Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Drittes Kapitel.

Das Tischglöckchen hatte langst ausgeklungen, und immer noch stand Helmbrecht in seinem Zimmer, unschlüssig, ob er dem Rufe folgen solle.

Es widerstrebte ihm, die Frau, mit der er noch kaum sich ausgesprochen hatte, unter fremden Menschen wiederzusehn und eine unbefangene Miene zu heucheln. Dann aber bedachte er, daß wohl, wenn er ausbliebe, der Knabe nach ihm geschickt werden würde, oder eines der Mädchen, vor denen er um eine Ausflucht verlegen gewesen wäre. So spülte er nur den Reisestaub von Gesicht und Händen, vervollständigte seinen Touristenanzug durch eine Weste und verließ das Zimmer.

Es war sieben Uhr und die Dämmerung schon hereingebrochen, da die Sonne früh hinter der Waldhöhe im Westen hinabging. Nur im Tal unten, auf den Dächern des Städtchens und den fernen Hügeln lag noch ein goldener Schein, und der Rauch aus vielen Schornsteinen stieg in die windstille Abendluft hinauf.

Schon von weitem sah Helmbrecht die Lichter in der Halle und die Köpfe der dort bereits vollzählig um den langen Tisch Sitzenden. Die Fenster nach der Ostseite waren der Abendkühle geöffnet, er hörte das Summen und Raunen der verworrenen Tischgespräche und das Klappern der Schüsseln und Teller. Von der Decke herab hingen zwei große Lampen, sechs kleinere waren an den Holzwänden zwischen den Glasfenstern befestigt. Als er hereintrat, blendeten ihn im ersten Augenblick die sich kreuzenden Strahlen, so daß er keines der Gesichter deutlich sah. Er selbst aber wurde sogleich von einigen am Tisch erkannt und teils mit freundlichem Zuruf und Händewinken begrüßt, teils noch herzlicher von besonders dankbaren Patienten, die sich's nicht nehmen ließen, aufzustehen und zu ihm zu eilen, um ihm einen Händedruck zu bieten und nach seinem Ergehen zu fragen.

Als er sich an das helle Licht gewöhnt hatte und die Gesichter unterscheiden konnte, erkannte er unter den drei Dutzend Tischgenossen etwa die Hälfte als alte Stammgäste wieder. Sie saßen an der langen, sauber gedeckten Tafel in zwanglosen Kostümen und sichtbarem Behagen beisammen und sprachen den einfachen Gerichten mit frischer Eßlust zu, da sie meistens einen weiten Gang oder Kletterweg durch den Wald hinter sich hatten. Beim Nachtessen wurden keine Fleischspeisen aufgetragen, nur eine leichte vegetarische Kost, wie auch der Wein verpönt und nur ein dünnes Bier erlaubt war, das unten im Städtchen gebraut wurde. Gundel und Trinchen bedienten die Gäste mit Hilfe einer Kellnerin, die die Schüsseln auf einem großen Brett aus der Küche hereintrug. Seitwärts aber, an einem Kredenztischchen, an dem einen Ende der weiten Halle stand die Wirtin des Seehofs und überwachte alles. Mit am Tisch zu sitzen, wie es zu den Zeiten ihres Mannes Brauch gewesen war, hatte sie sich längst versagt.

Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf Helmbrecht geworfen, als er eintrat. Ihre Haltung war wie sonst, nur daß sie zerstreut und blasser als sonst erschien, was aber niemand beachtete. Auch er hatte sie mit dem ersten Blick an ihrem gewohnten Platz gesucht und rasch sich abgewendet. Während er dann die Augen herumgehen ließ, um noch einen freien Sitz zu finden, kam Gundel auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und führte ihn die lange Reihe hinunter zum anderen Ende der Tafel, wo noch zwei leere Stühle standen. Hier, Onkel Hans, sagte sie. Ich habe dir schon deinen Serviettenring neben das Kuvert gelegt und auch die Flasche mit Bier hingestellt, und gleich werde ich dir den ersten Gang nachservieren. Die Frau Gräfin hat dich schon erwartet.

Er war betroffen stehen geblieben und hatte sich gegen die Dame, die sich leicht erhob, ihn zu begrüßen, mit einer steifen Bewegung verbeugt.

