Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Zweites Kapitel.

Ums Haus herum, auf dessen Rückseite die Küche und andere Wirtschaftsräume lagen, kamen zwei Mädchen herbeigelaufen, die Töchter der Frau Maria, die sie ihrem Manne in den ersten Jahren ihrer Ehe geboren hatte. Sie mäßigten aber sogleich ihren Schritt, als sie in den Gesichtskreis der Mutter kamen, die ihnen ein wildes, hastiges Wesen nicht durchgehen ließ, und näherten sich mit der etwas unbeholfenen Haltung junger Backfische, dem Doktor ihre Hände entgegenstreckend.

Die ältere, Gundel, war mit ihren siebzehn Jahren über das Backfischalter schon hinaus, hatte aber in dieser Weltabgeschiedenheit noch nicht die Manieren eines erwachsenen Jungfräuleins angenommen, obwohl sie unter den Töchtern der Sommergäste die Vorbilder dazu vor Augen hatte. Sie war ein bescheidenes Mutterkind geblieben, mit keinem höheren Ehrgeiz, als sich im Hause nützlich zu machen, und nur stolz darauf, daß ihr schon die Sorge für die Wäschekammer, das Silberzeug und die Einrichtung der Zimmer anvertraut war. Auch im Äußeren erinnerte sie an den Vater, dessen blondes Haar und blaue Augen zugleich mit einer gewissen Schüchternheit im Betragen sie geerbt hatte.

Hiervon hatte die jüngere und kleinere, Trinchen, nichts, als die etwas eckigen Bewegungen des Papas. Im übrigen war sie mehr der Mutter nachgeartet, ohne deren schönen ebenmäßigen Wuchs, da ihr hübscher kleiner Kopf auf einem zu kurzen Halse saß. Aus ihren stillen, beobachtenden Augen aber sah ein kluger Geist in die Welt hinein, und im Gegensatz zu der Schwester liebte sie nicht, sich viel zu rühren, sondern saß stundenlang über den Büchern, deren Inhalt ihr sechzehnjähriges Gehirnchen oft nur unvollständig zu verarbeiten vermochte.

Sie wollte sich nach dem Beispiel der Mutter zur Lehrerin ausbilden, nahm allerlei Privatstunden bei dem Rektor der Stadtschule und Klavierunterricht bei der Lehrerin der Töchterschule. Das hatte, sehr gegen den Wunsch der Mutter, ihre körperliche Entwicklung zurückgehalten, der Doktor aber hatte geraten, sie gewähren zu lassen; man müsse es jedem Kinde gönnen, sich seinen Weg zu suchen, und es gebe kein anderes Glück, als nach eigenem inneren Gesetz seiner Kräfte froh zu werden.

Wie die beiden guten Geschöpfe nun vor ihm standen und mit sichtbarer Freude ihm treuherzig in die Augen sahen, suchte er vergebens nach einem Wort, sie in alter Weise zu begrüßen. Das Fältchen zwischen seinen Brauen war noch nicht wieder geglättet, sein finsterer Blick noch nicht sanfter geworden. Er strich den Kindern, ihnen stumm zunickend, langsam über das Haar und brachte endlich mühsam hervor: Ihr seid noch gewachsen seit dem Frühjahr. Trinchen hat es auch nötig.

Dann trat eine verlegene Pause ein.

Zeigt dem Onkel Hans seine Zimmer, brachte Frau Maria endlich mühsam hervor. – Sie ergriff begierig den Vorwand, das peinliche erste Wiedersehn abzubrechen.

Der Doktor schien es zu überhören.

Wo ist Hänsel? fragte er. Hat er nicht erfahren, daß ich heut kommen würde?

Er ist in der Turnschule unten, versetzte die Frau. Jeden Mittwoch und Sonnabend Nachmittag turnen jetzt die Schüler, am Montag die Mädchen. Es schlägt ihm gut an. Sie werden sich freuen, wie Ihr Patenkind sich herausgemacht hat. Aber nun begleitet den Onkel, Kinder. Ich habe im Hause zu tun. Beim Abendessen sehn wir uns wieder.

