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Der Bahnhof der Hafenstadt war dem Landungsplatze benachbart. Aus der offenen Halle sah man auf das Meer hinaus, das aus schwankender Ferne Menschen auf festen Boden setzte. Frisch durchweht, in seefester Behaglichkeit oder als Opfer rebellischer Mägen kamen sie direkt vom Wasser die Bahnhofstreppe herauf. Oben wanderten sie vor dem fahrbereiten Zuge auf und ab, mit der Wartezeit rechnend, die ihnen der Bahnanschluß ließ. Von Nordland kamen alle diese Reisenden und verteilten sich im Deutschen Reich. Man sah ihre blonden, rotwangigen Typen jeden Tag. Kaufleute meist – die individueller gefärbten Vergnügungsreisenden nahmen einen anderen Weg auf den Kontinent. Um so mehr fielen in dem gleichartigen Getriebe ungewöhnliche Erscheinungen auf. Der gewissenhafteste Statistiker dieser Landungs- und Abfahrtzeit war Herr Michael Kleinholz, gerichtlicher Bücherrevisor seines Zeichens, aber auch als Gelegenheitsdichter für Festlichkeiten bekannt. Er hatte viele Mußestunden und ernannte sich selbst zur privaten Behörde der Stadt. Wenn das Nebelhorn den nordischen Dampfer ankündigte, stand Herr Kleinholz schon auf der Mole, ernst und gespannt, neben den Zollbeamten. Er betrachtete alle Ankommenden genau und folgte ihnen zum Bahnhof hinauf. Eifrig notierte sich sein Gedächtnis die Kategorie, zu der ein jeder gehörte.
Herr Kleinholz war konservativer Demokrat. Der Maßstab seines Urteils blieb trotz aller Auflehnung Rang und Erfolg. Witterte er aber gar Hofluft, so rötete sich sein spitzes Gesicht und die knochigen Finger griffen nach der Hutkrempe. Er kannte die Stammbäume der meisten Dynastien, und in der Zeitung las er den Hofbericht früher als die Familiennachrichten. Freilich, fern von der Hauptstadt wurde sein treues Untertanenherz nur wenig belohnt. Der eigene, wunderliche Landesvater konnte Herrn Kleinholz' Phantasie nicht befriedigen. So suchte er denn im Weltverkehr nach geheimnisvollen »Inkognitos«. Heute, an einem heißen Julivormittag, kam es ihm zum ersten Male so vor, als ob er eines gelüftet hätte. Gebannt ruhte sein Blick auf drei Herren, die schon durch die Art, in der sie das Dampfschiff verlassen, eine Absonderung von den übrigen Reisenden bekundet hatten. Ein Diener, der ihnen über die Landungsbrücke gefolgt war, hatte die Billette für sie abgegeben. Dabei war es kein gewöhnlicher Lakai, sondern ein sehr würdiger und selbstbewußter Mann in dunklem, feierlichem Zivilanzug. Das Gepäck wurde nicht von dem offenbar dafür zu hoch gestellten Reisemarschall besorgt, sondern von zwei jüngeren Männern, die ungefähr wie Forstgehilfen aussahen. Von den übrigen Reisenden abgesondert, wanderten sie umher. Kleinholz näherte sich ihnen. Es war ihm schon an der Landungsbrücke aufgefallen, daß der Jüngste stets voranschritt. In dem halben Meter, den die anderen zurückblieben, lag Devotion. Dieser hochgewachsene, etwa dreißigjährige Mann war also der Vornehmste aller Vornehmen. Kleinholz sagte sich, daß er dies ohne weiteres hätte annehmen können. Der junge Mann hatte etwas unbedingt Majestätisches. Weder Orden noch äußere Abzeichen trug der edle Reisende, sondern einen knappen, englischen Reiseanzug, ein graues Hütchen und in der Hand einen Spazierstock mit goldener Krücke. Die beiden anderen Herren waren ähnlich, nur nicht mit jener letzten Delikatesse gekleidet. Der eine, in des Vornehmsten Alter, ein ungenierter Lebemann, trotz der Distanz – der andere ein dürrer Fünfziger mit grundgescheiten Diplomatenzügen.