Es war eine reizende junge Frau, die nicht über sechsundzwanzig sein konnte, die einzige am Tische, die ihren Hut aufbehalten hatte, einen großen schwarzen Spitzenhut mit einer leichten Reiherfeder. Zu dem aschblonden Haar stand er höchst malerisch und gab dem feinen weißen Gesicht, das er beschattete, den Reiz eines aus dem Halbdunkel vorschimmernden Pastellgemäldes. Seltsam war's, daß die zarten Brauen über den veilchenblauen Augen wie mit einem Tuschpinsel gezogen erschienen, und wer sich auf weibliche Toilettenkünste verstand, zweifelte auch keinen Augenblick, daß eine geübte Hand der Natur hier nachgeholfen hatte. Immerhin trug es zu der seltsamen Lieblichkeit des ganzen ersten Eindrucks bei, wie auch ein Zug von naiver Schüchternheit, wenn sie die Augen aufschlug, und ein kindliches Lächeln des etwas zu roten Mündchens auf jeden, der ihr zuerst entgegentrat, einen eigenen Zauber ausübten.

Doch ein Blick auf ihre reife Gestalt, an die sich das feine, sehr elegante helle Spitzenkleid eng anschmiegte, verscheuchte sofort den Eindruck, als ob ein kaum den Kinderschuhen entwachsenes Fräulein vor einem säße. Vollends nun, wenn sie zu sprechen anfing, erkannte man an dem scharfen Klang ihrer Stimme und der Art, sich auszudrücken, daß man vielleicht trotz des naiven Behabens einer kleinen Schlange gegenüberstand, vor deren spitzem Zünglein und glatten Ringen man sich zu hüten habe.

Guten Abend, lieber Doktor! hörte Helmbrecht sie jetzt sagen, während sie mit ihrem vertraulichsten Kopfnicken ihn begrüßte. Ich merke, daß Sie sehr erschrocken sind, mich hier zu sehen und zur Tischnachbarschaft mit mir verurteilt zu sein. Aber beruhigen Sie sich! Heut war kein anderer Platz mehr frei, und wenn Sie einen Stuhl zwischen uns lassen wollen, werden Sie's diesen Abend wohl aushalten können. Morgen werde ich unsre gute Wirtin bitten, es anders zu arrangieren, so daß die ganze Länge des Tisches zwischen uns ist.

Sie sind sehr im Irrtum, Gräfin, sagte er, sich neben sie setzend, in höflich trockenem Ton, wenn Sie mein Befremden, Sie hier zu sehn, zu Ihrem Nachteil deuten. Ich hatte allerdings nicht erwartet, daß Sie den Seehof noch einmal aufsuchen würden. Im vorigen Sommer fühlten Sie sich nicht sehr wohl hier oben.

Ich hatte guten Grund dazu, mich damals an keinem Ort wohlzufühlen. Aber es ist nun anders geworden. Ich bitte, mir zu gratulieren.

Wozu?

Vor acht Tagen waren die drei Jahre abgelaufen, die ich nach dem Gesetz warten mußte, bis der Irrsinn meines Mannes für unheilbar erklärt wurde. Ich bin nun frei, die offizielle Scheidung ist bereits eingeleitet. Was das für mich bedeutet, können Sie mir schwerlich nachfühlen. Sie sind zeitlebens Herr Ihrer Handlungen gewesen. Aber eine arme Frau, verheiratet und doch ledig, eine Mutter, die es nicht beklagen, sondern nur als ein Glück betrachten kann, ihr Kind nach drei Monaten verloren zu haben, weil es das Kind eines wahnsinnigen Vaters war – oh, Herr Doktor, auch Sie, der Sie mich nicht lieben, vielmehr für eine eitle, kokette Mondäne halten – nein, widersprechen Sie mir nicht, ich weiß ganz genau, daß ich Ihnen äußerst unsympathisch bin, – aber gleichviel, wenn Sie bedenken, was ich in meinen jungen Jahren schon gelitten habe, werden Sie mein Bestreben, mich durch allerhand Eitelkeiten zu betäuben, milder beurteilen und nicht alle Hoffnung aufgeben, daß ich jetzt, da diese Fessel von mir abgefallen ist, noch einmal ein ganz leidliches Weib werden möchte.

