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Die Vorbereitungen zur Neuwahl im Kreise Sandhagen gingen unterdessen eifrig weiter.
Als das Mandat Theophil von der Parteileitung angeboten worden war, hatte er zuerst Bedenken empfunden, ob er Weltsöden alljährlich mehrere Monate verlassen könne. Aber da hatte seine Mutter beleidigt aufbegehrt: War sie nicht da, und würde ihre Aufsicht etwa nicht genügen? Über dem Eifer, Theophil dies zu beweisen, vergaß sie alle anderen Zweifel, die sie selbst vorher etwa gehegt, und die sich nicht um den Sohn und das Gut, sondern um die Schwiegertochter gedreht hatten, war es ratsam, Ilse den Lockungen Berliner Lebens auszusetzen? Ilse, die doch nie so ganz fest und sicher in den Dienst des Zehrentums eingespannt erschien? Mit Mechtild, bei der sich auch gerade der alte Pastor Rockstroh und seine Frau befanden, sprach sie darüber.
»Ich begreife Ihre Sorgen, gnädige Frau,« sagte der Hochehrwürdige, »denn Ihre Frau Schwiegertochter wird da manch sündiges Schauspiel erblicken, wird sie doch vielleicht sogar Bälle besuchen müssen.« Und dann setzte er mit gekreuzten Händen und dankbarem Blick zu seiner behäbigen und glatt gescheitelten Gattin hinzu: »Ja, darob preise ich wahrlich Maria, mein Weib, daß sie nicht nur nie hat getanzet, sondern auch nie hat tanzen sehen.« –
Mechtild hegte ganz dieselben Bedenken wie die Schwiegermutter. Ihr, die im Fanatismus freudloser Pflichterfüllung und im wohlgefälligen Kult eigener Begrenztheiten Ersatz für alle Enttäuschungen fand, blieb Ilse immer ein fremdartig ungebundenes Wesen. Sie hatte gehofft, die Schwägerin so schwer an ihrer Kinderlosigkeit tragen zu sehen, wie sie selbst an ihrem Überfluß wehleidiger Töchter trug. Daß Ilse statt dessen nie darüber klagte, und scheinbar nicht darunter litt, reizte sie wie die ärgste Auflehnung, denn Leiden schien ihr ein Joch, das jeder und vor allem jede tragen soll. – Sie gönnte Ilse zwar nicht die Zerstreuungen und möglichen Erfolge in Berlin – aber schließlich gehörte sie vor allem zu nährigem, ländlichem Geschlecht, das jede Eventualität zuerst auf den möglichen persönlichen Vorteil hin prüft. – Und der Aufenthalt Theophils und Ilses in der Hauptstadt versprach für sie allerhand solche Möglichkeiten: Kommissionsbesorgungen, Ausnutzung billiger Ausverkäufe, ja vielleicht Einladungen an eine ihrer neun Töchter! – So hatte sie denn die Schwiegermutter über alle Gefahren zu beruhigen gesucht. Die Onkeln und Tanten, Vettern und Basen aber hatten ihrerseits Theophil eifrig zugeredet, stolz im Vorgefühl, daß einer von der Familie den Kreis Sandhagen vertreten solle. – Und es bedurfte schließlich nicht viel Überredung bei Theophil: wenn er auch den Parlamentarismus als ein schwächliches Zugeständnis an den liberalen Geist ansah und oft über Volksvertretung gespöttelt hatte, so gewann dies alles in der eigenen Person ein ganz anderes Ansehen; er, der von der Mutter stets bevormundet und von der Frau scheu gemieden wurde, fühlte sich gehoben und wichtig bei dem Gedanken – ein Erwählter – vor allem ein Erwählter der Standesgenossen zu werden. – Seine würdevolle Feierlichkeit nahm beträchtlich zu. –
