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Ja, mancherlei Gestalten sah Ilse unter Gräfin Helmstedts Führung! Schmerzlich nur war ihr das Zusammentreffen mit den vielen Musikern, die sich bei der Freundin versammelten. Zu stark regte sich dann in ihr die Erinnerung an jenen kurzen Traum allereigensten Lebensinhalts und Zweckes. Am deutlichsten ward ihr dies bei einem Konzert, das die durchreisende Lydia Neuland in Berlin gab. Wie Ilse all jene Lieder nun wieder vernahm, die sie selbst unter Lydias Anleitung einst geübt, da glaubte sie, bei jedem Ton nicht nur die volle Stimme der Sängerin, sondern, einem fernen leisen Echo gleich, auch den Klang der eigenen toten Stimme noch einmal zu hören – – und in ihr stiegen all die wehen Gedanken auf, die durch der Tage Abwechslung eingeschläfert worden, von denen sie aber trotzdem wohl gewußt, daß sie wartend doch immer da gewesen – denn ihre Seele wies ja dumpfe Stellen, in denen der Schmerz schlummerte und bei der ersten harten Berührung erwachen konnte.

Oftmals genügte ein Wort, ja der bloße unerwartete Anblick Theophils, sie, wie in einem Blitzlicht, erkennen zu lassen, was hinter all den neuen gleitenden Erscheinungen die einen Augenblick vergessenen und doch unabänderlichen Faktoren ihres Lebens waren. Gerade angesichts all der Möglichkeiten, die hier die Welt von allen Seiten bot, kam es ihr mit voller Grausamkeit zum Bewußtsein, daß sie im Schlafwandel der Jugend in eine Falle geraten war, aus der sich herauszuarbeiten alle Jahre des Lebens nicht lang genug sein würden. Dann überkam sie Hoffnungslosigkeit, mitten in dem bewegten Treiben, und gleichgültig schien alles neben dem Einen, das blieb.

Aber sie suchte solche Stimmungen abzuschütteln, denn viel wackere Tapferkeit lebte in ihr – und sie hatte auch schon die der verschwenderischen Jugend meist fremde Kunst erlernt, gute Tage nicht ungenutzt zu vergeuden.

Und gute Tage waren diese ersten Berliner Zeiten.

Erst später einmal sollte Ilse erkennen, daß sie, wie alle vorherigen Jahre, nur ein Vorspiel gewesen.

*

Neben all dem Neuen hatte Ilse aber auch etwas sehr Altbekanntes in Berlin gefunden. Greinchen lebte seit Papas Tod von der Pension, die er ihr ausgesetzt, in einem der in früheren Kiefernwäldern entstandenen Vororte, und war dort umgeben von den alten Mahagonimöbeln aus den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die er ihr vermacht hatte. Da stand der Sessel mit dem verstellbaren Buchhalter an der Armlehne, der viereckige Ofenschirm, in den das mit Perlen gestickte Bildnis eines weißen Hündchens eingelassen war, die Chiffonniere, durch deren Glasscheiben man ein Idyll von Porzellanlämmern gewahrte, das Sofa, dessen Bezug aus schwarzem Roßhaargewebe mittels Nägel mit weißen Porzellanköpfen gespannt war. Weiße, gehäkelte Antimakassars lagen auf den Polstermöbeln, und ein ebensolcher Schoner schützte die bunten Blumen der Plüschdecke auf dem runden Tisch mit den Klauenfüßen. Über der Mitte des Sofas aber hing an der Wand eine Photographie Papas, um die eine schwarze Kreppschärpe geschlungen war. – Und inmitten all dieses altväterischen Hausrats, der aus Zeiten geistiger und politischer Einengung stammte, war ein völlig neues, fortschrittlich modernes Greinchen erwacht. Zwar brachte sie dem Kind, wie sie Ilse nannte, die gleiche altgewohnte Herzlichkeit entgegen, aber daneben entdeckte Ilse auch gänzlich Unerwartetes in dem ältlichen Fräulein mit dem gutmütigen Bulldoggengesicht. Denn Greinchen, die Jahrzehnte ihres Lebens ganz dem Dienste eines kränkelnden, oft griesgrämigen Mannes geweiht, der ihre Aufopferung kaum bemerkt hatte, war jetzt in ihrem vorgerückten Alter unter die Frauenrechtlerinnen vorgeschrittenster Richtung gegangen. War es nur der Einfluß der großen Stadt oder ein Bestreben, etwas von ihrer eigenen, grenzenlosen und unbeachteten Hingebung nachträglich zurückzunehmen – jedenfalls besuchte Greinchen jetzt eifrig Versammlungen zu Gunsten des Frauenstudiums, unterzeichnete scharfe Resolutionen und sprach selbst, mit erhitzten Wangen und bebender Stimme, von der Ausnutzung des Weibes durch den Mann, von dem Rechte auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, von dem Anspruch auf die nämlichen Bildungsmöglichkeiten. All diesen beredt vorgetragenen Theorien und Forderungen lauschte Ilse ehrfürchtig und erstaunt, daß so viel geistige Regsamkeit in dem kleinen dicken Fräulein gesteckt, das sie selbst doch früher stets so viel minder bewertet hatte, – aber wenn Greinchen mit viel Entrüstung, aber wenig Sachkenntnis, auf »die Knechtung der Frau in der Ehe« zu sprechen kam, da zuckte ein wehmütig überlegenes Lächeln um Ilses Lippen, und sie fühlte, daß sie der erregten Frauenrechtlerin über dieses eine Kapitel viel aufklärende Winke aus eigenster Erfahrung hätte geben können.