Sie grüßte Helmbrecht mit einem etwas leidmütigen Neigen des Kopfes, nahm das Buch vom Tische und ging langsam ins Haus zurück.

Kaum hatte sie den Rücken gedreht, so wurden die Gesichter der beiden Mädchen heller und unbefangener. Trinchen ergriff ohne Umstände den Arm des Onkels und zog ihn mit fort, Gundel bemächtigte sich seines Huts und Stocks und ging neben ihnen her. Er ließ willenlos mit sich machen. Das muntere Geplauder der Kinder hörte er nur wie im Traum, die Eröffnung, die die Frau ihm gemacht, lag schwer über seinem Gemüt und ließ keinen anderen Gedanken in ihm aufkommen, als daß nun zu Ende sein sollte, was seine Lebensfreude gewesen war.

So schritten sie langsam nach rechts, dem Anbau zu, der durch einen langen, auf schlanken Pfosten ruhenden Wandelgang, die Zuflucht der Kurgäste in Regenzeiten, mit dem alten Hause verbunden war. Der schmucklose Wirtsgarten mit den Tischen und Bänken reichte nicht weit, auf dem offenen Platz vor dem langgestreckten Nebenhause war ein Ziergärtchen angelegt mit einem Springbrunnen in der Mitte, in dessen unterem Becken ein paar Goldfische schwammen. Gundel erzählte, welche Not sie mit den Rosenstöcken habe, die von den Mühlenknechten und anderen leichtsinnigen Burschen geplündert würden. Sie brach eine große dunkle Blüte und steckte sie Helmbrecht ins Knopfloch. Er ließ es geschehn, ohne anders als mit einem zerstreuten Kopfnicken zu danken.

Dann traten sie ins Haus, und die Mädchen führten ihn ans äußerste Ende des Korridors, der zwischen den beiden Zimmerreihen hinlief. Die letzte Tür zur Rechten öffnete sich in ein großes schönes Gemach, das sein Licht durch zwei Fenster von Osten und Süden erhielt. Nebenan war ein kleineres Kabinett zum Schlafen eingerichtet, dieser »Salon« aber, wie er im Hause genannt wurde, galt für das vornehmste Zimmer im ganzen Seehof und war mit den elegantesten Möbeln ausgestattet, die aus der nächsten größeren Stadt bezogen werden mußten. Auch hingen zwei nicht üble Öldruckbilder an den Wanden, den Montblanc und die Jungfrau vorstellend, deren ewiger Schnee an eine »Höhenluft« erinnerte, mit der die des Seehofs sich nicht messen konnte.

Auf dem Tisch vorm Sofa aber stand in einer blauen Vase ein Strauß von Reseden. Trinchen hatte ihn hingestellt. Sie wußte, daß es die Lieblingsblumen des Onkels waren.

Dafür war er nun doch erkenntlich. Er zog die beiden guten Kinder an sich und küßte sie auf die Stirn, schob sie aber gleich wieder mit einem Seufzer von sich weg und ließ sich, wie tief erschöpft, auf das Sofa sinken.

Die Mädchen blieben verlegen vor ihm stehen. Der Onkel war so anders als sonst. Was mochte ihm begegnet sein?

Gundel brach wieder die peinliche Stille. Die beiden Zimmer – Onkel Hans werde sich erinnern – habe im vorigen Sommer »die Gräfin« bewohnt. Auch in diesem Jahr hätte sie sie gern wieder gehabt, aber die Mutter habe sie nicht hergegeben, sie habe gewollt, der Onkel sollte sie haben, da sie die stillsten seien und im alten Hause das ewige Laufen und Lärmen ihm die Ruhe störe, die er zum Arbeiten brauche. Sie habe dann der Gräfin zwei andere angeboten, auch nach vorn und frisch tapeziert. Die aber habe gesagt, sie wolle lieber hinten hinaus wohnen, sie sehe gern in den Wald hinauf, und so hätte sie das letzte noch freie Zimmer hier im Anbau bekommen, gerade deinem gegenüber, Onkel Hans.

Er fuhr unmutig in die Höhe.

