Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Erst nach Mitternacht kam Helmbrecht zum Schlafen.

Alles, was dieser Tag ihn hatte erleben lassen, Frau Marias traurige Augen, das Wiedersehen mit dem Knaben und das boshafte Geschwätz der Gräfin, kreiste in wilder Gedankenflucht vor seinem aufgeregten Geist, so daß selbst die sanfte Geigenstimme und das eintönige Plätschern des Springbrünnchens ihn nicht zu beruhigen vermochten. Dazu schien der Mond so zudringlich in sein Kabinett, dessen Läden er wegen der eindringenden Nachtkühle nicht schließen mochte, daß er endlich wieder aus dem Bette sprang und beim Licht einer einzigen Kerze eine wissenschaftliche Abhandlung zu lesen versuchte.

Auch als dann der Mond untergegangen war und er sich wieder zum Schlafen niedergelegt hatte, blieb er noch lange wach. Desto später weckte ihn am Morgen die Sonne. Es schlug acht Uhr vom Turm der Pfarrkirche herauf. Hastig stand er auf und beschleunigte seinen Anzug, ohne daß er einen besonderen Grund für diese Eile hatte. Als er einen Blick in den Spiegel warf, kam er sich um zehn Jahre über Nacht gealtert vor. Er zuckte mit einem bitteren Rümpfen des Mundes die Achseln. Du bist ein Schwächling, Hans Helmbrecht, sagte er. Du willst festhalten, was nun einmal für immer dahin ist. Aber eh' diese Sonne sinkt –

Er vollendete den Satz nicht, sondern wandte sich ab, nahm seinen Hut und schritt nach der Tür.

In dem Augenblick, da er sie öffnete, um in den Korridor hinauszutreten, tat sich auch die gegenüberliegende Türe auf, und Yvonne erschien auf der Schwelle.

Sie trug einen leichten weiten Schlafrock von wasserblauer Farbe, nachlässig gegürtet, die Füße in blauseidenen Pantoffeln, auf dem Kopf schief aufgesetzt eine Badekappe, deren Bänder lose herabhingen. Darunter quoll das reiche blonde Haar in fessellosen Ringeln herab. Die sehr schönen Arme kamen nackt aus den weiten Ärmeln hervor, in der linken Hand trug sie einen Beutel von chinesischem Strohgeflecht, in dem Toilettensachen zu stecken schienen.

Guten Morgen, Herr Doktor, sagte sie freundlich und lächelte ihn mit ihren blanken Zähnen an. Wir sind beide etwas spät daran. Wie haben Sie geschlafen und was geträumt? Hoffentlich nicht von mir, da würde ich Sie beklagen, denn das könnte kein angenehmer Traum gewesen sein. Aber vielleicht von der kleinen Stäudlin, die hat Ihnen ja noch ein Ständchen gebracht. Haben Sie sie schon wiedergesehn? Nicht? Nun, Sie werden überrascht sein, wie das liebe Ding sich seit vorigem Sommer entwickelt hat, was freilich nach einer so schweren Krankheit häufig geschieht. Ich würde gern öfter mit ihr zusammen sein, aber ich habe nicht das Glück, bei ihr in Gnaden zu stehn, wie sie denn überhaupt mit der Gesellschaft im Seehof sich nicht gemein macht, die stolze kleine Prinzeß.

Ich habe noch keine Besuche gemacht, erwiderte er trocken. – Ihre scharfe helle Stimme fiel ihm wieder auf die Nerven.

Nun, Sie werden gewiß mit Ungeduld erwartet. Im Stäudlinschen Hause werden Sie ja vergöttert, und mit Recht, als Lebensretter des Töchterleins. Der Papa ist ebenfalls ein interessanter Mensch und, soviel ich höre, auch ein bedeutender Künstler. Ich wünschte einmal seine Bilder zu sehen, aber er läßt niemand in sein Atelier.

Sie waren bis zu der Tür des Hausgangs gekommen, die offen stand, gerade der kleinen Fontäne gegenüber.

Sie wollen ins Bad, Gräfin? sagte er zerstreut, nur um etwas zu sagen.

Bitte, bitte: Yvonne! schmeichelte sie. Sie haben mir's gestern versprochen. Freilich will ich ins Bad, heute nur ein wenig später als sonst, da ich mich als gute Christin am Sonntag immer verschlafe. Doch werde ich wohl trotzdem noch die erste sein, woran mir viel liegt. Denn meine teuren Schwestern vom sogenannten schöneren Geschlecht erscheinen in der Nymphentoilette meist als so entsetzliche Karikaturen, daß ich mich des Lachens nicht enthalten kann, wobei ich Wasser schlucke. Und dann – die indiskreten Blicke der Herren der Schöpfung – ich weiß nicht, wie es kommt, aber in den holländischen und französischen Seebädern wirkt das alles nicht so beleidigend, wie hier in unserm biedern Vaterlande; in allem ist mehr Schick und mehr Übereinstimmung mit allem übrigen. Aber wenn ein deutscher Philister frivol wird, ist's zum Davonlaufen.