Ilse hatte Greinchen zu einigen Vortragsabenden begleitet, und dabei war ihr zum ersten Male zum deutlichen Bewußtsein gekommen, daß Frau sein eigentlich nichts anderes heißt, wie zu den Menschen zweiter Kategorie zu zählen. Sie selbst, wie alle die Frauen, die da in dem Saale sich versammelt hatten, gehörte zur großen Schwesterschaft der minder Berechtigten. Aber während sie selbst für ihren persönlichen Fall dies stets als etwas Unabänderliches empfunden hatte, trachteten jene durch Agitation und Propaganda dagegen anzukämpfen und ihre Lage zu verbessern. Das Tapfere, das in der Aufnahme solch ungleichen Ringens lag, erregte Ilses Sympathie, und sie begriff, daß diese Frauen ihre ganze Energie und Kraft dafür einsetzten, den nach ihnen Kommenden bessere Entwicklungs- und Betätigungsmöglichkeiten zu schaffen, vielleicht würde es ihnen auch wirklich gelingen, allmählich das Los der Millionen erwerbstätiger Frauen günstiger zu gestalten. Ja, den vielen war vielleicht ein klein wenig zu helfen. – Was aber vermochte Gesetzgebung für eine einzelne arme Frau, die sich im Lebensweg geirrt? – –

»Hast du eigentlich Justizrat Schilderer schon mal gesehen, seit du in Berlin bist?« fragte Greinchen, als Ilse eines Tages wieder in ihr Vororthäuschen kam.

»Nein,« antwortete diese, »ich bin absichtlich nicht zu ihm gegangen, weil ich weiß, daß es Theophil nicht recht sein würde – er schreibt ja Schilderers Einfluß Papas Testament zu, durch das ihm die Verwaltung meines väterlichen Erbes entzogen ist.«

»Na,« sagte Greinchen mit pfiffig frohem Lächeln, »wer nun auch damals deinen Vater dahin beeinflußt haben mag, hat dir auf alle Fälle einen großen Dienst geleistet.«

»Ach weißt du,« erwiderte Ilse seufzend, »bisher hab ich davon nur Reibereien und stichelnde Bemerkungen von Theophil und seiner Mutter.«

»Das will ich gerne glauben,« sagte Greinchen. »Sie fühlen eben, daß dir dein Vater damit die materielle Grundlage künftiger Unabhängigkeit hat bereit halten wollen.«

»Künftiger Unabhängigkeit?« wiederholte Ilse fragend.

»Nun ja,« antwortete Greinchen ganz trocken und geschäftsmäßig, »während unseres Aufenthalts in Weltsöden ist es deinem Vater und mir doch völlig klar geworden, daß du es in der dortigen Umgebung und Behandlung nicht sehr lange würdest aushalten können, und daß wohl auch deine Ehe zu denen gehören wird, über die die Welt das Nähere bei der Scheidung erfährt.«

»Aber Greinchen!« rief Ilse, »und das alles sagst du mir so ganz ruhig und wie ... selbstverständlich!« –

»Ja, liebes Kind,« antwortete das alte Fräulein, »warum sollte ich mich denn beim Gedanken an ein so häufiges Vorkommnis aufregen? Viele der Frauen, mit denen ich heute zusammen arbeite und kämpfe, haben genau das früher mal durchgemacht; auch sie hatten sich im Wege geirrt und haben dann ihre Freiheit zurück erobert. Dem Wert ihrer Persönlichkeit hat es nichts geschadet, und sie haben erst nachher ihr eigentliches Tätigkeitsfeld gefunden. – Die Hingabe an einen Mann,« dabei sandte Greinchen einen langen Blick zu der mit Krepp umschlungenen Photographie über dem Sofa, »die wollen ja die meisten Frauen durchaus mal kennen lernen – aber, glaub mir, die Männer sind und bleiben nun mal die ewig Verständnislosen, die Unterdrücker! Der Kampf für die Rechte der eigenen Geschlechtsgenossinnen gewährt eine ganz andere Befriedigung. – Auch du wirft noch zu uns kommen, wenn du dich erst frei gemacht hast.«

»Ja, Greinchen,« sagte Ilse, »ich will ja gar nicht versuchen, vor dir zu tun, als ob ich mit Theophil etwa glücklich wäre – aber um mich, wie du sagst, frei machen zu können, müßten doch wohl noch ganz andere Gründe vorliegen – er hat mir ja schließlich kein besonderes Unrecht angetan.«