Diese fatale Person – so in meiner nächsten Nähe? Nun, ein paar Tage werd' ich's ja aushalten. Dann aber –

Er sagte den Mädchen, daß er diesmal nicht lange bleiben könne, seine Geschäfte in der Stadt erlaubten ihm keine gründliche Sommererfrischung. Das machte die guten Kinder traurig, sie baten und bettelten, wenigstens vierzehn Tage, oder zwölf, oder zehn müsse er bleiben, er schüttelte düster den Kopf, und da jetzt sein Gepäck gebracht wurde, das ein Wagen auf dem breiten, sacht ansteigenden Fahrweg heraufbefördert hatte, brach er das Gespräch ab und fing an, seinen Koffer auszupacken.

Er holte allerlei hübsche Sachen heraus, die er ihnen mitgebracht hatte, ein paar elegante Blusen, bei deren Auswahl ihn die Frau eines Kollegen beraten hatte, schöne Schildpattnadeln fürs Haar und zwei einfache goldene Broschen von seiner Arbeit. Die Mädchen wurden dunkelrot vor Freude, fielen dem gütigen Geber um den Hals und liefen dann mit ihren Schätzen davon.

Als er sich allein sah, stand er wohl eine halbe Stunde mitten im Zimmer und starrte vor sich hin. Es war ihm wunderlich zumut. Noch wirkte die erste bittere Empfindung in ihm nach, daß diese Frau, die er wahrhaft geliebt hatte, sich von ihm lossagen konnte, einem fremden Gebot gehorchend, das ihr heiliger war als die Stimme ihres Herzens. War's nur die Macht des Glaubens, in dem sie aufgezogen war, daß die von der Kirche geheiligten Satzungen höher seien als alles, was Menschennatur als ihr Eigenrecht in Anspruch nehmen mochte? Oder war das Gefühl der Lieb' und Treue, das sie mit ihm verbunden, mit den Jahren schwächer geworden, so daß es sie kein großes Opfer kostete, sich dem Machtspruch des Priesters zu fügen?

Sie war das Kind einer kleinen bürgerlichen Familie aus dem Städtchen unten, und da sie in der Schule sich früh auszeichnete, hatten die Eltern sie in die nächste größere Stadt geschickt, dort ihr Lehrerinnenexamen zu machen. Als sie dann zurückgekehrt war, fand sie bald eine Anstellung in der Töchterschule drunten, wo sie Unterricht im Singen, Deutsch und ein wenig Französisch gab. Ihre Lehrzeit draußen hatte aber ihre religiösen Anschauungen nicht zu erschüttern vermocht, obwohl sie sie nicht zur Schau trug. Doch war sie bei den Eltern ihrer Zöglinge dadurch nur um so besser angeschrieben, und als ihre Gesundheit ins Wanken kam, so daß man der Fünfundzwanzigjährigen kein langes Leben mehr gab, hatte man ihr gern einen schulfreien Sommer bewilligt, um dem Verderben vielleicht noch Einhalt zu tun.

Das war auch über Erwarten gelungen. Doch obwohl das schlanke Fräulein mit dem zarten blassen Gesicht in der kräftigen Höhenluft rasch wieder aufblühte, kehrte sie doch nicht in ihre Schule zurück. Denn der Wirt des Seehofs, Herr Wenzel Harlander, der großen Respekt vor ihrem Wissen und gewandteren Betragen empfand, erklärte ihr nach vier Monaten, er lasse sie nicht fort und frage sie, ob sie seine Wirtin werden wolle.

Sie hatte, ob auch ohne sonderliche Neigung, eingewilligt, da er ein ehrenwerter, auch sonst nicht übler Mann war, nur zwölf Jahre älter als sie, und die bequeme Lage, in die sie durch ihn versetzt wurde, nach der Dürftigkeit ihrer Schulmeisterei auch für ihr körperliches Wohlsein zuträglich zu sein versprach.

Hierin hatte sie sich auch nicht getäuscht. Bald nachdem sie ihrem Manne zwei Töchter geboren, hatte ihre schmächtige Figur angefangen sich zu einer anmutigen Fülle zu entwickeln, durch das rührige Schaffen in Haus und Hof in richtigen Grenzen gehalten. Auch ihr Gesicht zeigte nicht mehr den schmalen Umriß der früheren Zeit, und der Blick der besonnenen grauen Augen, vor allem die Linien des Mundes hatten einen charaktervollen Ausdruck von festem Willen und Selbstbewußtsein gewonnen, da sie nun nicht mehr kleinen Schulmädeln, sondern einer zahlreichen Dienerschaft zu gebieten hatte.