Ilse wurde überhaupt nicht nach ihrer Ansicht gefragt, sie war in den Augen aller Zehren mehr und mehr zu einer non valeur herabgesunken, sogar die alten Tanten Lidwine und Askania traten nur noch ganz schüchtern für das Lieblingsnichtchen ein. Papas wohlgemeinte Testamentsänderung, die Ilse sicher stellen sollte, hatte vorläufig dazu geführt, daß sie behandelt wurde, als habe sie gutes Zehrensches Geld veruntreut. Alle Vierteljahr, wenn Justizrat Schilderer ihr die Zinsen ihres Kapitals sandte, mußte sie dieselben Sticheleien von Theophil und Frau von Zehren hören. Hätte sie über ihr Erbteil verfügen können, sie würde es ihnen gern gegeben haben. – Denn was lag ihr an Geldbesitz neben der Einbuße alles anderen! –
Das Klavier stand verschlossen, und sie sprach nie mehr von ihren einstmaligen musikalischen Hoffnungen – aber überwunden war der Schmerz darum nicht. Der Verlust ihrer Stimme erschien ihr wie eine ungeheuerliche Grausamkeit – es mußte irgendwo eine Macht geben, die bestimmt hatte, daß sie sich nicht retten durfte aus der trostlosen Hoffnungslosigkeit, was sie aufrichtete, wurde ihr alsobald genommen. Auch Papa war ja gestorben, kaum daß sie angefangen, sich etwas näher zu kommen. – So beugte sie denn den Kopf – nicht in der zustimmenden Entsagung, die beinahe Glück ist, sondern in dumpfer Niedergeschlagenheit, die bisweilen von Anfallen verzweifelnder Auflehnung unterbrochen wurde. – Immer mehr auch haßte sie das ganze kümmerliche Land, die spärlichen Kiefern, in denen der ewig wehende Wind immerzu klagte und stöhnte, den dürren Boden, aus dem die Pflanzen nicht in unwiderstehlichem Lebensdrang, sondern nur wie auf ein Geheiß der Pflicht zu sprießen schienen; und auch die Menschen waren ihr fremd und unheimlich geblieben, es war ihr, als spähten sie alle danach aus, daß ihr Schlimmes geschehen möge. – Nur bei Gräfin Helmstedt fühlte sie sich sicher und wohl.
Im Winter nach Papas Tode hatte Gräfin Helmstedt, die für kurze Seit nach Italien auf ihre Besitzungen reisen mußte, zu Ilse gesagt: »Ich möchte Sie so gern bitten, mit uns zu kommen,« da waren Ilses Augen plötzlich ganz groß und starr geworden vor der Möglichkeit solchen Glücks, doch dann hatte sie müde geantwortet: »Ja, ich weiß, daß Sie das gern für mich täten – aber nachher – da paßte ich wohl noch weniger hierher.« – Die Worte waren aber für sie wie das kurze Öffnen eines Käfigs gewesen, das rasche Erblicken von allerhand Freiheitsmöglichkeiten. Ein Schwindel, ein Verlangen waren ihr davon zurückgeblieben.
