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Oda Marie merkte dem Fräulein von Adlersfeld an, daß es etwas auf dem Herzen hatte. Dieses herbe Geschöpf, das aus einer anderen Welt zu stammen schien, nannte man ihre Hofdame – Oda Marie hoffte immer wieder, eine Freundin in ihr zu finden. Doch die Verschlossenheit der Nordländerin war nicht zu brechen. Daß sie ihr trotzdem ergeben war, wußte die Prinzessin. Sie mußte, um zu ihrem Herzen zu gelangen, jede Frage indirekt stellen. Auf einer Spazierfahrt durch die Stadt fragte sie ihre Begleiterin: »Fahren Sie nicht gern, liebe Adlersfeld? Wir können ja zu Fuß ins Schloß zurückkehren.« – Fräulein v. Adlersfeld schloß ihren grünen Schirm, den sie gegen die stechende Aprilsonne aufgespannt hatte. Mit ihren etwas harten Augen blickte sie auf den betreßten Rücken des Kutschers. Dann erwiderte sie: »Das ist uns nicht erlaubt, Hoheit.« – »Ja, richtig … Aber Sie sind nervös. Sie fahren nicht gern an so vielen Menschen vorüber. Der Verkehr in Nordstad ist ja schrecklich. Ich fürchte auch immer, daß wir gegen ein Automobil fahren. Aber seien Sie froh, daß Sie nicht grüßen müssen – das ist noch anstrengender. Mich berührt jeder Gruß persönlich, und ich möchte keinen übersehen.« – Das Fräulein lächelte: »Das wird sich geben, Hoheit!« – »Wenn man mich nur weniger erkennen würde. Aber man grüßt natürlich die Livree.« »Doch nicht, Hoheit! Es ist begreiflich, daß die Leute sich freuen, Ihnen zu begegnen. Das Frühlingswetter hat Sie ja endlich aus dem Schloß gelockt.« – »Gott sei Dank! Ich wäre in den dumpfen Zimmern erstickt. Ich will jetzt jeden Tag spazieren fahren. Wenn man doch auch gehen könnte, wohin es einem beliebt.« – »Da ich Ihrer Majestät zu berichten habe, ist das leider unmöglich.« – »Wir sind zu bedauern, liebe Adlersfeld.«
Die Hofdame warf Oda Marie nach diesen Worten einen scheuen Blick zu. Es lag Mitleid und Bewunderung in dem Blick. Er hatte ihre ganze in den Wagen gelehnte Gestalt gestreift – den hellen Blumenhut, das zarte Gesicht, den schlanken Körper und die Spitzen der Schuhe. Fräulein von Adlersfeld verriet sich. Dann aber sagte sie mit zuckendem Munde: »Sind Hoheit eigentlich mit dem neuen Haushofmeister zufrieden?« – »Mit Herrn Vulp? Ich habe ihn mir noch nicht näher angesehen. Da ich meine Dienerschaft ja doch nicht selbst aussuchen darf, interessiert er mich nicht.« – Fräulein von Adlersfeld lächelte herb: »Ich wurde Ihrer Hoheit auch zugeschickt.« – Oda Marie fuhr auf: »Machen Sie mich nicht böse! Daß Sie eine Ausnahme machen, wissen Sie hoffentlich?« – Die Hofdame nickte: »Ja, Hoheit!« – »Eigentlich möchte ich nur Sie um mich haben. Und die kleine Sophie natürlich. Was soll ich mit sechs Leuten? Ich war ein einfaches Mädchen vom Lande, ich hatte überhaupt keine persönliche Bedienung.« – »Das fühlt Ihre Dienerschaft, Hoheit. Darum ist sie Ihnen so ergeben. Nur bei dem neuen Haushofmeister habe ich Zweifel.« – »Aus welchem Grunde?« – »Ich muß es Ihnen jetzt sagen, Hoheit: Ich habe Herrn Vulp gestern in intimer Unterhaltung mit Frau Sörensen gesehen.« – Oda Marie war zusammengezuckt; sie glaubte aber nicht, daß Fräulein von Adlersfeld es bemerkt hatte. Diese fuhr fort: »Ich kann Ihnen versichern, Hoheit, daß niemand aus Ihrer Umgebung sonst ein Wort mit Frau Sörensen wechselt.