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Zwölftes Kapitel.

Er zog dahin wie eine Blume fällt,
Bevor die Frucht sich aus dem Kelche löste.
Erlauchte Hoffnung starb – in ihm, in allen.
Doch tröste dich, du trauernd Nordlandvolk!
Die Krone treibt dir nicht aufs Meer hinaus!
Noch einen Sohn hat Nordstads Kapitän –
Der edle Bruder führt gesund das Steuer,
Das aus den Händen eines Kranken glitt!
Prinz Arvid erbte König Eriks Krone,
Und Deutschlands Tochter wird ihm Königin sein!

So dichtete um Weihnachten herum Herr Michael Kleinholz im »Generalanzeiger« der deutschen Hafenstadt. Am zwanzigsten Dezember war die Kunde aus Nordstad gekommen, daß Kronprinz Johann plötzlich auf seinem Bergschloß einem Herzschlag erlegen sei – am einundzwanzigsten brachte der »Generalanzeiger« schon das Poem. Michael Kleinholz dichtete schnell. Er hielt diese Verse für seine besten, weil sie der Volksstimmung im Norden ergreifenden Ausdruck verliehen. Herr Benjamin, der Chefredakteur, hatte freilich das Bedenken geäußert, König Erik könne es übelnehmen, daß in diesem Augenblick so entschieden nur von seinem Nachfolger die Rede sei. Aber es war ja zweifelhaft, ob König Erik den »Generalanzeiger« der Hafenstadt überhaupt zu sehen bekam. Jedenfalls sorgte Michael Kleinholz dafür, daß Kronprinz Arvid die Nummer erhielt. Arvid, der die meisten Kondolationen von Löwenstern lesen ließ, hatte das Pech, gerade diese Zeitung zu öffnen. Er erinnerte sich, daß derselbe Dichter ihn heimsuchte, dessen Huldigung einst Oda Marie nicht erheitern konnte. Erst hatte der deutsche Herr die Geburt besungen – nun den Tod. Wenn er so fortfuhr … Arvid ärgerte sich und beschloß, das Gedicht nicht wieder zu Oda Marie zu tragen.

Nordstad trauerte. Als es plötzlich Tatsache war, daß der wunderliche Johann nicht mehr lebte, zog doch ein leiser Schmerz durch die Gemüter. Man spürte die Tragik eines still verronnenen Lebens – man glaubte, daß man den feinen Einsiedler doch liebgehabt hatte. Besonders die hauptstädtische Dekadenz, die Johann immer gern für sich in Anspruch genommen, vergrößerte sein Bild. Er wäre ein Künstler auf dem Thron geworden. Nun erst sei es schlimm um das Land bestellt. Was man von Arvid zu erwarten habe, wisse man. Rührung erregte, was bei Lebzeiten Johanns nur Spott gefunden hätte.

Arvid war wieder seiner Nordstader Natur verfallen. Auch er schien, wie die Spaziergänger jenseits des Stromes, die offizielle Trauer bald hinter sich haben zu wollen. Die Welt hatte sich für ihn verschoben, aber nur innerhalb der Nordstader Anschauungsweise. Er kostete es aus, jetzt der interessanteste Mann des Landes zu sein. Er träumte von glänzenden Festen; es geschah ihm, daß er eine Huldigung, die aus Grimms Keller zu dem neuen Kronprinzen kam, sehr hübsch fand und Oskar Löwenstern vorlas.

Oda Marie sah ihm mit dumpfem Staunen nach. Sie spürte wieder die alte Flüchtigkeit seiner Besuche, die unruhige Hitze seines Wesens, das allen und keinem zu gehören schien. Sie war nur Schwere für ihn. Lange blieben ihre Gedanken bei ihrem Kinde. Aber die kleine Marie Mathilde war Arvids Erbin nicht. Die Mutter mußte sich einen anderen Bundesgenossen suchen. Da wandte sich ihr tiefer Wunsch zu Jakob Kadmus. Dieser Mann war Herr im Lande und glaubte in Arvids Epoche mindestens der erste Diener zu bleiben. Aber es war Oda Marie, die Jakob Kadmus oft begegnete, nicht möglich, mit ihm allein zu sein. Der Ministerpräsident mied die Kronprinzessin nicht – er begrüßte sie stets sehr herzlich und zeigte ihr bei jeder Gelegenheit seine besondere Verehrung. Auch konnte Oda Marie ihn nicht falsch nennen. Eher schien ihn eine innere Scheu ihr gegenüber zu beherrschen. Jetzt aber mußte sie ihn fangen. Sie hielt es für ihre Pflicht, mit Jakob Kadmus über Arvid zu sprechen.