Auch ihr Mann war diesem Willen bald völlig untertan geworden. Er erkannte dankbar all ihre Gaben und Tugenden an, ihre feinere Bildung, die ihr im Verkehr mit den Sommergästen zustatten kam, ihr rasches Erfassen alles dessen, was für den mannigfachen Betrieb einer großen Wirtschaft vonnöten war, dazu ihre Güte und Gelindigkeit gegen alle Untergebenen und Sorge für die Tiere, wobei sie doch in ihrem gleichmütig gerechten Sinn auf keinen Herrscherlaunen sich betreffen ließ. So galt sie in der ganzen Gegend als ein musterhaftes Weib, zumal sie auch jeder Versuchung widerstand, durch die Huldigungen irgendeines fremden jungen Verehrers, der schmeichelnd um die schöne Seehoferin herumstrich, sich auch nur auf eine kurze Sommerzeit betören zu lassen.

Dann, nachdem dieser erfreuliche Zustand etwa zehn Jahre gedauert hatte, war plötzlich alles verwandelt worden. Der Hausherr hatte auf einem auf abschüssiger Straße hinuntersausenden Wagen einen Sturz getan, der ihm einen Rückenwirbel beschädigt und den wackeren Mann so weit gelähmt hatte, daß er seinem Geschäft nicht mehr wie früher in Haus und Stall und Weideplätzen vorstehen konnte. Er saß die meiste Zeit in einem Zimmer, das ihm den Ausblick auf das Gehöft verstattete, und verfolgte mit trübsinnigem Gesicht das Hin und Her seiner Dienstleute und mit dankbarem Kopfnicken die Schritte seiner Frau, auf der nun die ganze Last des Haushaltes lag. Auch seine beiden Töchterchen saßen wohl, wenn sie ihre Schulaufgaben gemacht hatten, ein Stündchen bei dem kranken Vater, lasen ihm das Lokalblättchen vor oder eine Kalendergeschichte, doch ohne daß er sonderlich zuzuhören schien.

Seine beste Unterhaltung hatte er mit einem jungen Arzt aus der nahe gelegenen Universitätsstadt, einem Doktor Johannes Helmbrecht, der bald nach jenem unglücklichen Sturz zum Seehof hinaufgekommen war und besser als der alte Bezirksarzt unten um die Sache Bescheid wußte. Er hatte nach Möglichkeit Linderung für die Schmerzen geschafft und durch zweckmäßige Verordnungen die Kräfte zu heben und im ganzen einen leidlichen Zustand herzustellen gewußt. Dazu war sein frisches, warmblütiges Temperament eine Wohltat für den schwermütig grübelnden Patienten, dem er wieder Hoffnung und Lebensmut einzuflößen verstand und mit Erzählungen aus der Welt draußen, die der Ärmste so gut wie nicht kannte, die Weile kürzte, besser als es Gundel und Trinchen mit ihren Kindergeschichten imstande waren.

Leider konnte er nur in den Ferien zu einem längeren Besuch auf dem Seehof die Zeit erschwingen, da er außer seiner ärztlichen Praxis auch Vorlesungen an der Universität zu halten begonnen hatte; dann aber erschien er allen im Hause wie ein rettender Engel oder Zauberer, der die schwüle, dumpfe Stimmung auf einen Schlag verwandelte. Die Kinder hingen an dem munteren Onkel mit aller Zärtlichkeit, deren ihre etwas engen kleinen Herzen fähig waren, die Dienstleute, denen er hin und wieder auch als Arzt allerlei Gutes erwies, wären für ihn durchs Feuer gegangen, und auf Frau Marias Gesicht erschien wieder zuweilen ein Lächeln, das seit jenem Schicksalstage ein Fremdling darauf gewesen war.