Herrn Kleinholz pochte das Herz. Angestrengt dachte er nach, ob er nicht schon das Bild des Vornehmsten in den zahlreichen illustrierten Blättern gesehen hatte, die er abends im Café Neumeyer las. Schon glaubte er auf der richtigen Spur zu sein, als sein Blick auf Herrn Stubenrauch, den Stationsvorsteher, fiel. Die Haltung des Beamten bestätigte ihm, daß etwas ganz Hohes unerkannt auf dem Bahnhof umherwanderte. Herr Stubenrauch verhielt sich zwar harmlos. Er beaufsichtigte mit der gewohnten Sachlichkeit die Abfahrt des Schnellzuges. Doch plötzlich warf er auch aufgeregte Seitenblicke zu den drei Herren hinüber. Immer wieder geschah dies, und die Unnahbarkeit der Fremden schien der Stationsvorsteher betonen zu wollen. Wunderlich war auch sein Betragen Kleinholz gegenüber. Sie trafen sich jeden Abend am Stammtisch und begrüßten sich auch bei Tage als gute Freunde. Heute aber lag etwas Kaltes und Zurückweisendes in Stubenrauchs Blick. Er ließ Kleinholz nicht an sich herankommen. Als dieser ihn grüßte, dankte er kurz. Jetzt trat der Reisemarschall auf den Beamten zu – sie flüsterten miteinander, und Herr Stubenrauch öffnete eifrig ein Coupé erster Klasse; es trug die Aufschrift »Reserviert«. Nun konnte Kleinholz es nicht mehr aushalten. Schon zeigte die Uhr eine Minute vor Abgang des Zuges – die Fremden näherten sich dem Coupé. »Guten Morgen! Hoher Besuch, Herr Vorsteher?« Mit dieser kecken Frage trat Michael Kleinholz an den Beamten heran. Der zog die Augenbrauen hoch und antwortete nicht. Dann, als die Fremden eingestiegen waren, hob er die Hand – die Zugführerpfeife ertönte. Während die Räder ins Rollen kamen, versagte Herr Stubenrauch es sich nicht, stramm zu stehen und ehrfurchtsvoll zu grüßen. Kleinholz nahm unwillkürlich den Hut vom kahlen Kopf. »Wer denn? Wer?« fragte er flehentlich. Der vornehmste Reisende stand am Fenster und grüßte lachend wieder. Sein jüngerer Begleiter hatte offenbar soeben eine witzige Bemerkung über Herrn Kleinholz gemacht. Als der Zug davonrollte, wurde der Stationsvorsteher wieder menschlich. Er gab seinem schlecht behandelten Stammtischfreunde die Hand. »Prinz Arvid«, sagte er halblaut. – »Von … ?! Und die beiden anderen?« – »Ministerpräsident v. Kadmus und Adjutant Löwenstern.« – Kleinholz bebte. Er hätte am liebsten nachträglich Hoch gerufen. »Wohin fahren sie denn?« fragte er, um Vertrauen bittend. – »Nach Udde. Aber erzählen Sie es bitte nicht Herrn Benjamin – der bringt es sonst sofort in den ›Generalanzeiger‹.« – Kleinholz' Miene zeigte sich enttäuscht. »Nach Udde? Zu unserem Alten also?« – »Zu Seiner Hoheit Herrn Herzog Karl – jawohl. Die Frau Herzogin ist ja Prinz Arvids Tante, wie Sie sich erinnern werden.« – »Gewiß, gewiß! Also eine Familienangelegenheit? Aber der Ministerpräsident, Herr Vorsteher?« – »Exzellenz Kadmus fährt meines Wissens morgen früh schon nach Berlin weiter.« – »In politischer Mission wahrscheinlich?« – »Darüber kann ich Ihnen nichts sagen.« – »Aber morgen erst? Herr Vorsteher, Herr Vorsteher – ich reime mir manches zusammen!« – Herr Stubenrauch winkte einem Unterbeamten, daß er gleich zu ihm hinüberkäme, und erwiderte: »Das tun Sie ja immer, lieber Kleinholz. Aber manchmal irren Sie sich auch.« – »Ob's eine königliche Freite ist? Ach Gott, unser schönes Prinzeßchen! Solchen Gatten wünscht' ich ihr!« Kleinholz spitzte den Mund und sah verklärt zum Eisendach des Bahnhofs hinauf. Der Stationsvorsteher schüttelte mißbilligend den Kopf. »Was Sie immer für Ideen haben. Nehmen Sie sich nur mit Ihren Kombinationen in acht. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich muß zur Güterbahn hinüber. Da werden fünfzig Kälber verladen.« –