»Na, warte nur nicht, bis er dir eines vorwerfen kann,« erwiderte Greinchen. »Und, Ilse, vergiß nicht, zum nächsten Referat über die Lage der Fabrikarbeiterinnen zu kommen.« –

Während Ilse nun Greinchens von Kiefern umstandenes Häuschen verließ, den im Sande abgesteckten Straßen der künftigen Villenkolonie bis zum Bahnhof folgte, und sie dann in dem Vorortzug zur Stadt zurückfuhr, hallten die eben vernommenen Worte noch lange in ihr nach. Es war so seltsam gewesen, sachlich nüchtern erörtern zu hören, woran sie bisher zu denken kaum je gewagt. Eine gewisse Beruhigung hatte freilich darin gelegen: etwa, als ob in einen finsteren Raum, wo sie allerhand Spuk vermutet, ein plötzlicher Lichtschein gefallen wäre und offenbart hätte, daß da in Wirklichkeit nur allerhand nützliche Geräte standen. Aber zugleich welch beängstigender Ausblick auf Streit und peinliche Unterredungen, auf Enthüllungen innerster, verborgener Erlebnisse. Oh, besser tausendmal, es alles weiter tragen, und daß nicht zu allgemeinem Gesprächsstoff würde, was so unendlich schmerzlich war! – Und dann mußte Ilse lächeln: Wie war Greinchen, deren eigenstes Leben in stillster, ereignislosester Hausbackenheit verlaufen, für andere doch so rasch zur Heraufbeschwörung schwerster Konflikte und äußerster Entschließungen bereit! Und als Ersatz und Trost für alles andere das Selbstvergessen in der Frauenfrage? Das mochte in Greinchens Jahren vielleicht möglich sein, aber für sie selbst? Ach nein! – Und dunkel fühlte Ilse, daß ihr noch nicht gegeben, in der Not der Millionen die eigene, oft so brennende Glückssehnsucht zu vergessen. –

Der Vorortzug hatte das freie Land verlassen, wo heute noch der Pflug die Erde aufwarf und todgeweihte Kiefern standen. Bald würden sich an ihrer Stelle neue Häuser erheben, und einige aus den Millionen würden hier draußen wohnen – wie Vorposten, denen bald die großen Scharen folgen. Der Zug, der draußen im flachen Lande ein weithin sichtbarer, eilender, schwarzer Streifen gewesen, – über dem ein zweites duftigeres, weißes Band schwebte, das mit ihm geeilt war, – glitt nun auf hohen Bogen zwischen den ersten ragenden Häusern hinein in die riesige Stadt. – Er verschwand darin wie verschlungen, sein weißer Dampf ward aufgesogen von all dem anderen, was da auch qualmte, rauchte, fauchte, und die Menschen, die er gebracht, und die draußen in der Leere wie Persönlichkeiten erschienen waren, verschwanden hier im Gewühl gleich Atomen. –

*

Es kamen nun trübe, lastende Wintertage.

In den Zimmern war es so dunkel, als hingen vor allen Gegenständen graue Schleier, durch die sie nur undeutlich hindurchschimmerten. In den Ecken verdichtete sich das Grau zu tiefer Finsternis, die Geheimnisvolles zu bergen schien. Wie Schatten im Nebel bewegten sich die Menschen, wenn das Hausmädchen morgens in Ilses Zimmer trat und die Vorhänge aufzog, sickerte ein schwacher Schimmer fahlen Lichtes herein, aber schon ein paar Schritte vom Fenster entfernt war es erloschen und untergegangen in all dem lastenden Grau.

Alle Morgen traf Ilses erster Blick drei bunte Drucke alter englischer Rennbilder, die ihrem Bette gegenüber hingen und auf denen in dieser möblierten Wohnung schon die Blicke so vieler Mieter geruht haben mochten. Das eine stellte vor, wie ein ganzes Feld schlanker sehniger Pferde mit Jockeys in buntem Dreß zum Start bereit steht; der Starter hält das Fähnchen, mit dem er das Signal geben soll, und das ganze Feld wartet auf das Zeichen – seit fünfzig Jahren wartet es schon so! – Auf dem zweiten Bild wird ein Graben genommen – ein Pferd ist dargestellt, wie es eben beim Sprung hoch in der Luft schwebt. Viele Generationen von Pferden sind gekommen und gegangen, aber dies eine bleibt immer so zwischen Himmel und Erde hängen. Das dritte Bild zeigte die Tribüne. Eifrig beugen sich all die Damen in frühviktorianischen Trachten nach einer Seite, um die Pferde beim Finish zu sehen, und unten im Paddock recken sich Jockeys und Sportsleute in Vatermördern und seltsam hohen Hüten die Hälse aus, um von weitem den Sieger zu erkennen – aber sie können ihn noch immer nicht erblicken, ob sie gleich so viele Jahre ausschauen. Die drei Bilder waren Ilse allmählich zu einem Alpdruck geworden, sie empfand sie als Fragen, die endlich mal gelöst werden mußten. Manchmal in den Nächten dachte sie: Ob nun wohl der Sieger eintrifft? Aber der nächste Morgen zeigte, daß er noch immer nicht durchs Ziel gegangen. –

