Niedrigkeit gegangen. An der Pforte des Himmels rüttelte er nicht. Aber das schöne Frauenbild vor ihm war ehrlich. Es lächelte ihm Trost zu. – »Mein Vorschlag, Herr Panadelphos, gründet sich darauf, daß ich nicht in Nordstad bleiben werde.« – Sie verließ ihn?! … Der Zwiespalt war da? Wohin wollte sie sich vor ihm flüchten? … Als ob sie seine stumme Frage verstanden hätte, antwortete Oda Marie: »Der Kronprinz schenkt mir ein Schloß in Nordland, am Fuße des Wallagebirges. Ich brauche Einsamkeit. Meine Kinder brauchen gute Luft und Freiheit – die Stadt ist Gift für sie. Aber das Schloß ist noch nicht vorhanden. Es wird jetzt von August Grünholm gebaut – vielleicht kennen Sie ihn?« – »Ich schätze ihn sehr.« – »Ja, ich glaube, er wird mir etwas Gutes bauen. Ich ziehe mich dann mit den Kindern ganz dorthin zurück. Mein Mann wird uns von Zeit zu Zeit besuchen. Da ich besondere Zukunftspläne habe, muß ich mich darauf vorbereiten. Ich will mir in der Einsamkeit eine umfassende Bildung geben. Bis jetzt ist alles Stückwerk. Wollen Sie mir dabei helfen, Herr Panadelphos?« – Er blickte sie mit rührend hilflosem Ausdruck an. »Fragen Sie doch lieber, Königliche Hoheit, ob ich es kann … Ich weiß ja nicht, wie? … Ich – Ihnen – helfen?« – »Sie haben mir schon geholfen. Von Ihrem Buche gehe ich aus. So frage ich Sie rund heraus: Würden Sie sich von Nordstad trennen? Würden Sie mit mir gehen, in mein Schloß, und mein Sekretär werden?« – Panadelphos starrte vor sich hin. – »Wenn mein Antrag unbescheiden ist, strafen Sie mich bitte nur durch ein kurzes Nein!« sagte Oda Marie nach einer Weile ängstlich. – Da drang ein Ton aus Panadelphos' Brust, der sie ergriff und zugleich erschreckte. Ein Nein war dieser wehe Seufzer nicht, aber er konnte ein Nein bedeuten. Jetzt hatte sie die Entscheidung in der Hand. Ihr unbeirrbarer Blick aber gab ihm Fassung. Tiefste Ergebenheit lag in seinem Ausdruck. »Königliche Hoheit, ich wage nicht, Ihnen zu danken. Ich will meinen Dank beweisen. Sie geben meinem Leben einen Sinn. Jetzt erst sehe ich, daß ich zwischen Tag und Nacht gelebt habe. Ein Arbeitstag soll noch für mich kommen. Er wird Ihnen gewidmet sein.« –
Uebers Jahr stand das Schloß in Nordland. In Panadelphos' Sagenlande stand es, am Fuße der Wallafelsen, die vielleicht einmal Walhalla getragen hatten. Durch den Wiesenhang, der sich sanft zur Tiefe hinabzog, floß ein Bach. Hier wurde ein mächtiger Zwerg von Göttern um seinen Schatz betrogen. Die Frauen und Kinder Nordlands glaubten an dergleichen noch. Die Männer blickten härter auf die Wirklichkeit. Sie schafften durch ihre Arbeit einen kurzen, sonnigen Tag. Die Bewohner der einsamen Höfe wunderten sich nicht sonderlich, als das Schloß der Kronprinzessin sich zwischen ihnen erhob. Der Schwiegertochter des Königs gehörte ja das Land – sie konnte dort errichten, was sie wollte. Als sie einzog, bereiteten ihr nur die paar Weltenbummler der Gegend einen Empfang. Der Pfarrer, ein streberischer Vogt und etliche Bauern, die ein Geschäft mit Oda Marie machen wollten. Aber man merkte ihr bald an, daß sie keinen Wert auf dergleichen legte.