« – »Das ist mir auch lieber …« Oda Marie sah ihre Hofdame von der Seite an. Sie bemerkte, daß ein echter Zorn in ihr brannte. »Wann war denn das Gespräch, das Sie beobachtet haben?« – »Bald nachdem Ihre Hoheit von Frau Sörensen im Garten attackiert wurden.« – »Das wissen Sie auch?« – »Es ist ja meine Pflicht, den Aufenthalt Ihrer Hoheit nie außer acht zu lassen.« Oda Marie schwieg eine Weile und blickte starr auf die fremde Menge von Nordstad. Jetzt vergaß sie mehrere Grüße zu erwidern. Dann flüsterte sie: »Ich bin wie gefangen. Es ist schrecklich. Aber ich habe einen Wärter, der es gut mit mir meint.« Nach diesen Worten drückte sie ihrer Hofdame stark die Hand. –
Eines Morgens ließ der König Arvid zu sich rufen. Das hatte von jeher Unheil bedeutet. Nicht wie ein Sohn stand er vor seinem Vater, sondern wie ein gemaßregelter Höfling. Es war erschreckend, den sonst so heiteren Monarchen, dessen beste Porträte die billigen Oeldrucke in den Vorstadthäusern waren, wütend zu sehen. Er ging mit dunkelrotem Kopf vor Arvid auf und ab; seine Schritte hatten etwas Haltloses, das sonst so glatte, weiße Haar sträubte sich. »Hast du die Morgenblätter schon gelesen? Wahrscheinlich nicht! Du hast mir schon viele Sorgen bemacht, lieber Arvid – aber das habe ich dir doch nicht zugetraut.« Der König sprach von seiner Person stets in einer Weise, daß man die Selbstbezeichnung auch gesprochen mit großem Anfangsbuchstaben sah. Arvid wurde von schlimmer Ahnung befallen. »Darf ich wissen, Vater –« – »Ja, natürlich! Du mußt sogar! Hoffentlich kannst du die Sache noch niederschlagen! Es ist doch wohl richtig, daß du wieder in Grimms Keller verkehrst? In dieser entsetzlichen Spelunke? Das steht in den Blättern! Man hat dich wiederholt gesehen, und die Herren Journalisten haben eine höchst pikante Notiz daraus gemacht!« – Arvid stieß trotzig den Säbel auf den Boden. »Darf ich fragen, Vater, ob diese Notiz unterzeichnet ist? Vielleicht mit einem P? Ich vermute nämlich, daß ein schmutziger Literat der Verfasser ist! Den könnte man eventuell als lästigen Ausländer behandeln!« – Der König ging auf und ab. »Verschone mich mit Einzelheiten! Du gibst die Tatsache zu! Es ist schändlich, Arvid! Wie willst du das vor deiner Frau verantworten?« – Arvid lächelte ironisch. »Vater – ich bitte dich – sei nicht zu streng!« – »Ich bin streng! Ich muß streng sein! Jetzt haben die Sozialdemokraten neues Futter! Deine Heirat hatte gut gewirkt! Nun ist das auch vorbei. Es war ganz zwecklos, daß ich dir die Mallinerin gegeben habe! Diese überspannte Person ohne Geld, ohne Einfluß!« – Arvid tat einen Schritt zur Tür. »Vater, den Ton über Oda Marie …! Ich dachte, du ließest mich kommen, um mir ihretwegen Vorwürfe zu machen?« – »Ach was! Ich sehe jetzt ganz klar! Du willst die Schuld natürlich auf dich nehmen! Sie ist und bleibt aber keine Frau für dich! Das ist bei Hof die allgemeine Auffassung! Die Königin und die Kühlhorn-Wetterstein …« – Arvid stampfte mit dem Fuße auf. »Ihr versteht sie überhaupt nicht!« – »Der Bischof ist auch unserer Ansicht!« – »Ach, ihr wollt wohl, daß ich für unglücklich gelte, damit man mich nicht für niederträchtig hält?!« – Der König richtete sich in seiner dürren Größe auf. »Arvid, das ist unverschämt!« – »Ich lasse meine Frau nicht preisgeben! Ich weiß, wie schnell das bei euch geht! Ich trete für sie ein! Wird man etwas anderes von mir erwarten?!« – »Gewiß nicht, mein Junge! Aber dann handle auch gefälligst danach! Dann kämpfe gegen die Preßbanditen! Dann mache Schluß mit dem Nachtgesindel! Dann sorge vor allen Dingen für eine gesunde Nachkommenschaft!« –