Ihre Stimme, die sie sehr in der Gewalt hatte, klang bei den letzten Worten nach einer tieferen inneren Bewegung. Er konnte sich einer gewissen Teilnahme mit der schönen Schwergeprüften nicht erwehren.

Ich kann Sie versichern, Gräfin, sagte er –

Sie unterbrach ihn rasch.

Es ist unnötig, lieber Doktor, daß Sie weiterreden. Ich weiß, was Sie mir versichern zu müssen glauben, was aber an Ihrer Antipathie vorläufig nichts ändert. Wir sind zwei sehr verschiedene Geschöpfe, Sie ein Mann in großem Stil und ich eine kleine Nippfigur. Vielleicht wachse ich noch, und Sie lernen dann besser von mir denken. Um eins aber bitte ich Sie schon jetzt: lassen Sie die »Gräfin« beiseite, die mir verhaßt war, seit ich schon in der Hochzeitsnacht erkannte, was an meinem Grafen war. Nennen Sie mich Frau Yvonne oder Yvonne schlechtweg. Das ist zwar auch nicht mein rechter Name, nur mein nom de guerre, den ich mir beilegte, als ich zur Bühne ging, weil ich ihn hübsch fand, wohlklingend und aristokratisch, während mein eigentlicher Taufname Berta entsetzlich spießbürgerlich klingt. Berta Hopfen – kann Sie's wundern, daß ich mich nicht besann, Yvonne Gräfin Hanstetten zu werden? Aber das liegt nun hinter mir. Ich gehe wieder ins Volk, wie's in einem Freytagschen Stücke heißt, und behalte von meiner gräflichen Herrlichkeit nichts als den Namen. Was sonst aus mir wird – wer weiß es? Ob ich wieder auf die Bretter zurückkehre – Sie dürfen mir glauben, ich habe Talent zum Komödiespielen – nun lächeln Sie boshaft, ich weiß, Sie denken, das hätte ich auch noch als Gräfin gezeigt – aber Scherz beiseite, ich war im besten Zuge, eine berühmte Ibsenspielerin zu werden – eine famose Hedda Gabler oder Frau vom Meere, trotz meiner Jugend – ich könnte Ihnen Kritiken von sehr ernsthaften Männern zeigen – und doch, das Leben vor und hinter den Kulissen – wer einmal tiefer hineingeschaut hat – nein, nein, der Theaterdämon soll mich nicht wieder packen. Ich habe keine andere Sehnsucht als nach einer stillen Häuslichkeit, einem Mann, den ich wirklich lieben und hochachten könnte, und einem Haufen hübscher, gesunder, lustiger Kinder, die ich vortrefflich erziehen würde, so daß sie nie auf den Gedanken kommen sollten, ihre Mama sei einmal eine moderne Weltdame gewesen, die ein ernsthafter Herr Doktor sich nicht zur Tischnachbarin ausgesucht hätte.

Sie lachte nun, ein unverstelltes herzliches Lachen, und auch er konnte sich nicht enthalten, mit einzustimmen. Das frühere Thema ließen sie fallen und kamen jetzt in ein unpersönliches Geplauder, von dem sie freilich fast allein die Kosten trug.

Zunächst drehte sich ihr Gespräch um den Seehof und dessen Bewohner.