In solcher Stimmung war Ilse, als Theophil das Mandat angetragen wurde. – Fort? fort? – Sie wagte kaum daran zu glauben. Schon die nun beginnende Wahlagitation bedeutete ja für sie eine Entlastungszeit, denn Theophil hatte jetzt endlose Besprechungen mit Parteileitern, dem Landrat, allerhand Wahlagenten; dann kamen die Fahrten in die verschiedenen Orte des Kreises, die Wahlversammlungen, die Reden. – während er also daran arbeitete, die Wähler den betörenden Lockungen der Sozialdemokratie zu entreißen, und ihnen eindringlich ihre Pflichten gegen Thron und Altar und die Wichtigkeit der Erhaltung der Scholle vorhielt, hatte er keine Gedanken mehr für die Mängel der eigenen Frau. – Seine Gabe feierlicher Redeweise war auf andere abgelenkt, und da Frau von Zehren gleich zu Beginn der Wahlkampagne die Bewirtschaftung des Gutes übernommen und damit vollauf zu tun hatte, hätte Ilse ganz ungestört im einsamen Weltsöden träumen oder unbemerkt stundenlang bei Gräfin Helmstedt sitzen können. Aber bald genügte ihr das nicht, denn gerade in Frohhausen empfing sie zuerst die Anregung, sich selbst bei der Agitation Zu beteiligen. – Die Gräfin erzählte von Wahlen in England, die sie erlebt, und wie dort auf den Landgütern die Damen, in Ermangelung eigenen Wahlrechts, doch für ihre Männer Stimmung machten. »Wir müssen das arme Kind irgendwie anregen,« erklärte Gräfin Helmstedt ihrem Manne, »und es gibt ja Frauen, die imstande sind, sich für Politik zu begeistern, so daß sie ihnen wirklich ein Ersatz für vieles wird.« –
Graf Helmstedt mußte lächeln in Gedanken an Ilses weiche Lippen und große sehnsuchtsvolle Augen, und er antwortete: »Ja, Gisi, die gibt es – aber ich glaube, deine junge Freundin wird sich immer eher für einen Politiker wie für die Politik begeistern. Sie gehört zu denen, die in der Sache immer den Menschen lieben.«
»Ja, den kann ich ihr freilich nicht schaffen,« sagte die Gräfin. –
Doch ihre Worte waren bei Ilse auf dankbaren Boden gefallen. Der bloße Gedanke, sich wieder für irgendein Ziel betätigen zu können und dadurch bestimmend in das eigene Geschick einzugreifen, war für Ilse eine Gesundung. Zuerst mit den Frauen der Wähler, dann mit den Wählern selbst begann sie zu sprechen. – Es war auch gar nicht so schwierig, die richtigen Worte zu finden – von allen Herren der Nachbarschaft hatte sie ja immer wieder diese selben Sätze vernommen, leblos hatten sie in ihrem Gedächtnis gelegen. Nun holte sie sie hervor und redete von monarchischer Gesinnung und Schutz der nationalen Arbeit, ohne sich sehr viel dabei denken zu können. – In Weltsöden und den umliegenden Örtern und Dörfern war man ja der Leute ziemlich sicher, und was die Frau des konservativen Kandidaten dort sagte, fand gewiß nur Zustimmung; die Gefahr lag in der Kreisstadt Sandhagen mit ihren kleinen industriellen Betrieben, von dort ging auch die Agitation des Genossen Priebatsch aus, der von der sozialdemokratischen Parteileitung entsandt worden war, um den Kreis Sandhagen, diese Hochburg feudaler Junkerherrschaft, durch die Lockungen billiger Nahrungsmittel und des Koalitionsrechtes der Landarbeiter zu erobern. –
Aber sogar bis in die Kreisstadt wagte sich Ilse. Die Handwerker, die sie gelegentlich hatte in Weltsöden arbeiten sehen, suchte sie zu gewinnen und bald wandte sie sich auch an die Ladenbesitzer. Mit tiefem Ernst setzte sie Schuster und Schneider auseinander, daß sie die Landwirtschaft stärken sollten, weil diese die beste Kundin der heimischen Industrie sei. – Der Kutscher Jochem hatte schwere Tage, fuhr nicht der Herr, so fuhr sicher die junge gnädige Frau unter allen möglichen Vorwänden in die Stadt, um diesen und jenen Wähler zu bearbeiten.