Prinz Arvid und sein Adjutant lachten inzwischen noch immer über den untertänigen Herrn, der mit ihrem Inkognito eine so überraschende Glatze gelüftet hatte. »Der arme Mann,« sagte schließlich der Prinz. »Es ist unrecht von Ihnen, daß Sie sich mokieren, Löwenstern. Er freute sich so über uns.« – »Gewiß, Königliche Hoheit. Er war sogar glücklich. Er leuchtete. Sein ganzer Schädel wurde transparent.« Graf Löwenstern kicherte in seiner heftigen Art, die das kleine Gesicht wie ein Gummisäckchen zusammenfaltete und die Nase noch mehr über den Mund krümmte. – Der Prinz blickte lachend auf den Ministerpräsidenten. »Und Sie, Exzellenz? Grundsätzlich dagegen? Ich denke, Sie marschieren seit der letzten Kammerrevolte mit dem Volk?« – Jakob Kadmus sah den zweiten Sohn seines Königs gelassen an. In seinen harten Augen lag für den kecksten Angriff etwas Entwaffnendes. »Ich lasse marschieren, Königliche Hoheit«, antwortete er mit feiner Stimme. »Freue mich übrigens, konstatieren zu dürfen, daß Königliche Hoheit mit Interesse die Kammerverhandlungen verfolgen.« – Prinz Arvid warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Dann sah er zum Fenster hinaus. »Bitte, bitte. Wollen Sie wohl Papa erzählen? Papa weiß schon, daß ich zweimal in der Kammer gewesen bin. Ihr spielt da recht gut. Aber eure Stücke sind ein bißchen konfus. Ihr sprecht jedesmal einen anderen Text. Vorige Woche glaubte ich, daß Sie mit den Ständen durch dick und dünn gehen, und gestern röteten Sie sich in einer Weise, daß man sich fast genieren mußte.« – »Um Kenner zu werden, bedarf es einer langen Beschäftigung mit dem Gegenstande, Königliche Hoheit.« – »Hinter die Kulissen will ich nicht gucken. Nein, lieber Kadmus. Ich bin kein Politiker. Gott sei Dank.«
Jetzt schwiegen die drei. Das deutsche Land lag draußen in heißer Julisonne. Weithin zogen sich gelbe Roggenfelder zum blaugrünen Waldsaum. »Famos beruhigend ist doch diese Landschaft,« sagte der Prinz nach einer Weile. »Wir haben bei uns zu viele Farben. An jedem Bauernhaus dieses klatschige Rot und Weiß, und dazu der blaue Himmel – das macht einen ganz nervös. In der deutschen Dämmerung ruht man sich aus. Bißchen monoton und langweilig ist es ja. Aber ich freue mich trotzdem darauf. Werde mich mal idyllisch bei Onkel und Tante niederlassen.« – »Nordstadt ist anstrengend, Königliche Hoheit,« meinte Jakob Kadmus, ohne zu lächeln. Wieder warf ihm der Prinz einen mißtrauischen Blick zu. – »Königliche Hoheit spüren eben noch die Folgen des Sturzes,« warf Graf Löwenstern schnell ein. »Doppelter Rippenbruch mit Lungenläsur ist keine Kleinigkeit. Aber Königliche Hoheit haben die Genugtuung, daß das Hubertusrennen nicht von dem Sieger des Memorial zu gewinnen war. Diese Kraftprobe geht über das Menschenmögliche.« Der Graf wagte einen herausfordernden Blick auf den Minister, bemerkte aber zu seinem Aerger, daß Jakob Kadmus die Augen schloß. Prinz Arvid dankte seinem Adjutanten durch ein freundliches Nicken. »Die Landluft wird uns beiden gut tun, Löwenstern.« Dann ärgerte auch er sich über Kadmus' Schlafversuche. »Bleiben Sie ein paar Tage in Udde, Exzellenz?« fragte er plötzlich laut. – »Ich reise morgen früh nach Berlin weiter.« Nach diesen Worten erhob sich der Ministerpräsident und verschwand hinter einer kleinen Tür, die auch in dem prinzlichen Coupé nicht fehlte. Arvid schwieg verstimmt. Dann sagte er: »Ein Benehmen hat dieser Mensch, als ob er noch immer Kohlen verkaufte. Finden Sie nicht auch, Oskar?« – Der Adjutant wagte nur ein unbestimmtes Kopfschütteln. – »Er ist ja ein bedeutender Mann,« fuhr Arvid fort, »ein Genie meinetwegen – aber er pocht zu sehr darauf. Ich bin Gott sei Dank nicht Kronprinz. Aber auch mein Bruder Johann wird mit diesem Kadmus nicht fertig werden.« – »Er ist ja wohl von mäßigem Herkommen, Königliche Hoheit?