Endlich gelang es, kurz nach der Beendigung der »tiefsten Hoftrauer«. Der Deutsche Kaiser war nach Nordstad gekommen, und zu seinen Ehren fand eine Reihe großer Festlichkeiten statt. Auf Kronprinz Arvid und seine junge Gattin fiel natürlich ein besonderer Glanz. Oda Marie ließ alles über sich ergehen, in der stillen Hoffnung, Jakob Kadmus zu begegnen. Erst am Abschiedsabend des kaiserlichen Gastes begegnete sie Jakob Kadmus im Wintergarten des Schlosses. Er sprach dort angeregt mit der Gräfin Löwenstern. Als die Kronprinzessin herantrat, wurde er sichtlich verlegen. Selma Löwenstern aber begriff instinktiv, daß dieser Augenblick Gelegenheit zu einem großen Dienst bot. Mit graziöser Harmlosigkeit verschwand sie. Oda Marie blieb mit Jakob Kadmus allein.

Nachdem sie einige Worte über die deutschen Gäste gewechselt hatten, ging die Kronprinzessin auf ihr Ziel los. »Ich habe jetzt oft an Sie gedacht, Exzellenz. Sie haben ja meinem Weg, der nach Nordstad führte, von Anfang an begleitet.« – Kadmus nickte lächelnd. »Ich sehe Königliche Hoheit noch vor mir, als Sie an Prinz Arvids Seite aus dem Wald von Udde ritten.« – »Da hatten wir uns eben tüchtig gezankt.« – Kadmus lachte. »Wahrhaftig? Aber um so schöner ist später die Harmonie geworden.« – Oda Marie blickte auf eine Bank, die unter einer Palmengruppe stand. Mit leichtem Erröten fragte sie: »Wollen wir uns nicht setzen, Exzellenz? Wenn Sie mir ein Viertelstündchen schenken wollten?« – »Königliche Hoheit sind zu gütig! Mir wird ein großer Wunsch erfüllt …!«

Sie setzten sich. Oda Marie sah eine Weile vor sich hin. Dann sagte sie, mit ihren bangen Augen zu Jakob Kadmus aufblickend: »Auch mir. Aufrichtig, Exzellenz. Ich glaube, Sie wissen, daß ich Phrasen nicht liebe. Ich fühle gewiß die Distanz zwischen uns. Sie sind ein Mann, den ich von Kindheit auf verehre, und ich bin eine junge Frau, die noch nichts geleistet hat. Bitte, Sie wollten etwas sagen?« – Jakob Kadmus betrachtete Oda Marie mit gerührter Sympathie. Dann sagte er zögernd: »Ich widerspreche lieber nicht, denn mein Widerspruch würde mich nur noch mehr beschämen.« – »Beschämen, Exzellenz? Was soll ich darauf antworten? Es treibt mich ganz offen und ehrlich zu Ihnen. Ich fühle die Pflicht, meinen Weg nicht ohne Sie zu gehen.« – Jakob Kadmus nickte. »Vielleicht war es meine Pflichtversäumnis …« – »Nein, Exzellenz. Sie brauchen doch nicht an mich zu denken. Ich will mich nicht überheben. Aber ich bin Arvids Frau. Ich bin die Frau, die Sie für ihn gewählt haben. Lassen Sie mich das offen aussprechen, Exzellenz. Wozu die Umschreibung? Ich weiß ja, wie in unseren Kreisen alles geschieht. Ich sehe ja auch mein Glück in Arvid.« – Jakob Kadmus schien eine innere Unruhe zu bekämpfen. Er blickte auf das preußische Großkreuz, das er heute erhalten, und antwortete: »Das ist die Hauptsache, Königliche Hoheit. Durch diese Zusicherung fühle ich meine bescheidenen Dienste vollständig belohnt.« Er schien das Gespräch hiermit abschließen zu wollen, aber Oda Marie hinderte ihn daran. »Sie kennen meinen Mann von Kindheit auf. Ich bitte Sie – jetzt ist ja plötzlich alles anders geworden. Ich wünsche meinem Schwiegervater ein hohes Alter. Aber Thronerbe sein – das legt sofort die ganze Verpflichtung auf. Das Volk blickt auf Arvid. Ich soll seine Gefährtin sein.« – Jakob Kadmus lächelte. »Nun ja, Königliche Hoheit. Gewiß. Zweifeln Sie etwa daran, daß das Volk in Ihnen das Ideal seiner Königin sieht?« – Oda Marie schüttelte den Köpf. »Wenn es wirklich so wäre – das klingt wie die Worte, die in den Zeitungen stehen. Verzeihen Sie, Exzellenz. Aber Sie verstehen alles – Sie werden jetzt wissen, daß ich etwas anderes hören möchte. Sprechen Sie anders mit mir. Ich möchte eine ganz törichte, unpolitische Frage an Sie stellen – aber sie kommt aus dem Herzen. Darf ich?« – »Fragen Sie, Königliche Hoheit …«