Haben Sie sich die Tischgesellschaft schon angesehn? sagte sie, ihre Stimme dämpfend, obwohl die Nachbarn zu beiden Seiten in eifriger Unterhaltung begriffen waren. Die meisten sind Ihnen noch vom vorigen Sommer bekannt und seitdem nicht interessanter geworden. Aber auch die neu Hinzugekommenen sind nur von der Sorte, von der dreizehn aufs Dutzend gehn. Warum sind wir Deutsche nur so von allen Grazien verlassen, die Frauen geschmacklos, die Männer plumpe Barbaren? Besonders in unsern kleinen Bädern und Sommerfrischen macht sich die Spießbürgerlichkeit erschreckend breit. Ich war dieses Jahr drei Monate in Frankreich, natürlich mit meiner Mama, erst in Paris, dann in einem kleinen Seebade. Ich brauchte die Augen nur aufzumachen, um etwas Hübsches, Elegantes, Gutangezogenes zu sehn, selbst in der Bourgeoisie. Aber wie vorsündflutlich, wie hölzern und unschick sind unsere sogenannten Nebenmenschen! Es heißt freilich, die Deutschen trügen ihre Vorzüge inwendig. Sie rümpfen die Nase über die frivolen Franzosen, die etwas darauf geben, sich äußerlich gut zu präsentieren. Aber du lieber Gott, mit der vielgerühmten Sittlichkeit und deutschen Biederkeit sieht's auch windig aus. Sehn Sie die lange Dame da hinten neben der kleinen? Es sind Schwestern, Fräulein Amanda und Walli Wolf, die Ältere, mit ihrem Schriftstellernamen »Exzelsior«, schreibt jetzt einen großen Roman unter dem Titel »Mammon«, zu dem der Neid sie begeistert hat, da sie beide arm wie die Kirchenmäuse sind. Die Kleine opfert sich für die Schwester auf, zu der sie in jedem Sinne hinaufsieht, und lebt nur von Milch und Brot, damit nur die Dichterin sich ordentlich sattessen könne, denn sie selbst zahlt nur die halbe Pension. In den Mußestunden zwischen der Arbeit macht Fräulein Amanda dem schwarzbärtigen Herrn an ihrer Seite die Cour, einem Doktor Kowrat, der für Zeitungen schreibt. Sie verschwindet mit ihm oft halbe Tage lang im Walde, die Kleine sitzt indes zu Hause und schneidert für die geniale Schwester, oder kopiert ihr unleserliches Manuskript.

Sie scheinen schon tief in die Chronique skandaleuse des Seehofs eingeweiht zu sein, obwohl Sie erst vier Tage hier sind, sagte Helmbrecht.

Sehr einfach, ich habe hier die Bekanntschaft mit der Frau des Rektors erneuert, die der freiwillige Tugendwächter unsrer Kolonie ist. Sie ist beständig geladen mit sittlicher Entrüstung, am meisten gegen den eigenen Herrn Gemahl. Sie kennen den Enthusiasmus des alten Herrn für das nackte Griechentum und die unschuldigen antiken Sitten. Mit Vorliebe hält er sich zur Badezeit am See auf oder droben bei den Sonnenbädern, und einmal hat er sich sogar in einem unbewachten Augenblick in die Damenabteilung verirrt, zu allgemeinem Entsetzen. Beinah hätten sie ihn zerrissen, wie es dem alten griechischen Dichter – der Name fällt mir nicht ein – bei den berauschten Bacchuspriesterinnen ergangen sein soll. Vielleicht hat er das Sprichwort gehört, das im bayrischen Gebirge gilt: auf der Alm da gibt's ka Sünd'. Aber mit der Frau Rektorin ist nicht zu spaßen. Sie hält ihn jetzt um so kürzer am Bändel. Und sehn Sie da drüben die kleine Rothaarige neben dem blassen Herrn? Ich habe die Ehre, Ihnen eine entfernte Kollegin von mir vorzustellen, Fräulein Lilli Flügel, Operettensängerin, die ihre angegriffene Stimme hier wiederherstellen will. Ihr Nachbar ist ein Deutschrusse, Sascha Berg, Verfasser einer durchgefallenen Oper. Er rächt sich jetzt an der bösen Menschheit, indem er eine sinfonische Dichtung komponiert. Übrigens der einzige ein bißchen internationale Mensch in der ganzen Gesellschaft. Denn das junge neuvermählte Paar ihm gegenüber ist schon durch die beliebte Sitte als urdeutsch zu erkennen, seiner Zärtlichkeit vor aller Augen freien Lauf zu lassen, statt, wenn es sie nach Herzen und Küssen gelüstet, in ihr Kämmerlein zu gehn und die Tür hinter sich zuzuschließen. Übrigens bezweifelt die Frau Rektorin, daß sie überhaupt sich den Segen des Standesamts geholt haben.

Können Sie mir auch sagen, wer die Dame ganz unten am Tische ist, die das kleine Mädchen neben sich hat und sich nur mit ihm unterhält? fragte Helmbrecht. Sie hat ein anziehendes charaktervolles Gesicht, so wenig hübsch, ja eher häßlich sie ist.