« – »Selbstverständlich! Der Vater war ein reicher Kohlenhändler, und die Mutter soll von Juden abstammen. Papa ist ja unglaublich vorurteilsfrei. Wenn ich nur herausbekommen könnte, warum der alte Fuchs nicht in Udde bleiben will.« – »Er war doch anfangs gegen den Besuch bei Ihrer Frau Tante, Königliche Hoheit?« – »Gewiß, Oskar. Aber so viel Diplomat bin ich auch schon, um zu wissen, daß er deswegen gerade dafür ist. Er meidet den Herzog durchaus nicht. Er macht sich über ihn lustig, aber im Innersten schätzt er ihn hoch.« – »Kennen eigentlich Königliche Hoheit die Familie des Herzogs näher? Abgesehen von der Frau Herzogin natürlich?«
Prinz Arvid wollte eben antworten, als die kleine Tür sich öffnete und mit etwas freundlicherer Miene der Staatsmann seinen Eckplatz wieder einnahm. – »Ich freue mich darauf, einmal einen Einblick in die Geheimnisse von Udde zu bekommen,« sagte der Prinz, ohne Kadmus den Themawechsel merken zu lassen. »Onkel Karls Musterlandwirtschaft kann ich mir ja vorstellen. Aber die soziale oder sagen wir charitative Seite seines Unternehmens – die Kolonie mein' ich –, die interessiert mich.« – »Ich kenne ›Deutsch-Freiland‹,« bemerkte Jakob Kadmus. »Aber es ist nicht leicht, den Einblick, den Königliche Hoheit wünschen, zu bekommen.« – Prinz Arvid sah ihn groß an. »Auch für mich nicht?« – »Wenn Exzellenz dieses Vorzugs teilhaftig geworden sind?« wagte Graf Löwenstern hinzuzufügen. – Kadmus lächelte. »Ach, Sie meinen, weil ich nur Ministerpräsident bin? Das ist ein Mißverständnis, Herr Graf. Herzog Karl empfängt die Besuche in ›Deutsch-Freiland‹ nicht nach Rang und Stand. Er hat eine so entschiedene Abneigung gegen jede Art von Neugier, daß man leicht bei ihm in falschen Verdacht geraten kann.« – Graf Löwenstern sah seinen Prinzen an – doch dieser blieb ruhig. »In falschen Verdacht,« sagte er, in eine Zeitung blickend. »Das ist man ja von Nordstadt her gewöhnt.« – Jetzt nahm der Adjutant seine unbeantwortete Frage wieder auf. »Kennen Königliche Hoheit eigentlich –« – Prinz Arvid errötete leicht. »Meine Cousinen? Persönlich nicht, lieber Löwenstern. Nur in effigie. Und da kann man ganz zufrieden sein.« – »Prinzessin Oda Marie gilt als veritable Schönheit.« – »Ist das die zweite?« fragte der Prinz obenhin. – »Doch nicht, Königliche Hoheit – die älteste. Prinzessin Gertrud und Prinzessin Elisabeth sind auch ganz nett, aber der gewisse Charme fehlt ihnen, das Caché des fürstlichen und des menschlichen Adels. In Prinzessin Oda Marie muß außer der Königin auch eine Künstlerin stecken, das undefinierbare Genietum des Weibes –« – »Donnerwetter!« rief Arvid lachend. »Woher wissen Sie denn das alles?« – »Graf Löwenstern hat ja in Deutschland studiert,« sagte Jakob Kadmus trocken. – Da sein Gebieter lachte, blieb auch der Adjutant bei Humor und ließ seine Nase über den Mund hängen. »Ich bin begeisterungsfähig, und hier begeistere ich mich.« – »Sie kennen Oda Marie? Warum haben Sie mir das noch nie erzählt? Woher kennen Sie sie denn?« – »Vom Berliner Hofball, Königliche Hoheit.« – »Nicht möglich! Ich denke, meine Cousinen sind solche Landpomeranzen, daß sie überhaupt nicht aus Udde herauskommen?« – »Einmal war Oda Marie mit ihrem Vater in Berlin – vor der Palästinareise.« – »Ach so! … Herzog Karls Pilgerfahrt hat sie mitgemacht? Ja, das sind fromme Leute. Und dazu ein Hofball – en route?« – »Prinzessin Oda Marie machte ein Märchenfest daraus.« – »Löwenstern, Sie sind ein Dichter.«