Alexander Panadelphos ging unter dem Himmel seines Sagenlandes still und befangen umher. Er fühlte die Verantwortung, hier glücklich zu sein. Er diente seiner Fürstin, er lebte im Lande der Sehnsucht. Aber den Blick, den Oda Marie auf das weite, herrliche Bild hatte – der Dichter gewann ihn nicht. Wie seine Person, erschien ihm jetzt auch seine Kunst nichtig vor der Wirklichkeit. Oda Marie glaubte ihren Dichter genesen. Jeden Rückfall in die alte Melancholie wollte sie erklärt haben. Panadelphos fand eine Notlüge, die ihm schmerzlich wie die Wahrheit war. »Ich glaube, Ihre Kinder lieben mich nicht, Königliche Hoheit.« – »Wie kann das sein! Lassen Sie ihnen Zeit. Sie sind zu scheu, sie kannten bisher nur Hofmenschen. Es muß allmählich werden, daß sie ganz mit Ihnen zusammenhängen.« – Panadelphos schwieg. Auch in Wahrheit gingen ihm Oda Maries Kinder aus dem Wege. Sie fürchteten ihn nicht, weil ihre schöne Mutter so viel mit dem häßlichen Manne sprach. Aber seine Liebe wäre nur lebendig für sie geworden, hätte er ein einziges Mal mit ihnen gespielt. –
Im Frühling kam ein Besuch zu Oda Marie. Herzog Karl hatte sich aufgemacht, da sie nun nicht mehr in Nordstad wohnte. Jetzt scheute auch sie sich vor dem Wiedersehen nicht – der Vater wurde mit dem Jubel ihrer vereinsamten Seele empfangen. Gealtert fand sie ihn und stiller, nicht mehr so jünglingshaft wie einst. Seine Augen hingen an Oda Marie mit einer stummen Bitte. Tagelang wich sie diesem tiefgeliebten Blick aus – sie konnte ihn jetzt nicht brauchen. Dann schien der Vater einzusehen, daß seine Tochter anders geworden war. Eines Abends, als er mit ihr und Panadelphos auf dem Altan saß, der den schönsten Blick auf das Hochland bot, wurde sein Antlitz heller und friedlicher. Er sah auf die Wallafelsen, die das letzte Sonnenrot trugen, und strich sich mit der Hand über das alte Gesicht. Dann sagte er: »Du hast es wunderschön hier, Oda. Das ist mir eine große Beruhigung. Wir hatten uns zu Hause schon Sorge gemacht. Warum stehen Sie denn auf, Herr Panadelphos?«
Der Sekretär hatte geglaubt, sich unbemerkt zurückziehen zu können. »Verzeihung, Hoheit! Ich dachte, daß es ein Gespräch sei, bei dem meine Anwesenheit …« – »Nein, lieber Freund! Vor Ihnen haben wir keine Geheimnisse. Meine Tochter hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich möchte übrigens Ihr Buch mal lesen. Setzen Sie sich bitte wieder! Ihr studiert also zusammen? Ich habe schon gesehen – die reine Faustbibliothek. Philosophie, Juristerei, Medizin. Aber wohl keine Theologie? Oder ›leider‹ auch?« – Oda Marie lächelte. »Nein, Vater! Ueber diese Dinge lese ich keine Bücher.« – »Aber was ist denn das Ziel deines Studiums? Es sieht doch so aus, als ob es sich um ein bestimmtes Ziel handelte?« – Oda Marie warf einen Blick auf Panadelphos, der befangen vor sich hinsah. Dann erwiderte sie: »Gewiß, Vater! Als ich von dir kam, hatte ich eine gute Vorbereitung. Aber um die beste zu finden, mein ›Examen‹ zu bestehen, mußte ich noch einmal in die Einsamkeit zurück.« – »Du willst also nicht für immer hier oben bleiben? Wie lange denn?« – »Das ist ganz ungewiß, Vater.« – »Oda, Oda. Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, allein zu sein. Was sagt denn Arvid zu der Geschichte?« – »Er heißt sie gut, der Kinder wegen.« – »Nicht auch deinetwegen?« – »Dafür weiß er zu wenig, was ich hier oben suche, Vater.« – »Das klingt ja sehr geheimnisvoll. Du nanntest deinen Entschluß vorhin ein Examen? Herr Examinator – ich bin kein neugieriger Nachbar, sondern der Vater Ihres Zöglings. Können Sie mir etwas davon erzählen?«