Sie mögen recht haben, Frau Gr– Yvonne, versetzte er. Es ist aber schwer, den See zu halbieren und Männlein und Weiblein zu trennen. Viel Vergnügen zu Ihrem Bade!

Er lüftete leicht den Hut und wandte sich nach rechts, während sie mit einem Blick, der deutlich ihren Ärger über seine kühle Höflichkeit erkennen ließ, nach der andern Seite ging und um die Ecke des Anbaus verschwand.

Als er dann den Wirtsgarten betrat, kam er gerade zur rechten Zeit, um Frau Maria mit ihren drei Kindern noch flüchtig zu begrüßen, die im Sonntagstaat zur Kirche gingen und eben die Gittertür öffneten, um den Fußweg hinunter einzuschlagen. Die Mutter neigte leise, wieder mit ihrem stillen, ernsten Blick, den Kopf gegen ihn, die Mädchen, die schon die neuen Blusen trugen, nickten ihm munter zu, nur Hänsel sprang noch einmal zurück, um dem Onkel eine Patschhand zu geben.

Als sie dann unter den Bäumen verschwunden waren, ließ sich Helmbrecht an einem Tische nieder und rief der Kellnerin, ihm das Frühstück zu bringen. Er hielt sich nicht lange dabei auf. Denn in der Halle, in der die Kurgäste beim Kaffee saßen, machten einige der Damen Miene, zu ihm hinauszukommen und ihn ins Gespräch zu ziehen, vielleicht auch ihm ihre Zustände zu klagen, was er streng vermied, um dem Kollegen nicht in die Praxis zu pfuschen.

Also stand er bald wieder auf und schritt um die Halle herum nach der freien Seite des Wiesengrundes. In der Entfernung von einigen hundert Schritten stand da ein kleines Haus im unverfälschtesten Schweizerstil, weiter hinaus in gleichem Abstande von diesem ein größeres, massives, mit einem Turm, unter dessen runder Kuppel sich offenbar eine Sternwarte befand. Beide Häuser waren nah an den Rand der Hochebene vorgebaut, dahinter breitete sich die Wiese, auf der jetzt nur die drei Kühe und zwei Pferde des Seehofs weideten, von einem halbwüchsigen Hüterbuben bewacht, der, als Helmbrecht in seinen Gesichtskreis trat, das Hütlein abnahm und übers ganze Gesicht lachend zu erkennen gab, daß er über das Wiedersehn dieses alten Freundes und Gönners erfreut war.

Der Maler Veit Stäudlin, dem das erste Häuschen gehörte, war seiner Geburt nach ein Schweizer, Sohn eines Züricher Kaufherrn, der vor Jahren auf einer Geschäftsreise in diese Gebirgsgegend gekommen war und mit kundigem Blick gewahrt hatte, daß der mächtige Hochwald nur des betriebsamen Mannes wartete, der seine Schätze verwerten möchte. Die kleinen Ackerbürger im Städtchen unten hatten ohne einen Funken Unternehmungsgeist so hingelebt und sich mit dem Ertrag ihrer Äcker und Wiesen und einer kleinen Spinnerei- und Webereiindustrie begnügt. Der Schweizer bedachte sich nicht lange, kaufte ein ansehnliches Stück Wald, baute höher hinauf an dem Flüßchen, das durch das enge Tal ins Freie lief, eine Sägemühle und auf der Wiese unweit des Gasthofs ein kleines Wohnhaus. In kurzem brachte er sein Holzgeschäft in Schwung, zumal da er es durchzusetzen wußte, daß eine Vizinalbahn von der großen Eisenbahnlinie draußen abgezweigt und bis an das Städtchen geführt wurde, wo sie denn freilich in einer Kopfstation ihr Ende fand.