Arvid verließ den König. Rachsucht und gute Vorsätze kämpften in ihm. Er wußte nur, daß er sich doch an Oda Marie halten mußte. – Seine zornige Reue trieb ihn zu Löwenstern. »Jetzt sitzen wir fest! Ich hab' es Ihnen ja gleich gesagt! Herr Panadelphos hat eine Preßhetze inszeniert!« Der Adjutant sah sehr niedergeschlagen aus. Etwas Besonderes mußte auf ihm lasten. »Panadelphos?« fragte er traurig. »Das ist ein Irrtum, Königliche Hoheit. Hinter der ganzen Affäre steckt die Sörensen. Ihre Politik ist jetzt, Sie und Ihre Frau auseinander zu bringen. Bei der Prinzessin ist sie abgeblitzt – nun hat sie es bei der öffentlichen Meinung versucht. Ein Skandal wird inszeniert, aber nicht zu Ihrem Schaden. Man soll nur wissen, daß Sie ein unglücklicher Ehemann sind. Hat der König nicht in demselben Sinn mit Ihnen gesprochen?« – »Ja gewiß, Löwenstern – aber woher wissen Sie das alles?« – »Ich habe soeben eine abscheuliche Szene mit meiner Frau gehabt. Sie wissen, daß ich mich sonst auf Selma verlassen kann. Aber seitdem die Prinzessin in Nordstad ist, hat sie sich vollständig verändert. Sie ist geradezu unglücklich verliebt in Ihre Frau, sie vergeht in Eifersucht auf die Adlersfeld, weil die in ihrer Nähe ist. So wird es hier allmählich vielen Weibern gehen. Oda Marie kommt ohne Intrige zu einer Partei.« – Arvid hatte staunend zugehört. Eine seltsame, stolze Freude kam auf seine Züge. Dann legte er dem geknickten Löwenstern die Hand auf die Schulter: »Ihre Frau hat recht. Ich habe immer etwas auf Ihre Frau gehalten. Sie hat Ihnen wohl Vorwürfe gemacht, weil Sie mich verführt haben? Ja, Oskar, Oda Marie hat Macht! Sie wird vielleicht noch die Stärkste hier! Glauben Sie denn, daß ich gegen meine Frau bin? Im Gegenteil! Es treibt mich zu ihr zurück! Nur daß ich jetzt offenkundig zu ihr gehen kann, das freut mich!« –
Nach einer Szene, die ihr unvergeßlich blieb, folgte Oda Marie ihrem Gatten in den Schloßhof und stieg in seinen Wagen. Es war ein leuchtender Maitag. Arvid liebte sonst gemeinsame Spazierfahrten nicht, heute aber wollte er mit Oda Marie zum Rennen fahren und abends die Oper besuchen. Er trug die scharlachrote Uniform seines Kürassierregiments, die mit ihren Goldschnüren jeden Blick auf sich lenkte. Oda Marie mußte auf seinen Wunsch ihre kostbarste Frühjahrstoilette anlegen. Er wachte aufgeregt darüber, daß alle Reize ihrer Erscheinung zur Geltung kamen. Das Volk in den Straßen, der Adel auf dem Rennplatz und abends die reichen Leute in der Oper sollten sich überzeugen, daß Arvid und Oda Marie harmonierten. Von dem Zeitungsskandal wußte die Prinzessin nichts – dennoch spürte sie, was um sie herum vorging. Als sie neben Arvid im Wagen saß, zog noch einmal sein plötzlicher Besuch an ihr vorüber. Er war in einer Verfassung eingetreten, die sie nie an ihm gesehen hatte. In einem Gemisch von Scham, Reue und Leidenschaft hatte er vor ihr gekniet und sie fast zu Boden gerissen. Sie konnte nicht verstehen, was er wollte – nur in erwachendem Erbarmen hatte sie zu allem ja gesagt. Die Versöhnung war gekommen. Was kümmerten Oda Marie nun noch alle Heimlichkeiten? Wenn Arvid sich wieder in ihre Macht gab, wollte sie ihre Macht beweisen.