Oda Marie beugte sich vor, ihre zitternden Hände ineinandergedrückt. »Werden Sie später – wenn Gott Ihnen Gesundheit schenkt – auch Arvids Minister bleiben?« – Diese Frage schien Jakob Kadmus aus der Fassung zu bringen – er wiegte mit starrem Lächeln den Kopf. Oda Marie betrachtete ihn ängstlich: »Ich weiß ja, daß meine Frage vielleicht etwas Unmögliches ist – aber ich schwöre Ihnen Stillschweigen über alles, was Sie mir antworten werden!« – »Zu jedermann, Königliche Hoheit?« – »Zu jedermann! Auch zu Arvid!« – »Dann sage ich Ihnen, daß ich die Absicht habe, Minister zu bleiben. Wie weit es in der Absicht des Thronfolgers liegt, weiß ich natürlich nicht.« – »Halten Sie Arvid für stark genug, um etwas anderes überhaupt zu wollen? Ganz allein zu herrschen?« – Jakob Kadmus lächelte. »Jetzt haben Königliche Hoheit aber wirklich Ihre erste Diplomatenfrage gestellt.« – »Davon weiß ich nichts.« – »Um so weiter werden Sie es bringen.« – »Ich möchte aber diese Frage gern beantwortet haben.« – »Dann sage ich Ihnen, daß ich den Kronprinzen für einen hochbegabten Mann halte, aber er hat keine Königsenergie.« – Oda Marie senkte den Kopf. Sie war bleich geworden und dachte fiebernd über Kadmus' Antwort nach. »Verzeihen Sie mir.« sagte dieser mit etwas wärmerer Stimme. »Sie lieben Ihren Gatten. Hab' ich Ihnen weh getan?« – Oda Marie richtete sich auf: »Nein, nein! Ich danke Ihnen, Exzellenz! Ich weiß, daß diese Antwort Ihnen schwer geworden ist!« – »Sie ändert ja nichts an den Tatsachen. Daß ich Arvid für tüchtiger halte als Johann, werden Sie nicht bezweifeln. Ich glaube nicht an seine Königsenergie, aber an seine menschliche Güte, wenn Sie ihm zur Seite stehen.« – »Das hängt von mir ab?« – »Ich glaube, alles hängt von Ihnen ab.« – »Ich will aber die Königin eines Königs werden! Eines Königs, wie ich ihn empfinde!« – »Sie kommen aus Udde und befinden sich in Nordstad.« – Oda Marie stand auf. »Das also erscheint Ihnen als unüberwindlich?« – »Ich rechne nur mit Tatsachen. Aber Sie wissen, Königliche Hoheit, daß ich im vollen Bewußtsein meiner Verantwortung für Ihre Heirat gewesen bin.« – Oda Marie stand leicht gebückt und sah mit wirrem Blick umher. »Das soll mir Ruhe geben? Ich glaube, das wird mich sehr unruhig machen. Was erwartet man denn eigentlich von mir?« – »Nur das, was Sie sind.« – »Was bin ich?« – »Gesundheit, Redlichkeit, Güte. Sie haben Ihrem Gatten eine gesunde Tochter geschenkt. Sie werden ihm auch …« – Oda Marie schauderte plötzlich. Als Jakob Kadmus sie erschrocken ansah, erwiderte sie flüsternd: »Ach, sprechen Sie das nicht aus. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Es ist etwas, was nicht von mir abhängt. Ich darf doch auch mehr wollen? Ich suche doch mehr als das Recht einer Zucht? Was soll ich denn sagen, wenn ich da enttäusche?!« – Der Staatsmann war einen Schritt zurückgewichen. »Ich glaube, jetzt ist unser Gespräch zu Ende, Königliche Hoheit. Beruhigen Sie sich – ich bitte Sie. Die Majestäten verlassen den Thronsaal und kommen auf uns zu.« –