Dieser Herr Ulrich Stäudlin war seit zehn Jahren Witwer, aber seine Tochter Corona, die ein kluges, umsichtiges Mädchen von zwanzig Jahren war und den Geschäftssinn des Vaters geerbt hatte, führte ihm so gewandt und haushälterisch die kleine Wirtschaft, daß er in dieser Hinsicht seine Frau nicht vermißte. Der einzige Sohn war von anderem Schlage, mit einer träumerischen Künstlerseele begabt, der es um Holzhandel und Gelderwerb nicht zu tun war. Als er zwanzig Jahr alt geworden war, ergab sich der alte darein, daß er an ihm keinen Nachfolger in seinem Geschäft haben würde. Er ließ ihn auf die Akademie nach Dresden ziehen, sich zum Maler auszubilden, ein Jahr darauf nach Karlsruhe. Überall machte er gute Fortschritte. Sein Sinn aber stand nach Italien, dessen landschaftlicher Zauber ihn so gefangen nahm, daß er sich nur in den heißesten Monaten entschließen konnte, bei seinen Leuten im deutschen Bergwald sich eine Zeitlang blicken zu lassen.

Er war noch nicht siebenundzwanzig alt, als er, in den toskanischen Bergen nach »Motiven« spähend, eines Morgens auf ein Mädchen traf, das ihm beim ersten Anblick das Herz stahl.

Sie ging, ein großes Rebenbündel auf dem Kopfe tragend, vor ihm her und sang einige der süßen, unschuldigen Liedchen, die in dieser glücklichen Gegend gleichsam wie die laut gewordene Seele schöner Jugend von Mund zu Mund gehen:

   Wie singt sich's schön so zwischen Tag und Nacht!
Die Sonne sinkt, der Mond erhebt sich sacht.
Wie singt sich's schön so in der Morgenstunde.
Die Sonne steigt, der Mond neigt sich zum Grunde.

Und nach einer Weile:

Ach, wenn doch nur der Seufzer sprechen könnte.
Welch lieblicher Gesandter würd' er sein.
Dann würd' ihn dieses Herz als Boten senden,
Und Botschaft brächt' er dem Geliebten mein.

Der junge Maler, von ihrer Stimme entzückt, mehr noch von dem reizenden Umriß der ruhig hinschreitenden schlanken Gestalt, folgte der Sängerin, bis sie endlich verstummte. Dann überholte er sie und sah, zurückblickend, daß ihr junges Gesicht mit seinen edlen, etwas scharfen Zügen, den großen schwarzen Augen und der feinen geraden Nase genau so war, wie er sich's nach ihrem Gesang vorgestellt hatte. Ein Duft von herber Jungfräulichkeit lag über beiden. Doch gab sie ihm unverlegen Antwort auf all seine Fragen. Nur da er zu wissen wünschte, an wen sie ihren Seufzer schicken würde, wenn er sprechen könnte, stieg ihr eine unwillige Glut ins Gesicht und der feste kleine Mund verstummte.

Bald aber, da er ihre Spur verfolgte und sie in dem Häuschen ihrer Mutter aufsuchte, erfuhr er zu seinem Trost, daß von dem, was ihr Mund gesungen hatte, ihr Herz noch nichts wußte, und es dauerte nicht lange, daß dies noch unerfahrene Herz sich ihm ganz ergab.

Sein Vater, der auf eine reiche Braut für den Sohn gerechnet hatte, geriet in heftige Entrüstung, als er erfuhr, welch ein blutarmes Schwiegertöchterchen ihm zugedacht war. Veit aber führte seine Teresina trotz des väterlichen Widerspruchs heim, taufte das Kind, das sie ihm gebar, nach seiner Schwester Corona, und als die Kleine ein paar Jahre alt geworden war und zum Entzücken nicht nur der Eltern, sondern aller, die sie sahen, heranblühte, fuhr er eines Sommertags mit Frau und Kind geradewegs nach dem Seehof und fiel unangemeldet den Seinigen ins Haus.

Er hätte es, um das Eis zu brechen, nicht klüger anstellen können. Der Zorn des Alten verrauchte in den ersten zehn Minuten, in denen er noch den gekränkten Vater hatte spielen wollen, als das Kind die rosigen Ärmchen nach ihm ausstreckte und mit den kleinen Händen ihm in den dicken Bart fuhr. Tante Corona zog die schöne Schwägerin sofort mit überströmender Zärtlichkeit ans Herz.

Hatte der Vater sich erst hoch und teuer verschworen, die von der Gasse aufgelesene welsche Dirne nie in sein Haus einzulassen, so wollte er sie nun überhaupt nicht wieder hergeben. Veit aber blieb fest. Sobald der Herbst sich ankündigte, zog er wieder über die Alpen und siedelte sich während des Winters bald hier, bald dort in einem der kleinen Städtchen der Riviera di Levante an, da er diese Küsten mit ihren Pinien, Zypressen und Vignen, ihren Klösterchen und kleinen Kirchtürmen an den Berghängen, dazu im Grunde das blaue Tyrrhenische Meer über alles liebte und auf die Leinwand zu bringen nie müde wurde.