»Herzog Karls älteste Tochter soll seine beste Mitarbeiterin sein,« bemerkte jetzt der Ministerpräsident, indem er sich das dünne Bärtchen strich. – Der Graf rümpfte die Nase. »Mitarbeiterin? Inwiefern, Exzellenz?« – »Nun, das werden Sie auf dem Berliner Hofball nicht beachtet haben. Oda Marie hat viel zu dem Erfolge von ›Deutsch-Freiland‹ beigetragen.« – Der Prinz wandte sich zu Kadmus. »Das klingt ja höchst emanzipiert, aber nicht uninteressant. Können Sie uns Näheres darüber sagen, Exzellenz?« – »Gewiß! Nur gestatten mir Königliche Hoheit darauf aufmerksam zu machen, daß der Ausdruck emanzipiert in bezug auf Prinzessin Oda Marie nicht glücklich gewählt ist. Emanzipiert ist sie nicht. Sie hat nur eigene Gedanken.« – »Das find' ich aber unsympathisch.«
Der Prinz und sein Adjutant lachten heftig, um Jakob Kadmus' Ernst zu beirren. Der Ministerpräsident schwieg. Seinen Augen war niemals Aerger anzumerken. Nach einer Pause begann er wieder: »Eigene Gedanken haben, heißt selbständig sein. Auch als Frau. Mich wundert, daß Königliche Hoheit diese Eigenschaft unsympathisch finden. Sie gehört ja seit Jahrhunderten zu den Frauen unseres Landes, ohne daß man sie deswegen emanzipiert nennen müßte.« – Prinz Arvid biß sich auf die Lippe – dann erwiderte er: »Exzellenz werden mir hoffentlich nicht zutrauen, daß ich ein Gegner der Frauen unseres Landes bin. Aber erzählen Sie, bitte. Was will eigentlich mein Onkel mit der Kolonie? Wen nimmt er da auf, und was ist ihr Zweck?« – »Stellen sich Königliche Hoheit den Gegenpol unserer Landeserziehungsinstitute vor. Dort werden die jungen Kräfte der Nation für das Leben vorbereitet, um die Früchte ihrer Erziehung zu bewähren. ›Deutsch-Freiland‹ aber nimmt nur gescheiterte Existenzen auf, mißglückte Menschen, die vor den Folgen einer falschen Erziehung noch gerettet werden sollen.«
Der Prinz stand auf und sah zum Fenster hinaus. – »Unbegreiflich ist mir,« bemerkte jetzt Graf Löwenstern, »daß Herzog Karl an dieser ernstesten Seite des Lebens seine anmutige Tochter teilnehmen läßt.« – Arvid wandte sich schnell zu ihm hm. »Das begreif' ich, Löwenstern! Die Malliner sind so! Haben zu schweres Blut in den Adern!« – Jakob Kadmus blickte vor sich hin. »Aber gesund sind die Malliner, Königliche Hoheit.« – »Wie meinen Sie das, Exzellenz?« – »Körperlich und geistig.«
Arvid setzte sich wieder. »Also, ich bin gespannt auf Udde. Mal was andres. Ich bin ein bißchen großstadtmüde. Am neugierigsten bin ich auf den Empfang. Ach, sehen Sie mal unseren großen Diplomaten! Auf manches fällt er mir doch noch hinein! Sie denken wohl, ich bin auf eine Ehrenkompagnie gefaßt? Nein, nein, Exzellenz – die schenke ich meinem Onkel. Aber ich erwarte – nun, ich erwarte eben die richtige Begrüßung durch die männlichen Mitglieder der Familie.« – »Es handelt sich nur um einen inoffiziellen Empfang, Königliche Hoheit,« sagte der Adjutant mit Augenaufschlag. »Da werden selbstverständlich keine Behörden, aber die männlichen Mitglieder der Familie anwesend sein.« – »Wenn Herzog Karl in der Kolonie zu tun hat, ist er imstande, seine Mädels zu schicken,« bemerkte Jakob Kadmus. »Uebelnehmen darf man ihm so etwas nicht.«
Jetzt hielt der Zug in Udde. Quedenfeld, der Reisemarschall, öffnete die Coupétür. Auch Sünlund, der Kammerdiener, stand unten und sah mit seinem indignierten Lakaiengesicht auf den herzoglichen Empfang. Drei junge Mädchen eilten mit einem zwölfjährigen Knaben auf Prinz Arvid zu. Neben ihnen sprang ein Schäferhund. Vor dem Stationsgebäude hielten zwei einfache Landauer. Der überraschte Prinz ließ die freudige Jugend von Udde dicht an sich herankommen. Er kannte sich nicht aus, bis Jakob Kadmus nähergetreten war und vorstellte: »Prinzessin Gertrud. Prinzessin Elisabeth. Prinz Karl Ludwig … Hier hab' ich selbst noch nicht die Ehre.« Er blickte auf ein ländliches junges Mädchen, das errötend hinter den Prinzessinnen stand.
Elisabeth nahm sie bei der Hand und zog sie vor: »Das ist unsere Freundin Hanne Thyssen!«
Prinz Arvid grüßte, und Karl Ludwig beruhigte den Hund.