Als es Frühling wurde, fühlte Oda Marie sich unpäßlich. Zu dem körperlichen Zustande gesellte sich eine seelische Depression. Sie ließ niemand zu sich, sogar der Leibarzt konnte erst nach einer Woche zu ihr gelangen. Zugleich mit dem Kronprinzen erfuhr Bischof Jonas das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung. Er eilte damit zum König. »Es ist wahr, Majestät! Wir stehen vor einer zweiten Schwangerschaft!« – König Erik lachte über die bischöfliche Botschaft. Dann aber sagte er sorgenvoll: »Wenn es diesmal kein Prinz ist … Herrgott, Ich bin mißtrauisch gegen diese Oda Marie geworden!« – Bischof Jonas faltete die Hände: »Majestät werden der Frau Kronprinzessin hoffentlich nicht zutrauen, daß sie uns mit einer Schar von Mägdelein segnet!« – »Dann hätte Ich sie wohl nicht zur Schwiegertochter erwählt, Eminenz. Ich habe Mich auf Jakob Kadmus verlassen. Es wäre ja entsetzlich – so viele Opfer und Unannehmlichkeiten – eine Mesalliance, eine revolutionäre Strömung – und dafür nichts, gar nichts! Soviel weiß Ich – wenn es diesmal kein Junge ist, bin ich mit der Dame aus Udde fertig!« – Der Bischof versprach, für die Erfüllung des königlichen Wunsches zu beten.