Sie sind ein Menschenkenner, Herr Doktor, versetzte Yvonne. Die Dame ist die einzige hier, vor der ich Respekt habe, ein Fräulein Wanda Unverhofft. Zu dem Kind hat sie keinen Vater, verleugnet es aber nicht und hat sich als »Fräulein« ins Fremdenbuch eingetragen. Die Biederweiber sind natürlich empört und schneiden sie, aber das kümmert sie gar nicht. Ich habe sie angeredet und erfahren, daß sie ihres Zeichens Kunststickerin ist und Direktrice in einem Geschäft für kirchliche Paramente, und nur des Kindes wegen, das eine schwere Krankheit überstanden hat, ist sie hier heraufgekommen. Ich fand sie etwas zurückhaltend, aber sehr angenehm und sagte ihr, daß ich sie bewunderte, wie sie den bürgerlichen Vorurteilen die Stirn bietet. Sie zuckte nur die Achseln. Sehen Sie, lieber Freund, ich habe weder Talent noch Neigung, unsittlich zu sein. Aber wenn ich's wäre, würde ich den Mut meiner Unsittlichkeit haben. Denn nichts ist mir verächtlicher als die landläufige pharisäische Heuchelei, wenn man auch sagt, daß sie ein Kompliment für die Tugend sei.

Indem wurden am ganzen Tische die Stühle gerückt, die Gesellschaft erhob sich, die Herren zündeten ihre Zigarren an, die Damen traten zueinander und verließen die dumpfe Halle, um sich draußen im Freien zusammenzusetzen und mit allerlei Handarbeiten und eifrigem Geplauder die Zeit bis zum Schlafengehen hinzudehnen.

Helmbrecht hatte sich von seiner Nachbarin kurz verabschiedet. Sie war sichtbar gekränkt, daß er ihr entschlüpfte, statt sie ins Freie zu führen. Aber ihr Geschwätz, so amüsant es war, wurde ihm unerträglich; dies Wiedersehn hatte seine alte Abneigung gegen das kätzchenhaft schmeichelnde Geschöpf, das so scharfe Krallen hatte, nur bestärkt.

Mit Frau Maria wechselte er nur im Vorbeigehn einen stummen, traurigen Gruß. Dann flüchtete er in die Nacht hinaus, mußte draußen an der Küche vorbei, wo ihn die dicke kleine Köchin, die seit langen Jahren im Seehof am Herde stand, die übrigen Dienstboten und besonders freundschaftlich das Faktotum des Hauses, der hünenhafte Hausknecht, bewillkommneten.

Er hieß mit seinem vollen Namen Ludwig Löblein, wurde aber von allen nur Lutz gerufen oder, wenn man von ihm sprach, der lange Lutz genannt. Ein Bursch, der auf den ersten Blick so schläfrig und unbeholfen erschien, wie die meisten, deren Körper sich auf Kosten ihres Geistes weit über das Durchschnittsmaß in die Höhe gereckt hat. Ließ man sich aber näher mit ihm ein, so wurde man schon durch die drollig schlaue Miene, mit der er seine trockenen Reden begleitete, überzeugt, daß man es mit keinem tölpelhaften Riesen zu tun hatte. Auch war er trotz seiner ungeschlachten Hände zu jeglichem Handwerk geschickt, das zur Heilung der mancherlei Schäden in einem so großen Hauswesen erfordert wird. Er ersetzte den Schreiner, Wagenbauer, Maurer, Tüncher und Gärtner, so daß Frau Maria Harlander sich ohne ihn nicht zu behelfen gewußt hätte. Sie war trotzdem zuweilen drauf und dran, ihm den Dienst zu kündigen. Denn da keine ihrer Mägde ihm wiederstehen konnte, wenn er es darauf anlegte, sie zu erobern, so war die Wirtin fast jedes Jahr genötigt, wieder eine allzu Leichtgläubige fortzuschicken. Es gab dann eine stürmische Szene, worauf jedoch schon am nächsten Tage die stillschweigende Begnadigung des Sünders erfolgte, da seine Unentbehrlichkeit ihm einen Generalpardon erwirkte.

Helmbrecht machte sich nach vielen Händedrücken los und schritt dem See zu, an dessen stillem Ufer er lange auf einem Bänkchen saß, die Augen auf die spiegelglatte schwarze Flut geheftet, über die, als jetzt der Mond heraufkam, ein geisterhafter Silberschimmer sich ausbreitete. Es war ihm sehr unhold zumut, wechselnde Entschlüsse kamen und gingen in seinem Innern, zuletzt entschied er sich, jedenfalls den nächsten Tag noch auszuharren und einstweilen sich alles Grübelns zu entschlagen.