So saß sie etwas matt, aber glücklich an seiner Seite. Von ihrem plötzlichen Erlebnis erfüllt, grüßte sie das Publikum zum erstenmal mechanisch. Dies beeinträchtigte aber ihre Wirkung nicht. Die Anmut der Prinzessin bezauberte wieder, wo sie sich zeigte. Heute hatte jedermann ein Bettlergefühl am Wege. Arvid aber blieb sich der Situation bewußt. In glücklicher Würde saß er neben seiner schönen Frau, und die edlen Pferde, die seinen Wagen zogen, schienen alle Teufel der Verleumdung niederzustampfen. Auf dem großen Königsplatz, von dem die Allee zur Rennwiese führte, stand auch der Dichter Panadelphos. Er stand hier immer an schönen Frühlingstagen, wenn die Eleganz von Nordstad zu ihren Sportereignissen hinausfuhr. Dann rettete er seine Gebrechlichkeit auf eine Insel und war unter dem mächtigen Kandelaber eine bekannte Zuschauergestalt. Als der prinzliche Wagen an ihm vorüberrollte, hob sich Panadelphos auf die Zehen – so konnte er das Paar besser betrachten. Oda Marie bemerkte den kleinen Dichter nicht, aber Arvid sah ihn. Er freute sich, daß auch Panadelphos Zeuge dieser Fahrt war. Im Innersten war es ihm sogar der liebste Triumph des Tages. Aber er gestand es sich nicht ein und überredete seinen Groll, daß jeder Buchmacher auf dem Rennplatz wichtiger war als der armselige Grieche. –
Ohne Aussprache, nur von ihrem guten Willen getragen, lebten Arvid und Oda Marie nun miteinander. Diese plötzliche Wendung zeigte auch ihren Einfluß auf den Hof. Oda Marie hatte unbewußt einen Sieg davongetragen. Was sich heimlich gegen sie emporgereckt, zog die Krallen zurück. Zum erstenmal schien man es im Nordstader Schlosse mit einem Menschenkinde ehrlich zu meinen. Die Königin suchte dem König an Arvids Beispiel zu beweisen, wie ein Ehemann durch den Einfluß seiner Frau geläutert werden konnte. Die Gräfin Kühlhorn-Wetterstein schloß sich Ihrer Majestät an und registrierte eine neue »Stellung« der Prinzessin.
Zu Arvids Heil kam der Sommer. Die Lockungen Nordstads verstummten. Er hatte aber auch aus eigener Kraft Grimms Keller gemieden. Sünlund nahm keine anonymen Geschenke mehr an. Der Prinz brüskierte Maurice Mosson und Asta Karlsson auf dem Erikskorso, indem er ihre Grüße ignorierte. Als es Juli wurde, beschloß Arvid, mit Oda Marie in ein großes Seebad zu reisen. Es galt, sich auch dort gemeinsam zu zeigen. Ein Landhaus auf einer Dünenhöhe, mit weitem Ausblick über die See, wurde gemietet. Gertrud von Adlersfeld, der Arvid jetzt auch manche Aufmerksamkeit erwies, begleitete Oda Marie. Vergebens hatte Selma Löwenstern versucht, in das Gefolge der Prinzessin zu gelangen. Oda Marie konnte keine Neigung zu dieser vom Leben verdorbenen Frau finden. Ihren Gatten hatte Arvid auf seine Güter im Westen geschickt. Dort sollte der Graf inspizieren, Elche schießen und im idyllischen Landleben zu einem besseren Menschen werden. Die arme Selma fuhr nach London und tröstete sich in der Season.
Am Meere blieb Arvid seinen guten Vorsätzen treu. Er widmete den größten Teil des Tages Oda Marie – sonst befand er sich in einer Gesellschaft, die sie kannte. Besonders dankbar war ihr Arvid, daß sie nicht darauf bestanden hatte, in diesem Sommer schon ihre Eltern zu besuchen. Er verstand freilich ihren innersten Beweggrund nicht. Oda Marie wurde von unruhiger Scham gepackt, sobald sie an Udde dachte. Eine Begegnung mit dem Vater wollte sie hinausschieben. Sie hatte ja noch nichts von seiner Lehre in die neue Heimat getragen. Doch vor dem ungeheuren Widerstande durfte sie sich auch sagen, daß Udde nicht die rechte Schule gewesen war. Ihr Vater war ein Einsiedler, und in ihre Seele hatte er Einsiedlerglück gelegt. Der erste Zusammenstoß mit dem Leben mußte sie an sich selbst irremachen.