Der Herzog fragte in seiner schönen Art, die innere Schwere verhüllte und doch durchblicken ließ. Panadelphos fühlte die Notwendigkeit zu antworten. »Hoheit, Sie haben ein Leben lang für Ihr Ideal gekämpft. Wer sind die Erben dieses Ideals? Ihre Kinder. Die Frau Kronprinzessin ist Ihre Erbin. Sie sieht die Dinge mit Ihren Augen, Hoheit. Sie kam in ein fremdes Land und sah seine Mißstände, an denen die Gewohnheit teilnahmslos vorübergeht. Sie verstand die Sprache des ererbten Elends, sie erkannte die Notbehelfe des konventionellen Mitleids: Sofort griff sie ein, aber sie scheiterte noch an der Gegenwart. Die Zukunft wird ihr gehören. Sie wird unsere Königin werden. Wenn sie erst Macht hat, kehrt sie nach Nordstad zurück.«
Der kleine Sekretär hatte in tiefer Bewegung gesprochen. Herzog Karl saß, den Kopf in die Hand gestützt. Er hatte aufmerksam zugehört, aber auf seinen Zügen lag trübe Rührung. »Hm … Das ist ja ein gewaltiges Programm, Oda. Du willst also mit der Axt in den Urwald gehen? Ja, Kind. An sich ist das freilich mein Erbe. Aber ich sehe auch den faulen Punkt, an dem ich selbst gescheitert bin.« – »Vater!« – Der Herzog schüttelte heftig den Kopf. »Doch, Oda! Hör' mal zu! Du hast mir wohl schon angemerkt, daß ich nicht gerade sieghaft gestimmt bin?« – »Aber in der Kolonie steht doch alles gut, Vater?« – »Ich bin allmählich zum ›Wohltäter‹ geworden und möchte was anderes sein. Ich habe keine Macht mehr über meine Leute, wenn sie sich bedankt haben und zur Tür hinausgehen.« – »Ist das möglich?« – »Bei manchen ist es möglich. Ich habe soeben einen Fall erlebt, der mir sehr schmerzlich ist. Grönvold ist fort.« – »Er wollte immer in seine Heimat zurück.« – »In seine Heimat, Kind. Wenn es nur das wäre. Grönvold hat sich bei mir rangiert, um in Nordstad zu seinen Quatschmeiern zurückzukehren.« – »Zu wem?« –»Nun, zu den Revolutionären oder Anarchisten oder was sie sonst sind. Anständige Menschen jedenfalls nicht. Ich weiß, daß Grönvold mit seinen paar Groschen, die er bei mir verdient hat, bedenkliche Subjekte unterstützt. Seine Frau hat es mir verzweifelt geschrieben.« – Oda Marie starrte vor sich hin. »Wie mag das nur zusammenhängen?« – Der Herzog stand auf. »Ich kann es dir nicht sagen, Kind. Ich weiß nur, daß die Wurzel tiefer liegt, als wir dachten. Man ringt als kleiner Mensch mit einem tausendjährigen Ungeheuer. Man ringt und unterliegt. Daran denke, Oda! Wenn du Kunst und Wissenschaft hinter dir läßt, bist du auch wieder ein kleiner Mensch. Und eine Frau! Nicht zu vergessen.« – »Auch eine Königin, Vater!« – Herzog Karl lachte leise und schmerzlich. Er blickte auf die Wallafelsen. »Ja, die Königin der Zukunft! Das ist ein schöner Gedanke! Ob wir den aber denken dürfen? Ich will dich nicht entmutigen, liebes Kind. Aber ich will dich vor Enttäuschungen bewahren. Zu deinem Besten rate ich dir: wirke zunächst als bescheidenes Beispiel! Als Frau und Mutter. Laß deinen Mann nicht allein! Bringe ihm die Kinder gesund zurück.«