Der Genosse Priebatsch begegnete Ilse ein paarmal auf ihren Fahrten, und er schaute mit einem gewissen neugierigen Interesse dieser blutjungen Frau von seltsam zarter Schönheit nach, die mit seinem Gegenkandidaten, auch so einem Brotverteurer und Schnapsbaron, verheiratet war, und die ihm als eine so energische Bekämpferin der Sozialdemokratie geschildert worden war. – Er ahnte nicht, daß es keineswegs altererbte politische Überzeugungen und staatserhaltende Grundsätze waren, von denen Ilse in den Kampf gegen die Umsturzpartei getrieben wurde, sondern daß ihr, wie zuweilen auch anderen, die Politik nur als Mittel zum Zweck diente. Dieser Zweck aber war der gerade so manchem Parteigänger des Genossen Priebatsch wohl verständliche Wunsch, aus der Abhängigkeit ländlicher Stellung in die Stadt zu entkommen, wo auch sie verhältnismäßige Freiheit zu finden hoffte. –
Theophil war zuerst verwundert über die Tätigkeitsentfaltung seiner Frau, und dann begann sie ihm zu schmeicheln; er glaubte darin eine späte Verneigung vor seiner Wichtigkeit zu erkennen, den verschämten Wunsch zu entdecken, ihm wenigstens auf einem Gebiete zu dienen. –
Theophil wußte von der eigenen Frau eben auch nicht viel mehr wie der Genosse Priebatsch.
– Aber er belobte sie manchmal gönnerhaft, wenn er sah, wie sie eifrig die Flugblätter adressierte, die er an die einzelnen Wähler sandte: »Das ist ja sehr brav von dir, mein liebes Kind.«
Am Wahltag fuhr Theophil mit seiner Mutter und Ilse schon früh in die Kreisstadt.
Und während er im Gasthaus zum schwarzen Adler ausstieg, wo das Komitee seiner Parteifreunde versammelt war, fuhren die beiden Damen zur Landrätin, die sie aufgefordert hatte, den Tag in ihrem Hause zu verbringen, wo sie das Wahlergebnis am raschesten erfahren würden. –
Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen von allerhand Boten, ein An- und Absausen von Radfahrern, ein Notieren des stündlichen Standes der Stimmen in den einzelnen Wahlbezirken, ein Addieren der schon bekannten Zahlen, ein Weitergeben der einlaufenden Nachrichten an das Regierungspräsidium, ein aufgeregtes Bewerten der noch ausstehenden Ergebnisse. – Um die Mittagszeit, als die Arbeiter aus den Fabriken Sandhagens strömten, und die sozialdemokratische Stimmenzahl plötzlich hoch anschwoll, wurde Ilse ganz beklommen. Ihre Wangen glühten, ihre Hände waren eiskalt – sie vergegenwärtigte sich erst da ganz, wie brennend sie Theophils Wahl wünschte, und was sein Unterliegen für sie selbst bedeuten würde! –
Aber am Nachmittag änderte sich das Bild – mehr und mehr konservative Stimmen wurden aus den Dörfern gemeldet. Das wackere flache Land! Wie sehr liebte es Ilse doch in diesem Augenblick! –
Bald hatte Theophil die absolute Majorität errungen, und immer noch schwoll die Zahl der ländlichen Stimmen. – Es gab nicht nur einen Sieg, sondern einen glänzenden Sieg. –
Stolz auf seinen Kreis trat der Landrat einen Augenblick bei den Damen ein: »Ja Sandhagen, das war doch noch ein altpreußischer Kreis, da war noch Verlaß drauf.« – Und Theophil kam feierlich unter der neuen Würde vom Schwarzen Adler herüber, und Onkel und Vettern drängten nach mit dröhnendem Lachen. – Champagner wurde gebracht, um mit den Damen anzustoßen auf diesen Sieg der guten Sache. Auch Dr. Liebetrau, der gerade des Weges kam, trat ein, um zu gratulieren, und sagte verschmitzt zu Ilse: »Ja, Berlin, das ist für manchen schon ein angenehmer Kurort gewesen.« –
Dann fuhren Ilse und Frau von Zehren heim, während Theophil in der Kreisstadt blieb. Im Schwarzen Adler sollte nun ein feierliches Parteifestessen abgehalten werden. –
Spät am Abend stand Ilse dann noch lange am Fenster des leeren Zimmers, das seit ihrem Unfall ihr Zimmer geblieben. – Sie schaute sinnend hinab auf den Gutshof. Zwei Jahre waren es her, daß sie da zuerst vorgefahren. – Oft waren die einzelnen Stunden wie Jahre so lang gewesen, und nun erschien ihr die ganze Zeit kurz und schon verschwimmend im großen Nebelmeer all dessen, was vorüber.