Der deutsche Wald und seine heimatlichen Schneegebirge regten seine malerische Seele nie zur Nachbildung an. Auch liebte er es, im Vordergrunde sein eignes Weib und das holde Kind in mannigfachen Stellungen anzubringen, und fand für diese Bilder schon um der Staffage willen auch in Deutschland kauflustige Liebhaber. Das war ihm besonders des Vaters wegen erwünscht, von dessen Tasche er sich möglichst loszumachen suchte.

Einige Jahre später, gerade bei einem der sommerlichen Besuche seiner Kinder, raffte den alten Herrn ein Schlagfluß hinweg. Der Sohn lag seiner Schwester an, ihm nach dem Süden zu folgen und mit ihnen zu leben. Fräulein Corona aber nahm das brüderliche Anerbieten nicht an, sondern zog, da sie in der verwaisten Waldeinsamkeit nicht leben mochte, zu Verwandten ihrer Mutter in die Schweiz zurück. Der Wald und die Schneidemühle wurden verkauft, nur das Häuschen blieb im Besitz der Geschwister, die darin während der heißesten Jahreszeit eine Zuflucht finden wollten.

Doch ein weit schwererer Verlust, bald nach dem Tode des Vaters, traf den Maler, da er eben erst an seine Riviera zurückgekehrt war. Das Kind, das Crone oder Cröneli genannt wurde, war eben acht Jahre alt geworden, da verunglückte die Mutter bei einer Fahrt in den Golf von Sestri hinaus, die sie ganz allein nur mit einem alten Schiffer unternommen hatte. Sie litt seit einigen Jahren an einem jähen heftigen Kopfschmerz, der sich nur besserte, wenn sie allem Lärm entrückt draußen auf dem Meer ein paar Stunden in ihrem Boote hinfuhr und die Abendluft um ihre Stirn streichen ließ. An jenem Tage war plötzlich ein Sturm aufgestanden, der das Schiffchen gegen eine Klippe geschleudert und die Frau in die Tiefe gerissen hatte. Umsonst hatte der Bootsmann alles versucht, sie heraufzuholen. Kaum hatte er schwimmend, was das Kind der Berge nicht gelernt hatte, das eigene Leben retten können.

Es hatte Jahre gebraucht, bis der Gatte die tiefe Schwermut, die ihn befallen, einigermaßen verwinden konnte. Er blieb aber an dem unheilvollen Gestade, wo er sein liebstes Glück zu Grabe getragen, obwohl die Freunde ihm zuredeten, den Ort zu wechseln. Er hätte seine trauernde Seele an jeden anderen mitgenommen.

Das Kind, damals, wie gesagt, acht Jahre alt, hatte einen so tiefen Eindruck von diesem Schicksal empfangen, daß es viele Monate wie versteinert umherging und man für seine Gesundheit fürchtete, wie nach einem Sturz, bei dem zarte innere Teile unheilbar verletzt worden sind. Die Jugendkraft aber siegte zuletzt über alle Gefahren. Nur blieb sie einsilbig, und man sah sie nur selten lachen, wie sie auch von allen Spielen gleichaltriger Gefährtinnen fern blieb. Am Vater hing sie mit so leidenschaftlicher Innigkeit, als hätte sie alles, was sie früher von ihrem Herzen der Mutter gegeben, auf ihn übertragen.

Eine italienische Magd, Cattina, die schon der jungen Neuvermählten aus ihrem toskanischen Bergnest gefolgt und seitdem im Hause geblieben war, sorgte für das leibliche Wohl des mutterlosen Kindes. Sie besaß nicht die geringste Bildung, konnte kaum lesen und gar nicht schreiben, war aber von klarem natürlichem Verstande und jenem feinen Sinn, der den Naturkindern alle weltläufige Kultur ersetzt und sie in städtischer Gesellschaft sich bewegen läßt, ohne jemals Anstoß zu geben. Dazu barg sie in ihrem Gedächtnis einen Schatz jener Volksliedchen, Rispetti und Ritornelle, mit denen auch die arme Teresina das Herz ihres Veit erobert hatte.

Im Äußeren war sie unscheinbar, früh gealtert, so daß man ihr nicht zutraute, daß sie nur fünfunddreißig Jahre zählte. Aber ihre guten, gescheiten Augen und das geräuschlose, immer taktvolle Betragen machten sie bei allen beliebt. Crone vollends hing an ihr wie an einer zweiten Mutter, und der Vater war gewöhnt, keinen wichtigeren Schritt zu tun, ohne ihre Meinung darüber einzuholen.


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