Auch schien der Kranke in der Tat das Leiden noch einmal überwinden zu sollen. Er wagte wieder, an zwei Stöcken im Hause umherzuschleichen, ja sein junger Freund brachte ihn dazu, an die Luft zu gehen und eine neue Scheune, die inzwischen gebaut worden war, zu inspizieren. Was aber vollends ein Wunder schien: fünfzehn Monate nach dem Sturz kam noch ein Söhnchen zur Welt, ein so lebfrischer kleiner Bursch, wie man ihn einem invaliden Vater nimmermehr zugetraut hätte.

Die Taufe wurde denn auch mit besonderer Feierlichkeit begangen, und jedermann fand es natürlich, daß Doktor Helmbrecht, obwohl er Protestant war, das Kind aus der Taufe hob und ihm seinen Namen Johannes gab. Bei dem Taufschmause freilich hatte der glückliche Vater, der sich am Anblick des rosigen Knäbchens nicht satt sehen konnte und die Wiege durchaus neben seinem Stuhl haben wollte, nicht bis zu Ende ausdauern können. Die Schmerzen waren so stark geworden, daß man ihn zu Bett bringen mußte, das er nicht mehr verließ. Drei Wochen darauf trug man ihn auf dem Friedhof unten zu Grabe.

Da die Herbstferien noch dauerten, war der Pate imstande, seiner Frau Gevatterin in der ersten Trauerzeit zur Seite zu bleiben und ihr in der Ordnung ihrer Angelegenheiten beizustehen. Den Winter verbrachte sie, wie sich's für eine Witwe geziemt, in großer Stille und Zurückgezogenheit. Um Ostern aber erschien der Doktor wieder, und um sie durch neue Tätigkeit aus ihrer gedrückten Stimmung herauszureißen, schlug er ihr die Umwandlung der simplen Sommerfrische in eine förmliche Luftkuranstalt vor und traf auch dazu die nötigen ersten Einrichtungen.

Daß er selbst sich als Kurarzt droben ansiedelte, war ihm versagt, da er seit einem Jahr eine eigene Klinik für Wöchnerinnen und Kinder gegründet hatte, wozu ihm durch eine milde Stiftung die Mittel zugeflossen waren. Doch gelang es ihm, den neuen Arzt im Städtchen unten, einen Anfänger, der noch wenig Praxis hatte, für seine hygienischen Grundsätze zu gewinnen, so daß dieser als sein Assistent sich gern verpflichten ließ, täglich zum Seehof hinaufzusteigen und die Patienten zu überwachen. Wenn er selbst, Hans Helmbrecht, in seinen Ferienwochen hier oben wohnte, trat er nur in schwierigeren Fällen hinzu und überließ, nachdem er sich mit dem Kollegen verständigt hatte, diesem die weitere Behandlung.

So hatten die Dinge acht Jahre gestanden bis zu dem Tage, wo Frau Maria Harlander vor ihrem Hause ihn erwartete, um ihm mitzuteilen, daß geschieden sein müsse, um ihres Seelenheils willen, an das sie so lange Jahre nicht gedacht hatte.

Es hatte ihn schwer getroffen.

Diese Frau war in der Tat seine erste und einzige Liebe gewesen. Niemals hatte er den Weibern Macht über sich eingeräumt, bei keinem flüchtigen Abenteuer die Illusion eines Herzensverhältnisses empfunden, sondern alle Leidenschaft seiner starken Natur auf seine Wissenschaft und ihre menschenfreundliche Anwendung gerichtet. Zum erstenmal in der Abgeschiedenheit dieser Berghöhe, als er die blühende junge Frau neben ihrem dem Tode entgegenwelkenden Manne gesehen, wie sie ihr Los mit klagloser Ergebung trug, hatte er anfangs menschliche Teilnahme und bewundernde Verehrung empfunden, dann nach und nach ein sehnsüchtiges Verlangen, das ihm endlich über den Kopf gewachsen war.