Drüben am Giebel des Wirtschaftsgebäudes sah sie das dunkle Gestell des großen Transparentes, das der Inspektor, der Förster und ihre Leute seit Tagen bereit gehalten. Hell hatten vorhin zur Feier des erfochtenen Wahlsieges die Worte: »Hoch Zehren!« in die Nacht hinaus geglänzt. – Jetzt war das Licht längst ausgebrannt. Und Ilse empfand da plötzlich, daß auch in ihrem Leben etwas erloschen war, und daß über einem Abschnitt, an dem nun nichts mehr zu ändern, der Vorhang niedergelassen worden. – Und wie die Nacht da draußen, so lag auch die Zukunft dunkel vor ihr. Bangigkeit vor Unbestimmtem erfüllte sie, und es war ihr, als warte sie zitternd, welch Wort nun am Lebenstransparente vor ihr aufblitzen würde – – –
Theophil hatte in den Zelten eine kleine möblierte Wohnung genommen, von deren Fenstern aus man zwischen den entlaubten Bäumen des Tiergartens die glatten Wände von Kroll, die Siegessäule und das Reichstagsgebäude hervorschimmern sah. Sein Arbeitszimmer war angefüllt mit Broschüren, statistischen Tabellen und Sitzungsberichten, die er mit Ehrfurcht behandelte, als so viele Beweise eigener Bedeutung. Aber er weilte wenig in der Wohnung. Früh schon griff er nach dem Zylinder, der ihn noch länger und ragender erscheinen ließ und wanderte dann mit dem tiefernsten, sorgenvollen Ausdruck des überbürdeten Staatsmannes hinüber in den Reichstag. Dort verbrachte er seine ganzen Tage und kehrte nicht einmal zur Mittagsmahlzeit heim, denn er hatte für nichts Zeit neben den Pflichten, die er betraut worden war, dort unter der goldenen Kuppel zu erfüllen. Wohl hatten ihm die alten Tanten Lidwine und Askania im letzten Abschiedsmoment zugeraunt, er möge auf ihr liebes kleines Ilschen im großen Berlin gut acht geben, aber die Worte waren verhallt und vergessen – und was wäre das auch für eine Aufgabe neben jener anderen gewesen, die Regierung davor zu hüten, sich vom rechten Wege ab allzu weit nach links verlocken zu lassen, und ihr vorzuhalten, wie sie für die Interessen des »wertvollsten Volksbestandteiles« am besten zu sorgen habe. – Theophil seufzte bisweilen tief auf unter der Last eigenen Verantwortlichkeitsgefühls.