Niemals hatte Dr. Pelle Kroß eine so schwierige Patientin gehabt. Die sonst so sanfte Kronprinzessin mißtraute jeder Rücksicht – man durfte sie keine Erwartung, keine Besorgnis merken lassen. Nur dem Frühling, der sich im Schloßpark entfaltete, wandte sie ihre Augen zu. Sehnsüchtig blickte sie auf das junge Grün, auf den Schimmer der Kirschblüten. Mit Ramberg, dem Hofgärtner, sprach sie jetzt am liebsten – er erschien ihr als der reinste Helfer werdender Geschöpfe. Sie ließ ihn oft zu sich kommen, und der verlegene alte Mann mußte ihr alle Fortschritte des Gartens erzählen. Eines Abends, als ein feierlicher violetter Schimmer ihr Gemach erfüllte, bat Oda Marie plötzlich die Baronesse Adams, den Kronprinzen zu rufen. Die Hofdame eilte mit dem willkommenen Auftrag fort – lange hatte die Kranke ihren Gatten nicht zu sehen gewünscht. Zum Glück befand sich Arvid im Schloß. Er kam. Als er an Oda Maries Lager trat, wurde sie von Schwäche befallen. Er setzte sich zu ihr. »Aber Kind – liebes Kind! Es wird ja auch diesmal alles gut werden! Pelle Kroß ist sehr zufrieden!« – Ihre dunklen Augen, die in dem abgemagerten Gesicht noch größer erschienen, richteten sich auf ihn. »Wirst du auch zufrieden sein – wenn das Kind nur gesund ist?« – »Nur gesund? Was meinst du damit, Oda Marie?« – »Du weißt doch, Arvid, alle erwarten von mir etwas, was sie für mehr halten als ein gesundes Kind. Einen Thronerben, Arvid.« – Er zuckte zusammen und errötete ärgerlich. »Aber ich bitte dich! – Läßt du dich wirklich von den Schleichern quälen? … Ich werde mal gehörig dazwischenfahren, wenn sie dich nicht in Ruhe lassen! Du bist die Hauptsache, und dann kommt erst das Kind! Ob's ein Junge oder ein Mädel ist – ganz egal!« – »Nein, Arvid, das Kind, was es auch sein mag, ist für mich die Hauptsache. Aber ich danke dir, du hast mich ruhiger gemacht. Wenn wir nur selbst wissen, was wir wollen.« – »Das weiß ich ganz genau, Oda Marie.« – »Was hältst du von Jakob Kadmus?« – »Jakob Kadmus? … Daß ich sehr wenig von ihm zu halten habe. Wie kommst du darauf?« – »Du kannst dir vorstellen, daß ich jetzt viel über ihn nachdenke. Vielleicht kommst du bald zur Regierung, und dann ist er dein Minister.« – »Das weiß ich noch nicht.« – »Willst du ohne ihn regieren?« – »Liebes Kind, das müssen wir wirklich abwarten. Bevormunden laß ich mich jedenfalls nicht.« – In Oda Maries Gesicht stieg leise Röte. »Es freut mich, daß du so stark bist. Jetzt gerade.« – »Das bin ich! Ich freue mich auf nichts mehr als auf die Zeit, wo ich regiere! Dann bist du meine schöne, kluge Königin, Oda Marie!« – Sie richtete sich auf und schlang die Arme um ihn. »Ach Arvid! Fühlst du das wirklich? Siehst du unsere Aufgabe? Auch meine? Nicht wahr? Auch meine! Ich will dir ja nur helfen! Ich lasse dir immer, was dir gehört, aber ich bin –!« – Er hielt sie lächelnd fest. »Ja, ja … du bist deines Vaters Tochter. Ich werde dir schon genug zu tun geben.« – Nach diesen Worten verließ er sie. Oda Marie blieb die halbe Nacht wach und dachte über seine Worte nach.

Die Zeit der Krisis wurde schwerer als das erstemal – Pelle Kroß hatte es befürchtet. Die Geburt war mit einer gefährlichen Operation verbunden; der Tod blieb lange am Lager der Wöchnerin. Endlich wich er. Das Leben aber, das er zurückließ, war ein Sohn. Stark setzte der Jubel im Nordstader Schlosse ein – er drang auch zu Oda Marie. Arvid, der halb toll vor Freude war, durfte ihr etwas davon bringen. Sonst aber konnte ihr niemand nahen – sie fürchtete sich auch jetzt vor den Menschen. Doch ihren geschärften Sinnen entging es nicht, daß der Jubel in Schloß und Stadt bald still wurde. Plötzlich durchfuhr sie ein schrecklicher Verdacht – aber das Kind lebte. Sie hörte es ja weinen, zaghaft, schmerzlich, wie aus einer alten Kehle. Sie wußte, daß ihr Sohn Erik heißen sollte, König Erik der Dritte einst. Warum war man so beklommen? Warum zeigte man ihr das Kind nicht? Sie konnte es nicht ernähren, aber sie erstarkte schon. Das Kind blieb in Linnen und Spitzen gehüllt – sie hatte nur sein gelbes, welkes Gesichtchen gesehen. Und Arvid kam so selten – Arvid, dessen Vaterglück von keinem ärztlichen Verbot zurückzuhalten war. Da bat sie die Amme; da versuchte auch sie es zum erstenmal mit Bestechung. Sie sollte ihr das Kind zeigen – niemand erfahre ja etwas davon, sie sei schon stark genug, um ihren Sohn in die Arme zu nehmen. Die Amme widerstand erst, dann fragte sie ihre Freundin Beata Sörensen. Sie fragte sie, ob man das Verbot umgehen dürfe, der armen, jungen Mutter zuliebe. Beata Sörensen sah eine Gelegenheit, sich an Oda Marie zu rächen. Sie redete der Amme zu, und die Kronprinzessin sah ihren Sohn. Er hatte untrügliche Zeichen der Vererbung an seinem elenden Körper.