Ein alter, liebevoller Mann hatte gesprochen – nun schwieg er, das große Kind. Wieder sah Oda Marie auf Alexander Panadelphos. Aber ihre ratlosen Augen begegneten seiner Ratlosigkeit. Plötzlich kamen die Kleinen auf den Altan hinaus. In dem brennenden Abendlicht standen sie wie blasse Hälmchen vor dem Großvater. Besonders Erik, der Thronerbe, war eine überwältigende Antwort auf seinen Rat. Er sah die Kinder lange an. Dann erhob er sich in der Fassung, die nur er hatte. Erst küßte er Erik, dann Marie Mathilde. –
Im Herbst kam Arvid wieder zu Oda Marie. Ein halbes Jahr hatte er darüber hingehen lassen. Diese Trennungszeit war zu einer ursachlosen Entfremdung geworden. Keiner hatte Beweise gegen den anderen. Doch Arvid wußte, daß Oda Marie sein Leben in Nordstad sah. Sie aber wußte, in welchem Verdacht er aus der Ferne Panadelphos betrachtete. Das Unsinnigste mußte ihm willkommene Wahrheit sein. Nordstad liebte ihn wieder, trotzdem oder weil er in Grimms Keller verkehrte. Er war jetzt ganz »Prinz Heinrich« geworden. Maurice Mosson war sein witzloser Falstaff. Jetzt durften die Anekdoten von des Kronprinzen Leben ungescheut kursieren. Trotzdem ging es Arvid schlechter als vor seiner Ehe. Die Mahnung »Oda Marie« saß in seinem Herzen. Schon lange durften die Freunde in Grimms Keller ungestraft über Arvids Frau und Panadelphos spotten. Des Dichters »Karriere« war das beliebteste Thema der nächtlichen Tafelrunde. Wirklich eifersüchtig konnte der Kronprinz nicht werden. Aber Ethel Night trieb es eines Nachts zu weit. Von einem Ausflug war die Rede, von einer gemeinsamen Reise vielleicht. Da schlug die Tänzerin vor, daß man in corpore Oda Maries Schloß besuchen solle. Wütend sprang Arvid auf. Er drohte mit seiner Reitpeitsche. Aber man ließ sich nicht mehr alles von ihm gefallen. Als man ihm vorwarf, daß er sich seiner Freunde schäme, rief der Kronprinz: »Gut! Den Verdacht sollt ihr nicht haben! Ich besuche meine Frau und nehme außer Löwenstern einen Abgesandten der ›Punschseelen‹ mit!« – Dieser Entschluß wurde mit Jubel aufgenommen. Die Wahl fiel auf Maurice Mosson. Nach wenigen Tagen schon reisten die drei Herren mit stattlichem Gefolge ab.
Als Oda Marie Arvids Telegramm erhielt, wirkte die Mahnung des Vaters in ihr nach. Sie hieß es gut, daß Arvid kam. Daß er den unvermeidlichen Löwenstern mitbrachte, schluckte sie auch hinunter. Aber die Anwesenheit des ihr völlig fremden Schauspielers war ihr unerträglich. Da Arvid schon unterwegs war, konnte sie nicht mehr protestieren. In ihrer Unruhe rief sie Panadelphos. Ihre Neuigkeit hatte eine erschreckende Wirkung auf den Sekretär. Als sie Maurice Mossons Besuch erwähnte, sah sie ihn bleich werden und mit halb beschämtem, halb wütendem Ausdruck sich der Bibliothek zuwenden. »Was ist Ihnen, lieber Freund?« – »Ich bitte, Königliche Hoheit – lassen Sie nicht Herrn Mosson kommen. Telegraphieren Sie noch dem Kronprinzen.« – »Das ist nicht mehr möglich. Mein Mann ist unterwegs, und ich weiß nicht, welchen Weg er genommen hat. Außerdem, wenn ich ihn zwänge, unterwegs einen Herrn seiner Begleitung heimzuschicken, käme er selbst nicht. Die Rücksicht muß ich auf ihn nehmen.« – Panadelphos starrte vor sich hin. »Herr Mosson ist in Ihrem Schlosse unmöglich.« – »Hat er so schlechte Manieren? Ich fühle ja auch im voraus, daß er eine Disharmonie ist. Aber ich habe ihm persönlich nichts vorzuwerfen.