Nach seiner redlichen und gewissenhaften Natur hatte er es mit dieser heimlichen Verbindung so ernst genommen, daß er sie als fürs Leben geschlossen ansah und an die Möglichkeit eines Bruchs von seiner Seite nie gedacht hatte. Dazu kam, daß eben durch die äußere Getrenntheit ihrer Lebenskreise das Verhältnis stets den vollen Reiz eines Ferienglücks behielt, das nur kurze Wochen dauerte und um so dankbarer genossen werden mußte. Daß es dabei freilich auch zu einer tieferen Gemeinschaft nicht kommen konnte, zu dem Besten, was ein richtiges Ehepaar in langen Jahren miteinander zu teilen und auszutauschen hat, kam ihm nicht zum Bewußtsein. Auf einmal war's ihm jetzt, als zerrisse ein Schleier, der seinem Blick bisher die nüchterne Wahrheit verhüllt habe, daß diese Liebe für sein Leben doch keine tiefere Bedeutung habe, daß der Verzicht auf sie keine so unheilbare Wunde schlagen könne, wie er in der ersten Aufwallung zu empfinden geglaubt.

Dann wieder machte er sich einen Vorwurf daraus, einer fremden Macht so ohne Widerstand das Feld geräumt zu haben. Diese Wochen hier oben waren ja die einzige Zeit gewesen, in der die Last seines schweren Berufs von ihm abfiel, er nach der Atmosphäre der Krankenzimmer und des Hörsaals reine Höhenluft atmen konnte. Das sollte nun aufhören. Denn in der alten Umgebung mit einem so ganz anderen Herzen herumzugehen, gleichsam als ein abgeschiedener Gatte, der gespenstig zu seiner Witwe zurückkehrt, war ein unmöglicher Gedanke.

So wogte es in seinem Inneren unselig hin und her.

Auf einmal wie er eben in seinem unmutigen Grübeln auf einen Stuhl gesunken war und die Augen zugedrückt hatte, um sich zu irgendeiner Entscheidung zu sammeln, hörte er hinter sich ein Geräusch, ein fröhliches Lachen und den Ausruf: Guten Tag, Onkel Hans! und fühlte sich von zwei kleinen Armen umfaßt. Sein Knabe, eben vom Turnen zurückgekehrt, war zu dem niedrigen offenen Fenster hereingesprungen, sehr vergnügt, den Paten unversehens überfallen zu haben.

Dem schoß eine warme Blutwelle gegen das Herz, als er den geliebten kleinen Kerl, nachdem er ihn wieder und wieder auf das frische Mündchen geküßt hatte, nun von seinem Halse löste und vor sich hin auf seine Füße stellte.

Ja, das war sein Fleisch und Blut, in jedem Zuge des noch zarten Gesichts die Frische und der frische Eigenwille, die seine eigene Knabenseele erfüllt hatten. Nur die schönen grauen Augen hatte er von der Mutter, die auch schon Neigung zeigten, sich halb zuzudrücken, wenn sie scharf in die Ferne sehen wollten. Dann aber sein schwarzes Haar und das feine, schmale Naschen und die etwas zu kurze Oberlippe – auf und nieder sein verjüngtes, verschönertes Ebenbild.

Er setzte sich mit dem Knaben auf das Sofa und hielt ein langes Gespräch mit ihm, ihn nach all seinen kleinen Interessen, Aufgaben und Vergnügungen befragend, und Hänsel gab auf alles mit der treuherzigsten Offenheit Antwort. Er sitze in der zweituntersten Klasse der Stadtschule, aber das Latein, das er nebenher beim Stadtpfarrer lerne, mache ihm weit mehr Spaß, er könne schon drei Deklinationen und werde über acht Tage amo anfangen. Auch zum Zeichnen finde er Zeit neben der Schule, dem Onkel werde er seine Häuser und Bäume zeigen, und besonders Tiere zeichne er gern, die seien aber furchtbar schwer. Er habe die scheckige Kuh gezeichnet, aber Trinchen habe ihn ausgelacht, das sei ja gar keine Kuh, sondern ein Mühlstein mit vier krummen Holzstöcken.

Johannes Helmbrecht hörte ihm zu, ohne viel hineinzureden. Die helle junge Stimme war ihm wie Balsam auf seine frische Wunde. Er fühlte plötzlich, daß er es nicht übers Herz bringen könne, sich so rasch von diesem seinem besten Besitz zu trennen; jedenfalls, wenn er auf die Mutter verzichten müsse, das Kind werde er nicht zurücklassen.