Als er endlich sich erhob und nach dem Hause zurückging, kam er an den Schlafhütten vorbei und sah gleich am Anfang eine ganz kleine, die früher dort nicht gestanden hatte. Sein Knabe lag darin, unter dem leichten Deckchen halb entkleidet, schon in festem Schlaf. Er neigte sich zu dem lieben Gesicht hinab und küßte es leicht auf die Augen. Einen Moment sah das Kind auf, lachte den Vater an und streckte die Arme im Hemdchen nach ihm aus. Gute Nacht, Hänsel! sagte Helmbrecht. Ich wußte gar nicht, daß du auch hier draußen schläfst. Laß dich nicht stören. Gute Nacht!

Die Augen des Knaben schlossen sich gleich wieder, die Arme sanken zurück. Zu den anderen Hütten, da neun Uhr die obligate Schlafenszeit für alle war, kamen jetzt auch die anderen Kurgäste gewandelt, meist paarweise, der Russe führte die Sängerin, die Schriftstellerin schien dem Journalisten zuzureden, es doch auch einmal mit dem Nächtigen unter freiem Himmel zu versuchen, fand aber kein Gehör. Dann wurde es auch in den Hütten still und nur noch einzelne Worte flogen von dieser zu jener hinüber.

Als Helmbrecht in sein Zimmer trat, fiel das Licht des halben Mondes mit zartem Schimmer durch das offene Fenster herein. Er trat an den breiten Sims und weidete seine Augen an dem Anblick des reinen Firmaments und den windstillen Wipfeln der Bäume, die aus der Tiefe heraufragten. Jeder Kiesel auf den Gartenwegen gegenüber glänzte wie Silber, und zwischen dem dunklen Gebüsch leuchteten die weißen Rosen, während der spielende Strahl des Springbrunnens mit leisem Rauschen aufstieg und ins Becken zurückfiel.

Was für ein Ton aber klang plötzlich in die Stille herein und näherte sich von der Seite des alten Hauses her? Ein Geigenspiel, lieblich leise beginnend, dann anschwellend und wieder sinkend, eine weiche, sehnsüchtige Melodie, die nach einem alten italienischen Meister klang. Und jetzt trat auch die, von der die feine Nachtmusik ausging, aus den Schatten des Wirtsgartens hervor, eine schlanke Mädchengestalt in einem grauen Kleide, mit einem blanken Silbergürtel um die Mitte, den Kopf, der noch nicht deutlich zu sehen war, ohne Hut, eine kleine Geige gegen den freien Hals gedrückt, auf der der Bogen mit sicherer Hand gelenkt auf und nieder fuhr. Neben der Spielerin schritt langsam ein großer Hund, von Bernhardiner oder Leonberger Rasse, der immer Schritt mit seiner jungen Herrin hielt. Das Bild war so reizend, die Melodie so entzückend zart und kräftig zugleich, daß der Lauscher am Fenster eine gute Weile wie von einem Zauber gebannt regungslos stand. Erst als die Spielerin zu dem Springbrunnen gelangt war und ihn umkreisend den Rückweg antrat, schien Helmbrecht aus einem Traum, der ihn eingesponnen, zu erwachen. Er bewegte grüßend beide Arme der seltsamen Erscheinung entgegen, wie um sie in ihrem ruhigen Gange zurückzuhalten und zu ihm herzuwinken. Crone! rief er halblaut, aber mit dringender Bitte, Crönchen, Cröneli, bist du's wirklich? Willst du nicht auf einen Augenblick zu mir ans Fenster kommen, um mir eine Hand zu geben und gute Nacht zu sagen?

Die schlanke Gestalt schritt, in ihrem Spiel fortfahrend, ruhig weiter, nur der Hund stieß ein dumpfes Knurren aus und blieb stehen. Als aber seine Herrin nicht auf ihn achtete, folgte er ihr gehorsam bis an das Ende des Tiergartens. Da ließ sie den Bogen sinken, bewegte ihn grüßend nach dem Fenster zurück und entfernte sich dann, ihre Nachtmusik fortsetzend, bis sie im Schatten der Ebereschenbäumchen seinen Blicken entschwand.


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