Alles, was jenseits von Heyl und Oriola saß, galt ihm als gefährliche Gesellen, vor deren Anschlägen es hieß, das Reich zu retten; er machte aus diesen Gefühlen kein Hehl, aber auch vor dem Regierungstisch war er der landangesessene, aufrechte Junker. Gegen Staatsminister, besonders solche bürgerlicher Herkunft, nahm er gern die Haltung eines zwar wohlwollenden, aber die Ausgaben mutwilliger Jünglinge doch streng kontrollierenden Vormundes an, und wenn gesprächsweise von diesen Exzellenzen-Herren künftige Forderungen für ihre Ressorts erwähnt wurden, so sagte er gewichtig: »Nun, dabei werden wir doch auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.« – Jetzt, wo er sie selbst auszuüben glaubte, hätte er gewünscht, daß die an sich verwerfliche parlamentarische Macht eine größere sein möge. Ihm, der als jüngerer Sohn nie sonderlich beachtet worden, und der dann auch später vor der des Herrschens gewohnten Mutter sich stets weiter gebeugt hatte, schmeichelte es, nun plötzlich von einem ganzen Ministerium als ein Machtfaktor anerkannt zu werden. Begegnete er Soldaten in den Straßen Berlins, so sagte er sich wohlgefällig: »Die existieren, weil wir sie bewilligt haben.« Und voller Genugtuung dachte er an die Schlachtschiffe, deren Bau von seinem Ja oder Nein abhängen würde; an die Reichssubsidien, die er den Dampferlinien zu gewähren oder zu entziehen vermochte. Die Sicherstellung von Kranken und Altersschwachen hing von seiner Stimme ab, ja, ihr Einfluß drang bis weit über die Meere, wo er, an den fernen Gestaden deutscher Kolonien, Bahnbauten und Hafenanlagen verhindern oder entstehen lassen konnte. – Er nahm sich selbst so feierlich ernst und wichtig, daß man auf ihn aufmerksam wurde und sich zu fragen begann, ob dieser hagere Neuling mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse, den abschüssigen Schultern und der wie eine Champagnerflasche wirkenden Silhouette etwa berufen sein sollte, ein Führer zu werden.
Und unterdessen schaute sich Ilse mit erstaunten Augen in der Berliner Welt um. Sie empfand etwas Erwartungsvolles, wie schon so mancher beim Betreten der großen Stadt, der in ihr etwas zu werden oder etwas zu finden hoffte. Neue, erhöhte Lebenskraft regte sich in Ilse, und sie schritt hier straffer durch die asphaltierten Straßen, als auf den sandigen Weltsödener Wegen. Dort gab es nie Unvorhergesehenes, man konnte mit geschlossenen Augen schleichen; hier galt es aufpassen, um beizeiten drohenden Zusammenstößen auszuweichen oder Grüße von Bekannten zu erwidern. Und auch die vielen Vorbeieilenden, nie zuvor Gesehenen, lohnte es, anzuschauen, dem Lebensgeheimnis nachzusinnen, das ein jeder mit sich tragen mochte. Manchmal war es Ilse dann auch, als ob sie in den Augen dieses oder jenes hastig seines Weges Gehenden ein plötzliches Interesse aufflackern sähe, als wollten seine Blicke sagen: Wie bist du jung, – wie bist du schön. –
Ilse wäre in diesen ersten Herbstwochen aber doch recht einsam in Berlin gewesen, wenn sie nicht Helmstedts dort vorgefunden hätte. Die wurden ihr Führer und Erklärer in dieser neuen Welt.
Graf und Gräfin Helmstedt hatten für den Winter eine Wohnung in einem der großen Berliner Hotels bezogen. Sie schützten zwar Gesundheitsrücksichten vor und gingen weder an den Hof noch zu großen Festen, aber ihr eigener Salon füllte sich bald mit den vielen Leuten verschiedenster Kreise, die ihre Freunde geblieben, und auch mit den anderen, für die es ein Kuriosum, eine Sensation, etwas wie eine Premiere auf der Weltbühne war, »Helmstedts nach dem Sturz« zu sehen.