In einer Nacht wurde Oda Marie von seliger Angst ergriffen. Wallungen folterten ihr Herz, sie fühlte sich krank und doch gesünder als je. Sie mußte nach Hilfe rufen. Der Leibarzt kam. Er klärte das Leiden als ein großes Glück auf. Oda Marie wurde Mutter.
Oda Marie blieb kränklich. Doch wie elend sie auch aussah, glücklich war ihr Inneres. Sie blickte über das Meeresschwanken in ein festes Land. Aber ein harter Schlag wurde ihr jetzt gerade zuteil – Gertrud von Adlersfeld mußte sie verlassen. Ein Telegramm hatte ihr gemeldet, daß ihr Vater im Sterben lag – sie konnte nicht länger bei Oda Marie bleiben. Da kam ein schwerer Abschied. Oda Marie verlor den ersten Menschen, den sie in Nordstad gefunden hatte. Als sie ihr liebes Fräulein küßte, fühlte sie, daß sie Freundinnen geworden waren. –
Die Wandlung ihres inneren Lebens wurde das erste Heimischwerden in der Fremde. Ihr Frauengemach war eine Welt für sich. Arvid sah jeden Tag nach Oda Marie. Am Fenster traf er sie nun nicht mehr. Es war, als ob ihre Augen abgelenkt wären. Oda Marie wünschte sich einen Sohn. Das einzige, womit ihre Umgebung noch störend an sie herantrat, war, daß man sie in diesem Wunsche bestärkte. Oda Marie wollte ihn allein haben. Fremde Erwartungen schienen ihr den Schleier der Schöpfung anzugreifen. Man »rechnete« wieder in aller Güte mit ihr. Sie sollte den Thronerben bringen. Oft wurde Oda Marie schroff, wenn ihre Schwangerschaft von beifälligen Blicken getroffen wurde. Gräfin Kühlhorn-Wetterstein verschleierte solche Blicke nicht – sogar Frau Sörensen und Kaplan Schönwetter wagten sie ihr zuzuwerfen.
Bald schwand der schöne Herbst – es wurde rauh und kalt, man mußte im Zimmer bleiben. Der Arzt der Prinzessin war Doktor Pelle Kroß, ein beweglicher Mann von glatten Formen. Oda Marie hatte sich anfangs gegen ihn gesträubt. Aber Doktor Pelle Kroß hatte den Ruf des bedeutendsten Gynäkologen von Nordstad. Arvid bestand auf seiner Hilfe.
Im Winter begann die schwere Zeit. Große Schmerzen kamen. Oda Marie litt, aber es blieb ihr von Anfang an Ueberlegenheit in ihren Leiden. Sie prüfte gleichsam, was denn große Schmerzen waren. Am eigenen Leibe lernte sie freudige Duldung. Endlich fehlte jeder falsche Glanz – endlich fühlte sie sich als Schwester all der leidenden Frauen draußen. An einem Vorfrühlingstage kam ihr Kind zur Welt. Ein hübsches, hellblondes Nordlandskind – ein Mädchen. Oda Marie sah es mit namenloser Freude. Sie dachte nicht mehr daran, daß sie sich einen Knaben gewünscht hatte. Jetzt war ihr dieses Kind ihr Lebens-, ihr Thronerbe. Auch Arvid ließ sich keine Enttäuschung anmerken. In seiner stürmischen Freude waltete freilich die Befreiung vor, Oda Marie nun nicht mehr in Not zu sehen. Er offenbarte seine Liebe zu ihr, nicht zu dem Kinde. Noch weniger Interesse zeigten seine Angehörigen für das Mädchen. Schon bei der Taufe spürte Oda Marie die Enttäuschung, die sie bereitet hatte. Plötzlich blieben die beifälligen Blicke aus. Man nahm ihre rasche Genesung als etwas Selbstverständliches hin. Die kleine Marie Mathilde aber trug man gleichgültig in das Register der Prinzessinnen ein. Für einen Prinzen hätte man Kanonen aufgefahren. Bischof Jonas hätte die Glocken Nordstads läuten lassen. Er lächelte zwar gütig, als er Arvid gratulierte, verhehlte aber seine wahre Meinung nicht: »Er kann ja noch kommen, Königliche Hoheit.«
Oda Marie wandte sich ab. Sie liebte ihr Kind und freute sich an der Freude ihrer Mütter, die nun doch nach Nordstad kam. Vom Vater brachte sie ihr einen Brief – weinend sah Oda Marie darin sein ganzes Bild. Wie tief war sie ihm doch verwandt. Sie antwortete ihm aus ihrer gefestigten Mutterseele.