Allmählich erst verstand Oda Marie, was sie da sah. Und nun verstand sie auch, warum der Jubel draußen still geworden. Ihr Sohn war nicht willkommener als ihre Tochter. Sie hatte abermals enttäuscht. Jetzt blieb Arvid unsichtbar. Es hieß, daß ein nervöser Anfall ihn gezwungen habe, auf einige Zeit nach Schottland zu reisen. Er wollte dort fischen und jagen. Er müsse sich von all seinen Aufregungen erholen …

Stumm und schwer, als ob sie eine eiserne Binde um die Stirn trüge, sah Oda Marie wieder ins Leben. Alles blieb so zufrieden und gleich, so leuchtend und blühend. Millionen Geschöpfe wirbelten in der Schaffensfreude des Frühlings. Dennoch lauerte ein ungeheurer Betrug dahinter – man mußte ihn erlebt haben, um ihn zu verstehen. Aber aus den furchtbar stillen Stunden, die ihr zuweilen den Revolver in die Hand drücken wollten, rettete sich die junge Mutter zu ihrem besseren Selbst. Von all der unbegreiflichen Härte blieb ihr ein tiefes Wissen übrig. Sie wußte, daß der kleinste Trümmer im Schiffbruch noch Rettung war. Und Tieferes erkannte sie: Ihre Liebe mußte den Erben ihres Irrtums helfen. Jetzt rüstete sich Oda Marie für die künftige Königin. Ihr Tag war in Stunden geteilt, da sie Mutter war, und da sie nach Büchern griff. Der kleine Erik war belastet, aber sein Körper blieb normal. Schön wirkten er und seine Schwester wie die idealen Kinder Arvids und Oda Maries – man konnte ihnen nicht ansehen, wie die Mutter sich um sie bangte. Oda Marie umgab ihre Kinder mit dem Edelsten, was die Sinne erziehen konnte. So hoffte sie dem lauernden Feinde zu begegnen. Sie selbst aber verstärkte nur in Einsamkeit. Sie trachtete aus Nordstad fort. Sie bat Arvid, als dieser endlich aus Schottland zurückkehrte, um die Erfüllung eines großen Wunsches. Arvid erfüllte ihn, froh, sie durch etwas erfreuen zu können. Auch Oda Marie wollte ihren Eigensitz erhalten. Nicht wie die Königin am Meer und nicht wie Johann in der Nähe Nordstads – Oda Marie wollte weit fortziehen, in das Hochland hinauf. Sie hatte ein Tal erwählt, das der Heimat Gertruds v. Adlersfeld benachbart war. Dort ließ sie sich ein Schloß bauen. Der junge Architekt konnte mit der Kronprinzessin, die mehr als ein Laie davon verstand, jede Einzelheit seines Planes besprechen.

Bis das Schloß erbaut war, hatte Oda Marie freilich Geduld zu üben. Doch es beruhigte sie, daß man sie fortließ. Arvid freilich wußte nicht, ob er aufatmen oder ihren Entschluß verhindern sollte. Grollende Pein erfüllte ihn. Er hätte ihr am liebsten Treulosigkeit vorgeworfen. Verließ sie jetzt nicht ihre Fahnen? Wußte sie nicht, was sie preisgab? Sie sollte seine Zukunft, sein Gewissen sein. Jetzt spielte er selbstgefällig mit ihrem Ideal. Er schob die Schuld auf sie, als er wieder der Vergangenheit verfiel. Kein Wort davon wagte er zu ihr selbst, aber sie fühlte seinen schwächlichen Vorwurf. Sie wußte, daß er sie zum erstenmal verstanden hatte.

Aber er mußte ihr noch einen zweiten Wunsch erfüllen; der wurde ihm schwerer als der erste. Fast wäre dieses Wunsches wegen der letzte leidenschaftliche Kampf ausgebrochen. Gering war der Anlaß. Oda Marie hatte geglaubt, mit einer ganz bescheidenen Bitte zu Arvid zu kommen. Eines Tages erhielt sie das Buch eines Dichters, das ihr gewidmet war. Es hieß »Die gläubigen Augen« und erzählte eine Sage aus Märchenland. Von einer jungen Königin handelte es, die in ein fremdes Land verbannt als Bettlerin leben mußte. Als Bettlerin gelangte sie erst zum Volke. Indem sie mit den Armen und Elenden lebte, hob sie sich empor und fand sich selbst. Die unwürdige Liebe eines Prinzen ihrer Heimat überwand sie und wurde von einem Lehrer des fremden Volkes geliebt. Dieser Lehrer aber starb als Aufwiegler unter Henkershand. Vor seinem Märtyrertode gehörte die Königin ihm noch und empfing sein Kind. – Oda Marie sah nicht ihr eigenes Schicksal in dieser Dichtung, aber sie fühlte, daß jede Zeile glühend zu ihr sprach. Der Mensch, der dies geschrieben hatte am anderen Ufer des Stromes – er durfte ihr nicht verborgen bleiben. Sie mußte ihn als Freund gewinnen. Er konnte ihr helfen vielleicht bei ihrer Arbeit am neuen Lebensglück.