Aber die Stimmung, Schiffbrüchige geworden zu sein, die jenen eigen, die nur durch ein Amt etwas bedeuteten, herrschte bei Helmstedts nicht. Der Gräfin merkte man sogar die Erleichterung an, offizieller Pflichten ledig, mehr noch als früher ihren künstlerischen Neigungen leben zu können, und der Graf blickte mit wehmütig ironischer Abgeklärtheit auf frühere Kollegen und neuerliche Nachfolger, die in ihren Botschaften oder Ministerien scheinbar wie in uneinnehmbaren Festungen saßen, von Bekannten und Untergebenen geflissentlich wie Ewigkeitswerte behandelt wurden, und die doch auch, bald vielleicht, für ersetzbar befunden werden würden. Eintagserscheinungen waren sie ja alle, wie er selbst. Da ihm bedeutet worden, daß er sein Tagewerk getan, mochten nun andere sich mühen – er schaute ihnen zu, neidlos und ohne Bitterkeit. »Die Leiter der Menschen sind wie Läufer, die Fackeln tragen,« pflegte er zu sagen, »nach einem bestimmten Stück Wegs müssen sie sie, so oder so, doch immer anderen schon wartenden Händen überlassen.«
Nachdem man sich überzeugt, daß Helmstedts offenbar nichts wollten und daher auch nicht gefährlich werden konnten, und nachdem man sich natürlich auch vorsichtig vergewissert hatte, daß es von »oben« nicht übel vermerkt werden würde, begann auch die offizielle Welt, die zuerst gezaudert, bei ihnen zu erscheinen. Meist zu zweien, um es auf alle Fälle nicht allein gewesen zu sein, rauschten die Exzellenzen-Damen herein, mit einem Krankenbesuchen angemessenen Ausdruck und der deutlichen Absicht, recht freundlich zu sein gegen »die arme Helmstedt« – und dann rauschten sie nach einer Weile wieder heraus, ohne recht Gelegenheit gefunden zu haben, diese Vorsätze auszuführen, weil sie mit einer gewissen überlegenen Liebenswürdigkeit empfangen worden waren, vor der solch gütiges Gebenwollen völlig unangebracht erschien.
Nach einem solchen Besuche sagte Gräfin Helmstedt zu Ilse: »Das sind alles in ihrer Art tüchtige Leute, aber eine gewisse Grazie, die des Lebens Härten mildert, geht ihnen meist ab. Uns Ausländern fällt es besonders auf, daß angeborene Liebenswürdigkeit hier selten ist.«
Theophil, dem Ilse dies erzählte, meinte dazu: »Wir haben es ja auch gar nicht nötig, für liebenswürdig zu gelten; es genügt uns, gefürchtet zu sein. Liebenswürdigkeit hat mir stets etwas Suspektes – etwas welsch Jesuitisches; es ist keine der Tugenden, durch die Preußen groß geworden.« –
Selbst beobachtend, glaubte Ilse manches wahrzunehmen, was die Worte ihrer Freundin bestätigte. Sie lernte die Leute kennen, die sich so viel dünken, daß sie es nicht mehr für nötig halten, sich um irgendjemand zu bemühen – und die anderen, die so viel erst werden möchten, daß sie sich noch aller Welt angenehm zu machen und in jedem Lager Freunde zu erwerben trachten. Hieraus entstanden seltsame Nüancen im Verkehr. Die Manieren, die Begrüßungen, die ganzen Umgangsformen erschienen danach abgestuft und wohl berechnet. Es gab ältere Damen, über die junge Frauen zu Ilse geringschätzig flüsterten: »Es lohnt sich nicht, sich denen vorstellen zu lassen – die geben ja doch nichts.« Und andere wiederum, die stets von einem Gedränge umgeben waren. Auch konnte man aus der Art, wie eine Frau empfangen wurde, beinahe genau berechnen, was der Rang ihres Mannes sein mußte. Es war oft, als ob nicht Menschen, sondern lebendig gewordene Titel miteinander verkehrten.
So hörte Ilse einst bei Gräfin Helmstedt eine Staatsministerin zu der Frau eines Rats aus demselben Ministerium sagen: »Wie seltsam, daß ich Sie heute hier treffe, ich habe nämlich gerade heut nacht von Ihnen geträumt.« Worauf die Jüngere sich halb erhob, eine Verbeugung andeutend und devot stammelte: »Aber Exzellenz, das wäre doch an mir gewesen.«
Bei Helmstedts, wo Ilse täglich stundenlang war, sah sie an sich vorüberziehen, was sich so Berliner Gesellschaft nennt – eigentlich lauter streng abgetrennte Zirkel, die sich nur äußerlich berührten.