Ueberraschend kam der Glückwunsch Jakob Kadmus' zu der jungen Frau: Der Ministerpräsident hatte sich persönlich bei ihr melden lassen und sprach mit einer menschlichen Wärme, die sie nie in ihm vermutet hatte. Sie gewann ihn letzt lieb und glaubte einen ehrlichen Freund in ihm gefunden zu haben. Als Jakob Kadmus die Zimmer der Prinzessin verließ, kam er an Graf Löwenstern und Kaplan Schönwetter vorüber. Den beiden fiel seine weiche, befriedigte Miene auf. Als er aus Hörweite war, meinte Löwenstern: »Dieser Besuch war Politik, Herr Kaplan.« – »Ohne Zweifel, Herr Graf. Das Prinzeßchen ist für den Herrn Heiratsvermittler eine Blamage, aber er gibt sie nicht zu und tut das Klügste: er demonstriert seine menschliche Teilnahme und spart die politische für einen Prinzen auf.« –
Bald nach Jakob Kadmus erschien Arvid bei Oda Marie. Er lachte über das ganze Gesicht – dann warf er ein Bündel Briefe auf den Tisch. »Lauter Gratulationen, Kind! So viel sind heute noch gekommen! Da sieht man wieder, wie beliebt du bist! Sich in die Liste einzutragen genügt den Leuten nicht! Aber ein Skriptum ist darunter – das muß ich dir doch gleich mal vorlesen! Ein Gedicht, Oda Marie! Du liebst doch Gedichte?« – »Wenn sie gut sind, Arvid. Sonst ist mir Prosa lieber. Von wem ist es? Woher kommt es?« – »Hör' nur! Es kommt aus der deutschen Hafenstadt, wo wir beide nach Nordstad abgefahren sind! Der Dichter heißt Michael Kleinholz. Ein schöner Name!«
Arvid deklamierte:
O Tochter du aus deutschen Landen,
Erhabne Fürstin, sei gegrüßt!
Wir ließen dich aus unseren Banden,
Damit du fern dein Glück genießt!
Ja, du bist glücklich hoch im Norden –
Die Kunde kam, die wir ersehnt!
Oda Marie ist Mutter worden,
Der Fürstin Haupt wird noch verschönt!
Die hohe Tochter sei willkommen!
Doch wir vereinen das Gebet
Mit Nordlands Königshaus, dem frommen,
Das bald dir auch den Sohn erfleht!
Bei den letzten Versen stockte Arvid. Er wurde rot und stotterte ärgerlich: »Das ist ja eigentlich dumm – das ist unverschämt. Die letzten Verse hatt' ich mir gar nicht angesehen. Was sagst du zu der Poesie? Sie ist ja gut gemeint, aber dichtet man bei euch zulande nicht besser?« – Oda Marie war an die Wiege ihres Kindes getreten. Sie stand abgewandt und Arvid konnte ihr Gesicht nicht sehen: »Es ist ein Gedicht für die Zeitungsleser, Arvid. Ich werde mit der ›guten Meinung‹ der Masse nicht fertig.« – »Aber nimm doch Herrn Michael Kleinholz um Gottes willen nicht schwer, Oda Marie! Sonst hätt' ich dir das Zeug wahrhaftig nicht vorgelesen! Ich wollte dich damit amüsieren!« – Jetzt sah sie ihn an. Ihre Wangen waren gerötet, sie hatte Tränen in den Augen. »Gewiß … Ich lache ja auch darüber … Mein Gott, das komische Pathos! Die hohe Tochter sei willkommen!« Sie beugte sich über die Wiege. »Bist du meine hohe Tochter? Ja? Sei nur meine Tochter – das ist die Hauptsache!«