So war der Tag des Vortrags über die Lage der Fabrikarbeiterinnen gekommen, und Ilse sagte Theophil, daß sie ihm gern beiwohnen wolle. Doch er erwiderte, das sei unmöglich, weil er für sie beide eine Einladung zur Soiree bei Herrn von Tolck-Engel, einem einflußreichen Parlamentarier, angenommen habe. – »Überhaupt steckst du mir zu viel in all diesen Dingen,« sagte er ärgerlich, »und was heißt das: die Lage der Fabrikarbeiterinnen bessern zu wollen? – Wenn sie sich mit dem Verdienst ihrer Männer zufrieden geben und hübsch bescheiden leben wollten, wie früher, brauchten sie überhaupt nicht in die Fabriken.«

»Viele haben wohl keine Männer,« sagte Ilse zaghaft, denn sie fühlte sich trotz Greinchens Belehrungen unsicher auf den Gebieten der Frauenfrage. –

Theophil aber beachtete ihren Einwand nicht und fuhr fort: »In all diesen Frauenbestrebungen liegt eine gewisse Auflehnung gegen die von altersher bestehende Ordnung. Gräfin Helmstedt hat dich wohl da hineingebracht?«

Doch nun lachte Ilse. Ein leises, freudloses Lachen war es. Und sie antwortete: »Ach nein, Theophil, da irrst du, – denn Frauen, die so glücklich verheiratet sind wie Gräfin Helmstedt für die ist die Frauenfrage ja gelöst, und sie haben gar keine Zeit darüber nachzudenken.«

»Und das soll für dich bedeuten ...?«

»Nun,« antwortete sie mit dem etwas wehmütigen Spott, der ihr hier in Berlin angeflogen war, »mir bliebe allenfalls noch Zeit, über ungelöste Frauenfragen zu grübeln – aber – wozu von all dem reden!« –

»Allerdings – und um so mehr, als ich im Reichstag heut wirklich nicht ob all dieser Kindereien zu spät kommen darf – also ich hol dich heut abend zu der Soiree bei Tolck-Engels hier ab.«

»Ginge es wirklich nicht, daß du mich entschuldigtest?« fragte sie noch einmal furchtsam, als er schon Mantel und Zylinder anhatte, »ich weiß nicht warum, aber ich möchte so gar nicht hin.«

»Mir dagegen kommt es sehr viel darauf an, und es schickt sich, daß du dich bei meinen Parteifreunden zeigst – und nun, liebes Kind, halte mich nicht länger von Wichtigerem zurück.« –

Mit feierlichen Schritten ging er davon. Sie war mechanisch ans Fenster getreten und starrte hinaus, wo alles grau und verschwommen war. Und dann sah sie Theophil unten in der Straße zum Reichstag schreiten, würdevoll sogar unter dem Regenschirm. Wie sie die kleiner und kleiner werdende, im rinnenden Grau schwindende Silhouette betrachtete, fuhr es ihr durch den Sinn: Es gibt Frauen, die ihren Männern so alle Tage nachblicken, um noch ein paar Sekunden länger ihre Gestalt sehen zu können, und die abends wieder da stehen und eben so hinausspähen, um die Heimkehrenden nur ja schon von weitem zu entdecken, und sich dabei sagen: gleich, gleich werde ich ihn wieder haben! – All das wird es in meinem Leben nie geben! –

Ilse lehnte noch lange am Fenster und starrte hinaus, und obschon sie die Dinge draußen kaum als Einzelheiten wahrnahm, empfand sie sie doch in ihrer Gesamtheit als bedrückend. Es war, als zöge die Trübsal durch die Lüfte gleich einem schattenhaften Wesen, in langen, wehenden Schleiern, über das stumpfe, dunkle Krollsche Gebäude kam sie geflogen, schwebte über die dürren Bäume, an deren Zweigen Fetzen ihres Gewandes hängen blieben, umkreiste wieder und wieder die Siegessäule, eine blaßgraue Nebelboa um sie windend, schleifte ihre lang hernieder schleppenden Hüllen über die Kuppel und Dächer des Reichstags, breitete ihren grauen wallenden Mantel über die ganze große Stadt. Niemand, der gerade in den Straßen ging, auf deren nassem Asphalt sich die Bäume und ersten Laternenlichter spiegelten, erkannte die Züge der Trübsal, wie sie droben durch die Lüfte schwebte, aber unsichtbar lastete sie doch auf allen.