« – Als Panadelphos in schweigendem Kampf verharrte, fragte Oda Marie: »Sie kennen Herrn Mosson? Sie wissen überhaupt von seiner Beziehung zu meinem Manne mehr als ich?« – »Darüber bitte ich schweigen zu dürfen, Königliche Hoheit. Und zugleich bitte ich um die Erlaubnis, solange der Besuch anwesend ist, auf meinem Zimmer zu bleiben.« – Oda Marie erhob sich. »Herr Panadelphos, jetzt sind Sie zum erstenmal unaufrichtig. Das ist nicht der Ton, auf den wir unseren Verkehr gestimmt haben. Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, was ich wissen muß.« – Der Sekretär hielt in seiner Erregung krampfhaft Golos Halsband fest. Er würgte den Hund, aber das starke Tier ließ sich alles von ihm gefallen. Plötzlich stieß Panadelphos hervor: »Das ist seine Rache! Jetzt rächt er sich an mir! Er zieht mich vor Ihnen herab!« – »Mein Mann? Was heißt das?« – »Sie wissen, daß der Kronprinz wieder in Grimms Keller verkehrt?« – »Man hat es mir anonym geschrieben. Wahrscheinlich Frau Sörensens Kreaturen. Warum erwähnen Sie das? Wir wollen von anderen Dingen sprechen.« – »Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig! Auch ich war Mitglied dieser Tafelrunde!« – »Sie?!« – »Ich habe sie nie wieder aufgesucht, als Prinz Arvid wieder erschien! Als Prinz Arvid Ihr Gatte geworden war! Das hat ihn beleidigt!« – »Das? … Nun versteh' ich, was in ihm vorging, als ich ihm von Ihnen erzählte.« – »Ja! Aber er hoffte, daß Sie sich vor mir entsetzen würden! Sie haben ihn schwer enttäuscht!« – »Herr Panadelphos!« – »Er kennt Sie überhaupt nicht! In ihm ist nichts von Ihrer reinen, himmlischen Güte!« – »Sprechen Sie nicht weiter! Sie hassen meinen Mann!« – »Wenn mich das von Ihnen trennt, müssen Sie mich augenblicklich hinausjagen!« – »Sie bleiben in meinem Dienst! Ich verlange von Ihnen, daß Sie zugegen sind!« –
Als Arvid mit seinen Begleitern eingetroffen war, erschien auch Alexander Panadelphos zur Abendtafel. Mit undurchdringlicher Miene kam er – jede Aeußerung der Gäste glitt an ihm ab. Oda Marie wurde anfangs von der Situation übermannt. Sie glaubte an eine Katastrophe in der ersten Stunde schon. Doch Arvid war ein Meister des geselligen Verkehrs. Obwohl sein Wesen etwas Herabgekommenes hatte, zeigte er sich munter und geistreich. Seine Wiedersehensfreude im Kinderzimmer hatte echt gewirkt, und schmerzliche Eifersucht befiel Oda Marie, als sie die Freude der Kinder an ihrem Vater gesehen. Arvid zeigte sich auch bei Tisch von seiner glänzenden Seite. Oskar Löwenstern unterstützte ihn. Maurice Mosson aber war ein zu geschickter Schauspieler, um eine sympathische Wirkung seiner Person auf die Kronprinzessin zu versäumen. Er hielt sich würdevoll und spielte die Rolle eines ehrfürchtigen Vasallen. So kam es, daß Arvid und seine Freunde die Stimmung retteten, während Oda Marie und ihr Freund zu steinernen Gästen wurden. Aber so gleichmäßig Arvid auch seine Schmeicheleien verteilte – Panadelphos hielt an seinem Standpunkt fest. Er ließ den Kronprinzen unter sich. Oda Marie sah plötzlich, daß Arvid dem Dichter haßerfüllte Blicke zuwarf. Halb fühlte sie Angst, halb Genugtuung. Am meisten fürchtete sie, daß die Nordstader zu viel trinken und dann zum Angriff gegen Panadelphos übergehen würden. Sie vermittelte, solange es ging.