Sie ging zu Arvid und erzählte ihm von dem Buch. Er hörte sie freundlich an und erwiderte, daß er es auch einmal lesen wolle. – »Es ist mehr als ein Buch«, fuhr Oda Marie mit zitternder Stimme fort. »Es ist ein Mensch, den man kennenlernen möchte. Ich sagte dir schon, daß ich einen Vorleser brauche. Einen feinen, gebildeten Mann, der mir zu einer systematischen Arbeit verhilft.« – Arvid lächelte. »Aha … Ich kann mir schon denken … Du willst den Dichter engagieren? Warum nicht? Wenn er dazu geeignet ist? Man muß ihn sich mal ansehen. Wie heißt er denn?« – »Ein merkwürdiger Name. Wohl ein Ausländer.« – »Woher?« – »Aus Griechenland, glaub' ich.« – »Aus Griechenland? …« – »Er heißt Alexander Panadelphos.« – Arvid fuhr zurück. Erschrocken sah Oda Marie, wie sein Gesicht sich mit Blut überzog, wie seine Augen starr und feindlich wurden. »Das geht nicht!« murmelte er. »Das ist leider ganz ausgeschlossen. Von dem Gedanken komme nur zurück, Oda Marie.« – »Warum?« – »Es geht nicht! Ist es schon so weit gekommen, daß ich jedes Wort zehnmal begründen muß?!« Er verlor die Fassung und rannte aus dem Zimmer.

Oda Marie stand vor einem Rätsel. Aber es wurde ihr bald zur Enthüllung. Arvid kannte Alexander Panadelphos. Jetzt war ihr Entschluß gefaßt; sie durfte den Menschen, der sie aus dem Dunkel angerufen hatte, nicht im Dunkel lassen. Als Oda Marie in schweren Gedanken durch die Schloßgalerie schritt, trat Arvid wieder zu ihr. Er schien seine Erregung niedergekämpft zu haben. Sein Gesicht war fahl und fest. »Verzeih meine Heftigkeit vorhin!« sagte er, ohne Oda Marie anzublicken. »Du wunderst dich gewiß darüber. Es war aber nichts als leidige Nervosität. Herr Panadelphos gehört zu der Nordstader Bohème, deren Lebensauffassung mir unausstehlich ist – mir persönlich – das sagt natürlich nichts gegen sein Talent und auch nichts gegen deinen Wunsch, ihn kennenzulernen. Du weißt ja selbst, was du zu tun hast. Also bitte – laß ihn kommen. Aus meiner Zustimmung wirst du ja ersehen, daß mir Herr Panadelphos vollständig gleichgültig ist. Wer weiß – wenn du ihn erst in Figura siehst, geht es dir ebenso.« Er neigte den Kopf und ging an ihr vorüber.

Oda Marie schrieb bald darauf dem Dichter einen Brief. Sie dankte ihm kurz und bat zu einer bestimmten Stunde um seinen Besuch. Als Arvid von der Sörensen erfahren hatte, wann Panadelphos vor seine Frau treten würde, schrieb er der Tafelrunde in Grimms Keller. Es war eine jähe Eingebung, die er selbst nicht begriff. Er wollte an demselben Tage, da Panadelphos bei Oda Marie war, unbedingt bei den »Punschseelen« erscheinen. Oskar Löwenstern sollte ihn begleiten. Aber der erschrockene Adjutant erklärte sich nur unter der Bedingung dazu bereit, daß seine Selma nichts erfuhr.


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