Auch auf Ilse senkte sich vom Himmel, aus dem alles Licht erstorben, eine unsichtbare Schwere immer bedrückender nieder, und aus dieser Beklemmung heraus erwuchs in ihr ein Gefühl unendlicher Sehnsucht. Schwingen hätte sie haben mögen, die weit ausgebreitet durch den Nebel tragen, – wie dort der große dunkle Vogel, der eben lautlos über die kahlen Wipfel des Tiergartens glitt und im Grau verschwand – fort, fort! – Und plötzlich mußte sie an die weiten Fernen der Erde denken, in denen Onkel Thilo einst geweilt, an Palmenbäume mit blanken knisternden Blättern, zwischen denen blaue Riesenschmetterlinge spielen, an weiße Paläste, die am Ufer südlicher Meere in der Mittagsglut träumen. Ob auch dort überall die suchende Sehnsucht lebte? Oder ob es vielleicht weit, weit draußen eine bestimmte Stätte der erfüllten Sehnsucht gab? – wonach sie sich aber sehnte, hätte Ilse dabei kaum zu sagen vermocht. Es war wie ein Tasten im Dunklen, nach Dingen, die es da irgendwo geben mußte, und die sie nicht finden konnte, ein ahnungsvolles Öffnen der Arme, ein Beben der Lippen, ein atemberaubendes Pochen im Herzen – ein zitterndes Hoffen, Schönes, unsagbar Schönes zu erleben. –

Und doch zugleich eine Angst.

Als sie sich dann später für die Soiree ankleidete, wurde diese Angst immer stärker und unerklärlicher; sie mußte innehalten, sich setzen. »Ich will nicht in diese Gesellschaft. – Ich will nicht,« sagte sie plötzlich ganz laut, als läge darin eine Rettung. Dann aber kam es ihr selbst kindisch vor. Wovor fürchte ich mich nur, fragte sie sich, und eilte nun, fertig zu werden. Denn Theophil, der stets in Sorge war, zu spät zu kommen, mahnte schon ungeduldig an der Tür. – Als sie dann ihr Zimmer verließ, fiel ihr Blick noch einmal auf die bunten englischen Drucke: wie gespannt doch gerade heute abend die Damen in den frühviktorianischen Trachten nach dem Sieger auszuspähen schienen – und er kam und kam noch immer nicht. –

Die Gesellschaft bei Theophils politischem Parteifreund, Herrn von Tolck-Engel, schien dann auch wirklich wie alle Gesellschaften in diesem Hause zu verlaufen, und Ilse selbst dünkte ihre Angst davor nun völlig lächerlich. Eine Fürstlichkeit, die bei solchem Fest als Ehrengast nicht fehlen durfte, um der ganzen Veranstaltung etwas ihres eigenen Glanzes zu verleihen, war vorhanden: in diesem Falle irgendeine Herzogin Wanda; und auch dafür war wie immer gesorgt, daß jemand da sei, der es verstände, die steif und zwecklos herumstehenden Gäste in etwas angeregtere Stimmung zu versetzen: an jenem Abend zum erstenmal ein berühmter Komiker. Etwas ängstlich blickten auf ihn die nur an musikalische Darbietungen gewohnten Mütter erwachsener Töchter. »Aber sie können ganz unbesorgt sein,« sagte beschwichtigend die Hausfrau, »ich habe ihm natürlich eingeschärft, er dürfe, wegen der jungen Mädchen, ja nicht etwa gar zu komisch sein.« –

Der Komiker wurde der Herzogin vorgestellt, die es liebte, als Frau zu posieren, die selbst intellektuell hätte sein können, wenn sie nur gedurft. Im Flüsterton wurde von ihr gesagt: »wäre sie nicht als königliche Prinzessin geboren, so hätte sie sicher Hervorragendes geleistet,« Auf welchem Gebiet, wurde dabei nie näher bezeichnet, man seufzte nur verständnisinnig, als sei der Welt da Großes vorenthalten worden.

»Ich habe Sie schon oft auf der Bühne bewundert,« lispelte die Hoheit, und während der Komiker ob so viel Huld in Ehrfurcht zusammenklappte, raschelte sie in ihrem engen, wie Eidechsenhaut schimmernden Kleid zum nächsten der eines ihrer Worte harrenden Gäste.

Nachher flüsterte sie, mit einem Blick auf den Komiker, Frau von Tolck-Engel zu: »Es ist so wohltuend, mal mit solchen Leuten zu verkehren, man wird da von einer so ganz anderen Luft angeweht.« Sie empfand den prickelnden Reiz, einen gefährlichen Ausflug in unheimliches Grenzgebiet gemacht zu haben. –

Nachdem die Hoheit genügend Cercle gehalten, ließ sie sich auf einem Sofa im großen Saale nieder, umgeben von den würdigsten Damen, unter denen sich auch Fräulein von St. Pierre befand. Und der Komiker begann seine Rezitationen. Hausfrau und Mütter konnten unbesorgt sein. Es kam kein Wort vor, das die wohlgehütetste Komtesse nicht hätte hören dürfen. Dafür war es allerdings auch nicht gerade sonderlich komisch. –

»Hübsch – sehr hübsch,« lispelte die Hoheit nach jeder Nummer, und die sie umgebenden würdigsten Damen flöteten ihr nach: »so dezent – so zart.« –