»Nun, Herr Dichter, was machen denn die Heldensagen?« fragte Arvid, als er schon halb betrunken war. »Schreiben Sie fleißig? Ich hörte, daß Sie sich in Nordstad auch praktisch auf die Sache vorbereitet haben? Sie haben bei Lind gefochten und bei Grubbe Bogenschießen gelernt. Das ist brav. Dann wissen Sie doch wenigstens, was Sie dichten!« – Während Graf Löwenstern und Maurice Mosson kicherten, schwieg Panadelphos. Oda Marie sah ihn bittend an. Nach einer Weile erwiderte er: »Königliche Hoheit sind falsch unterrichtet. Ich habe diese Uebungen meiner schwachen Gesundheit wegen unternommen.« – »So! Ihrer schwachen Gesundheit wegen! Na eben! Dafür werden Sie selbst bald ein edler Recke sein! Kein nordischer Sigurd oder Thorolf oder so was, sondern Achilles, Diomedes, Hektor! Oder nein! Was fällt mir ein! Sie sind ja der schlaue Odysseus, der vielgewandte!« – »Wenn mich Königliche Hoheit nur nicht für Thersites halten!« – »Aha! Sehr fein! Das tu' ich nur, wenn Sie mir Grund dazu geben! Wünschen Sie sich eine Thersites-Behandlung?« – »Ich wünsche mir nur die Heimkehr aus dem männermordenden Krieg.« Nach diesen Worten erhob sich Panadelphos, verneigte sich gegen Oda Marie und verließ das Speisezimmer. – Arvid stieg das Blut zu Kopf. »Was fällt dem Menschen ein? Steht von der Tafel auf, bevor ich das Zeichen gebe? Ist das dein Zeremoniell, Oda Marie?« Löwenstern und Mosson wollten sich ins Mittel legen, aber es war zu spät – auch die Kronprinzessin erhob sich. »Herr Panadelphos wollte nur Schlimmeres verhüten,« sagte sie mit zitternder Stimme. »Es ist ein Menschenrecht und seine Rücksicht auf mich. Ich muß es ihm leider nachtun und bitte dich, an meiner Stelle Wirt zu sein.« –
Lange blieb Oda Marie nicht allein. Plötzlich klopfte es heftig, und Arvid trat in ihr Zimmer. Sie sah die Zornader auf seiner Stirn – sie mußte sich kampfbereit halten. – »Dein Benehmen ist einfach unerhört – das möchte ich dir doch sagen! Du behandelst mich und meine Freunde wie Schuhputzer! Löwenstern und Mosson fordern Genugtuung! Zunächst werden wir morgen früh dieses gastliche Haus verlassen! Ich aber frage dich heute schon: Soll das so weitergehen, Oda Marie? Diese taktlose Taktik? Willst du hier total verbauern?« – »Ich wollt' es, da du ganz zum Nordstader geworden bist. Aber das Schloß ist mir seit heute abend verleidet. Ich habe einen anderen Entschluß gefaßt. Ich will mit meinem Sekretär reisen. Nach Italien, nach Griechenland vielleicht. Die Kinder geb' ich zu Gertrud Adlersfeld.« – »So! Das klingt ja höchst einfach! Alle Achtung! Eine Frau, die ihren Mann vernachlässigt, und eine Mutter, die ihre Kinder im Stich läßt! Um mit einem Dichter Vergnügungsreisen zu machen! Dein Teufelsschloß hat mich zwei Millionen Kronen gekostet! Daran schleppt meine Apanage!« – »Bewohn' es doch selbst! Du hast ja jetzt die richtige Luft hineingebracht!« – »Was?!«
Arvid verlor die Fassung. Er trat einen drohenden Schritt auf Oda Marie zu. Aber im nächsten Augenblick hatte sich Golo aufgebäumt und ihn am Aermel gepackt. Nur die feste Uniform verhütete eine Verwundung. Der Schrecken war trotzdem groß – in maßlosem Zorn zog Arvid einen Dolch aus dem Gürtel und hieb damit auf Golo ein. Das treue Tier fiel mit klaffenden Kopfwunden zurück. »Ich wehre mich gegen dein ganzes Gesindel!« brüllte Arvid. Dann ließ er Oda Marie bei ihrem sterbenden Golo.