In solchen Gedanken ging er nach seinem Koffer und nahm ein paar Bücher heraus, die er dem Knaben reichte, eins für Käfersammler und ein Schmetterlingsbuch mit vielen bunten Abbildungen.

Du sollst mir zeigen, was du inzwischen gesammelt hast, Hänsel, sagte er, da der Knabe, vor Freude rot geworden, kein Wort des Dankes fand. In der kleinen Kiste dort habe ich dir zwei Kasten mit Glasdeckeln mitgebracht, da wollen wir die Käfer und Falter ordentlich hineinstecken, und ich zeige dir auch, wie man sie tötet, ohne sie zu quälen. Wenn die Kasten voll sind, bring' ich dir neue, du mußt nicht ruhen, bis du alle Arten, die hier im Gebirge zu finden sind, beisammen hast und die Namen weißt, die in den Büchern stehn.

Der Knabe war ihm in großer Aufregung beim Öffnen der Kiste behilflich, als es klopfte und ein Besucher sie unterbrach, der Assistent Helmbrechts und wohlbestallte Kurarzt der Heilanstalt zur Höhenluft. Hänsel nahm seine Bücher unter den Arm und lief überglücklich hinaus, allen im Hause zu zeigen, was sein guter Pate ihm mitgebracht hatte.

Der aber begrüßte den Kollegen herzlich, bot ihm eine Zigarre an und ließ sich von ihm über den Fortgang der Anstalt ausführlich Bericht erstatten. Der um vieles jüngere Arzt sah zu dem älteren sehr respektvoll hinauf. Er verehrte sein überlegenes Wissen und war ihm überdies Dank schuldig. Hatte er doch durch Helmbrechts Empfehlung die Stelle unten im Städtchen erhalten und war bald darauf auch zum Kurarzt oben im Seehof von ihm bestellt worden. Es gehe trefflich mit der Heilanstalt. Die dreißig Zimmer im Hause seien besetzt, täglich kämen neue Anmeldungen, die nicht mehr berücksichtigt werden könnten. Frau Harlander habe davon gesprochen, noch eine Dependance zu bauen. Jedenfalls werde es notwendig werden, die Hütten zum Übernachten im Freien zu vermehren.

Davon ließe sich reden, versetzte Helmbrecht. Einer Vergrößerung des Hauses aber könne er nicht zustimmen. Für den Heilzweck sei es nachteilig, wenn die Leute, die hier Genesung suchten, sich in einem großen Menschengewimmel sähen, das selbst die entlegenen Waldwinkel unsicher mache. Überreizte Nerven brauchten Ruhe und Einsamkeit, und die finanzielle Ausbeutung der günstigen Lage könne gegen den hygienischen Hauptzweck nicht in Betracht kommen. Die Wirtin habe das wohl nicht bedacht, werde sich aber seinen Gründen gewiß fügen.

Indem erklang von einem Türmchen auf dem Haupthause der helle Schall einer Glocke.

Wir werden zu Tisch gerufen, sagte Helmbrecht. Sie speisen doch heute mit uns?

Er bedaure, die freundliche Einladung nicht annehmen zu können. Er habe unten noch einen Krankenbesuch zu machen, und dann – er lächelte vergnügt – ich bin seit dem Mai ein Ehemann, und meine junge Frau erwartet mich. Ich habe sie aus Liebe geheiratet, große Schätze hat sie mir nicht zugebracht, überdies – Sie wissen, verehrter Herr Kollege, ein unverheirateter Doktor hat nicht das rechte Vertrauen in kleinbürgerlichen Häusern. Aber Sie werden uns hoffentlich die Ehre erweisen, morgen am Sonntag eine Suppe bei uns zu essen. Meine Frau würde sich so sehr freuen.

Helmbrecht dankte, erklärte aber, es sei noch ungewiß, ob er nicht morgen schon wieder abreisen müsse. Auf das bestürzte Bedauern des anderen sprach er von allerlei Umständen, die heute noch nicht zu berechnen seien. Übrigens werde er jedenfalls unten in seiner Wohnung vorsprechen, die Frau Kollegin zu begrüßen.

So trennten sie sich.


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