Während Ilse dem Vortrag halb zerstreut lauschte, überschlich sie, wie bisweilen in Gesellschaft, ein Gefühl völligen Fremdseins. Und doch kannte sie alle Welt. Sie hatte den Exzellenzen-Damen guten Abend gesagt und war der Hoheit vorgestellt worden. Die jungen Mädchen hatten vor ihr den jeder verheirateten Frau gebürenden kleinen Knix gemacht, der zu sagen scheint: »Heut knixe ich noch vor dir, aber wenn ich in ein paar Wochen einen der Leutnants geheiratet habe, die dort in der Ecke stehen, brauche ich es nicht mehr.« Und Ilses Augen hatten, wie die so mancher Frau, darauf geantwortet: »Du süßes, kleines Gänschen, wie viel lieber knixte ich doch vor dir!« Dann waren die Leutnants aus den Ecken gekommen und hatten sich ihr vom Sohn des Hauses vorstellen lassen – immer gleich fünf oder sechs auf einmal, wodurch sie mehr generelle wie individuelle Bedeutung gewannen und an wandelnde Ziffern der Militärstatistik mahnten. Und auch die ernsten offiziellen Herren hatten Ilse begrüßt, Minister, Unterstaatssekretäre, von denen einige den Landesorden der Hoheit angelegt hatten, und die alle denselben Ausdruck trugen: etwas müde, etwas süffisant, wie lebendig gewordene Artikel der Norddeutschen, die zu sagen scheinen: – »Liebes Kind, das verstehst du ja doch nicht, warum soll ich dir's noch lang erklären.«

Ja, Ilse kannte alle Anwesenden, und doch fühlte sie sich an diesem Abend so ganz besonders fremd und einsam. Und was kannte, was wußte sie denn auch von all diesen Leuten? Eigentlich doch nur ihre Namen. Es ist ja nie viel, was einer vom anderen wirklich weiß. Denn jeder ist ein Geheimnis und eine Einsamkeit. Jeder lebt auf seiner eigenen kleinen Insel, als müsse er wachen über etwas, das er da verborgen.

Ilse blickte an all diesen scheinbar höflich Lauschenden entlang. Von Manchen war die übliche Maske während des Vortrags etwas herabgeglitten. Sie dachten ersichtlich an ganz andere Dinge – und nicht an sonderlich komische. Einen neuen fremden Ausdruck trugen sie plötzlich, vielleicht war das der wahre. – Denn was sonst alle verbargen, trat jetzt, da sie sich unbeobachtet wähnten, und ihnen selbst wohl kaum bewußt, einen Augenblick zutage. – »Aber was mochten sie wohl alle zu verstecken haben?« dachte Ilse. Und sie fand die Antwort in den vom Willen unkontrollierten Zügen. Die meisten verbargen wohl geheime Sorgen, Ehrgeize, Kränkungen, Ängste und viel, sehr viel Langweile – und einige, ganz wenige, hüteten ein bißchen heimliches Glück. –

Ja, auch solche gab es, und es war Ilse, als könne sie auf diesen wenigen, weicher und gütiger gewordenen und verträumt lächelnden Antlitzen das Wort lesen: »Glück, Glück.«

Selbst ganz verträumt, sprach sie es leise vor sich hin: »Glück, Glück.«

Und dann mußte sie plötzlich die Augen heben, mußte aufschauen und von fremder Gewalt gezwungen nach dem anstoßenden Salon blicken. – Da in der offenen Tür stand Wolf von Walden. –

Sie starrte ihn erstaunt an. War er es denn wirklich? und wie kam es, daß er hier so plötzlich vor ihr auftauchte? Dann fiel ihr ein, daß sie bei Helmstedts gehört hatte, er würde nach Berlin berufen werden. Aber sie hatte nicht geahnt, daß sein Kommen so nahe bevorstände. Und nachdem sie ihn so, ganz in Gedanken, einige Augenblicke angestarrt hatte, besann sie sich endlich und erwiderte mit einem etwas verwirrten, lächelnden Nicken seinen Gruß. Er sah dabei so froh aus – als sei es etwas sehr Schönes, von ihr gegrüßt zu werden – da nickte sie ihm unwillkürlich ein zweites Mal zu und errötete dann, daß sie es getan.

Das kleine Nebenspiel ging während des Vortrags und über die Köpfe der Zuhörer zwischen ihnen beiden hin und her. Niemand bemerkte es. Nur Fräulein von St. Pierre, die gerade mit prall behandschuhter Rechten die langstielige Lorgnette über die Nase hielt, sah es. – Und wurde aufmerksam.

Kaum hatte der Komiker geendet und die Hoheit sich erhoben, als Walden auch schon neben Ilse stand.

»Sie sind wieder da?« sagte sie und fühlte dabei, wie sie verlegen errötete, daß ihr keine klügere Begrüßung einfiel.

»Ja, es kommt mir selbst ganz seltsam vor, hier zu sein,« antwortete er. »Vor ein paar Stunden erst bin ich angekommen. Auf der Straße begegnete mir unser Wirt, den ich schon lange kenne, und er bestand darauf, daß ich heute abend herkommen müsse. Ich wollte zuerst gar nicht.« –

»Wirklich, Sie auch?« rief Ilse eifrig und dann, sein Erstaunen bemerkend, setzte sie erklärend hinzu: »Ich wollte nämlich gar nicht herkommen!«

»Aber jetzt bin ich sehr froh, daß ich kam,« sagte er. –

Sie schwieg. Aber ihre Augen sagten dasselbe wie seine Lippen, während sie noch so standen, glitt, von der Hausfrau gefolgt, Herzogin Wanda raschelnd an sie heran, blieb plötzlich stehen und sagte: »Täusche ich mich oder sind Sie es wirklich, Herr von Walden?«

Er verbeugte sich und antwortete: »Es ist wirklich Eurer Hoheit untertänigster Diener.« –

»Ich habe noch so oft an Ihr scharmantes Singen zurückgedacht,« lispelte die Herzogin, »damals auf meiner Weltreise hörte ich Sie ja – wo war es doch gleich? – – Nicht wahr, in Bangkok?«

»In Tokio, Hoheit,« verbesserte er. –

»Ja richtig, in Tokio, – ich wußte ja, in Asien,« sagte sie, »nun ich hoffe bestimmt, daß ich Sie heute abend doch wieder hören werde. Nicht wahr?«

»Ich bin untröstlich,« antwortete Walden, »aber ich habe gar keine Noten bei mir.« –

»Aber die gibt es doch sicher hier im Hause,« sagte die Herzogin mit einem leisen Anflug von Ungeduld. –

»Selbstverständlich,« fiel Frau von Tolck-Engel eifrig ein, »wir haben eine Menge Noten da, und Herr von Walden wird bestimmt Bekanntes darunter finden.« –

»Nun also, kommen Sie, Herr von Walden, und singen Sie mir etwas Hübsches vor,« sagte Herzogin Wanda. –

»Zu gnädig,« antwortete Walden, »aber wer wird denn begleiten?«

»Oh, das muß doch sicher irgendeiner hier können,« meinte die Hoheit, »nicht wahr, so jemand ist doch da?« wandte sie sich an ihre Wirtin. –

Verlegen antwortete diese: »Wir hatten nicht auf Musik gerechnet, Hoheit – ich bin außer mir, aber es ist kein professioneller Akkompagnateur zugegen.« – »Aber unter Ihren vielen Gästen wird doch jemand sein, der so viel spielen kann?« entgegnete die Herzogin, und in ihrer Stimme lag wieder der ungeduldige Klang. Die Hausfrau fühlte, daß der Erfolg ihrer Soiree in Frage gestellt war, wenn dieser hohe Wunsch nicht erfüllt werden konnte. – Hilflos sah sie sich um. –

In diesem Augenblick trat Theophil feierlich und gemessen an die kleine Gruppe heran, und nachdem Frau von Tolck-Engel ihm ihre Verlegenheit geklagt hatte, sagte er überlegen: »Aber das ist doch ganz einfach – da wird eben meine Frau aushelfen – sie hat ja in Frohhausen so viel musiziert und auch die eine Sängerin dort oft begleitet.«

Ilse, die etwas abseits stehen geblieben war, fuhr erschrocken bei diesen Worten zusammen und wollte ablehnen, aber schon war sie von der Herzogin und der erleichtert aufatmenden Hausfrau umringt. –

»Oh wie reizend! wie schön von Ihnen! Sie helfen mir aus solch großer Verlegenheit!« riefen beide durcheinander. –

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich es können werde,« warf Ilse leise ein und fühlte, wie ihr Herz zu hämmern begann, als stände sie plötzlich vor einer unbekannten Gefahr, in die der nächste Augenblick sie stürzen mußte. Dieselbe Angst, die sie vorhin zu Hause empfunden, war wieder da. – Sinnlos hatte sie sie genannt – war dies ihr Sinn gewesen? – Einen suchenden, flehenden Blick warf sie auf ihren Mann – der mußte ihr doch beistehen, der konnte nicht wollen, daß sie in dies drohende, unbekannte Etwas versänke. – Aber Theophil raunte ihr nur leise zu: »Es liegt mir sehr viel daran, daß du Frau von Tolck-Engel diesen Gefallen erweisest,« und zur Herzogin gewandt, sagte er mit einer ungelenken Verbeugung: »Meine Frau wird sich glücklich schätzen.« –

Dann stand sie mit Walden im Saal am Flügel, und von einer vergoldeten Etagére reichte ihnen die Hausfrau allerhand Notenhefte. Während sie beide suchend darin blätterten, bemerkte Walden, daß ihre Hände bebten. Da beugte er sich näher zu ihr und sagte: »Nicht fürchten! wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen.«

Es lag so viel frohe Zuversicht und Siegesgewißheit in seiner Stimme! Sie fühlte, wie sie selbst dabei ganz ruhig wurde. – Unbekannten drohenden Gefahren hatte sie sich nahe geglaubt? aber die gab es ja gar nicht. Und wenn auch – wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen! –

Die Herzogin hatte sich wieder auf dem Sofa niedergelassen. Die durch ihren allerhöchsten Willen so plötzlich in des Abends Programm eingeschobene Nummer erregte allgemeines Interesse. Man drängte in den Saal. Es mußte dort etwas Besonderes sein. Man fragte und erzählte. Amateure? – Walden? Ach ja, der aus der Diplomatie. Zuletzt in Tanger? – Ja, und jetzt ins Auswärtige Amt berufen. Und sie? Richtig, die hübsche Frau, die Gräfin Helmstedt so sehr protegiert. Zehren? Jawohl – Zehren-Weltsöden, und der Mann Reichstagsabgeordneter. –

Während Ilse nun leise präludierte, hatte sich Fräulein von St. Pierre in den Kreis der um die Hoheit gruppierten würdigsten Damen gesetzt und hob mit der prall behandschuhten Rechten die langstielige Lorgnette zu den Augen empor. –

Dann sang er. –

Ilse konnte sich später nie erinnern, welche Lieder er da zuerst gesungen hatte. Sie war anfänglich viel zu sehr mit ihrer Aufgabe, der Begleitung, beschäftigt gewesen, als daß etwas anderes in ihrem Gedächtnis haften geblieben wäre. Herr von Walden hatte eine sehr persönliche Auffassung, und es erschien ihr zuerst schwer, ihm abwechselnd zu folgen und nachzugeben – bis sie plötzlich erkannte, daß er eigentlich genau so vortrug, wie sie selbst vorgetragen haben würde, wenn ihre Stimme noch gelebt hätte. Da wurde es ihr auf einmal leicht. Sie dachte nun nur noch daran, auf seine Absichten eingehend ihn zur Geltung zu bringen. Und dabei überkam sie ein ganz neues Gefühl – eine große Freude, so dienen zu dürfen, ein williges Selbstverlöschen, weil sie sich in eines anderen Art ganz wiederfand. Ganz und doch anders. Größer, mutiger, freier. Eine ungeahnte Seligkeit stahl sich in ihr Herz – kam sie von diesen ganz neuen Gefühlen, oder war es der Zauber seiner Stimme? – Sie wußte es nicht. Es war nur, daß das Leben plötzlich einen Zweck zu haben schien: dieser Stimme zu folgen und darüber alles andere zu vergessen. –

»Hübsch! sehr hübsch!« lispelte die Hoheit nach jedem Liede, und sobald Walden aufhören wollte, folgte dem »hübsch! hübsch!« ein »mehr! mehr!«

Als er dann doch endlich innehielt, sagte Herzogin Wanda: »Ach singen Sie doch noch das eine Lied, um das ich sie schon in Bangkok bat – Sie wissen doch noch – das von Grieg.« –

»Meinen Hoheit: Du mein Gedanke?« fragte Walden.

»Ja, ja«, antwortete die Herzogin, »ich habe es vor Jahren so viel gehört.«

»Die Noten dazu scheinen nicht hier zu sein,« sagte Walden, der mit Frau von Tolck-Engel in den Heften zu suchen angefangen, »aber vielleicht gelingt es mir, mich selbst dazu aus dem Gedächtnis zu begleiten. –«

Ilse hatte ihm am Klavier Platz gemacht.

Die Herzogin, die sich einbildete, zu der Zeit, als jenes Griegsche Lied und auch sie selbst jung gewesen, einmal eine große Liebe gehabt zu haben, lehnte sich im Sofa zurück und schloß die Augen. –

Nur mit halber Stimme sang Walden die wohlbekannte Melodie, als wolle er bloß Stichworte geben, an denen jeder die eigenen Erinnerungen weiter spinnen konnte. Und wirklich waren da noch manche Augen, außer denen der Herzogin, vor denen bei diesen Klängen für eine kurze Spanne Zeit die banale gesellschaftliche Gegenwart versank, und statt ihrer allerhand Gewesenes oder auch nur Geträumtes wieder auferstand.

Für Ilse aber, die noch keine Erinnerungen besaß, tönten die Worte wie eine Verheißung. –

»Du mein Sein und Werden, mein beßres Ich,« ach, wer doch das in einem anderen fände! – Und daß es das wirklich gab, das wußte sie jetzt plötzlich ganz genau. – Man konnte so sehr in einem anderen Leben aufgehen, daß darüber das eigene Sein bedeutungslos versank. – –

Als dann später Ilse und Theophil im Wagen saßen und nach Hause fuhren, sagte er wichtig: »Es ist mir sehr viel wert, daß du Frau von Tolck-Engel mit dem bißchen Geklimper einen Gefallen hast erweisen können – Tolck-Engel wird nämlich sicher über kurz oder lang Landwirtschaftsminister werden – ich muß ihn mir warm halten. Siehst du nun, wie gut es war, daß du zu dieser Soiree kamst?«

»Meinst du wirklich, daß es so gut war?« antwortete Ilse kaum hörbar und starrte durch die Fensterscheibe hinaus in den nächtlichen, nebelerfüllten Tiergarten.


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