Da gab es Hofleute, die ihren hohen Herrschaften wie Priester ihren Gottheiten dienten, und sich selbst dabei auch ungefähr wie von Gottes Gnaden vorkamen; sie zerfielen in die leise Säuselnden, von Kirchenbau Redenden und Spenden zu Wohltätigkeitszwecken Entlockenden, und in die anderen, die mehr eine kernig forsche Urwüchsigkeit hervorkehrten, um so ein unbeugsames Rückgrat zu markieren. Hofdamen, die auf zaghaft scheue, neu vorgestellte Debütantinnen wie heranschwimmende Eisberge bei Meerfahrten wirkten, Kälte verbreitend und die Angst erweckend, daß, wenn man auch scheinbar glatt an ihnen vorbeikäme, doch in submarinen Tiefen dauernd schädigende Zusammenstöße drohen könnten.
Bei Helmstedts traf Ilse auch manche der Fürstlichkeiten, aus der zweiten und dritten Abteilung des Gothaer Hofkalenders, die, von der sommerlichen Stille ihrer Schlösser kommend, die Wintermonate in dem zurzeit gerade als vornehmstes geltenden Berliner Hotel verbrachten. Es kam vor, daß die einen oder anderen unter ihnen sich gerade in irgendeiner Etikettenfrage von oben her verletzt fühlten; die gestatteten sich dann ein mildes Frondieren und besuchten die in Ungnade gefallenen Helmstedts mit einer gewissen Ostentation, um ihre eigene Unabhängigkeit zu beweisen. Sie bildeten ein parterre de princes, das die Botschafter zu den Festen einluden, die sie für die Allerhöchsten gaben. Familien wie den Zehrens aber waren sie verhaßt, weil sie mehr und mehr den mittleren preußischen Adel verdrängten, ihm finanziell die soziale Konkurrenz unmöglich machten. Die Zehrens hatten gegenüber dem größeren Wohlstand, der raffinierteren Eleganz und kosmopolitischeren Gewandtheit all dieser Durchlauchten nur den einen Trumpf des Alters ihrer Familie in Händen. – Aber mit dem ließ sich nicht viel ausstechen! – In einer Zeit, die auf politischem Gebiet die gemäßigten Parteien vor dem Vordringen der extremen zusammenschrumpfen und mählich verschwinden sieht, vollzieht sich ein gleiches in der sozialen Arena. Der alte eingesessene Landadel mit seinem mittleren Wohlstand muß weichen, und als Überlebende im gesellschaftlichen Wettbewerb bleiben nur übrig: die Gruppe der kleinen Fürstlichkeiten mit ihrem Anhang und – die kommenden Herrschergeschlechter aus der Finanz und Industrie. –
Und auch diese Finanzfürsten lernte Ilse kennen. Männer, die durch die Fähigkeit, gute Geschäfte abzuschließen und nie für etwas zu teuer zu zahlen, groß geworden waren, die aber zur Erreichung ihrer sozialen Ambitionen keinen Preis zu hoch fanden und hier sehr reale gegen völlig imaginäre Werte umtauschten. – Ein Titel, ein kleines Wörtchen vor dem auf den Weltmärkten doch weit und breit berühmten Namen, die standen bei ihnen hoch im Kurse. Ländliche Namen vom Schlage Rinas in der Zukunft hielten sich auf über solch modernen Zuwachs der Hofgesellschaft, aber Gräfin Helmstedt, der eine ichthyosaurenhafte Edelfrau aus pommerschem Uradel über eine Regierung klagte, »die so verschwenderisch den Adel verliehe,« antwortete: »Ich finde es eigentlich kaufmännisch richtig, diese Ware loszuschlagen, so lange sich noch Liebhaber dafür finden – es könnte doch eine Zeit kommen, wo auch Titel zu entwerteten Ladenhütern würden.«
Vorläufig schien diese Gefahr noch nicht nahe. Und war erst der Hof mit Müh und Not erreicht, »wo,« wie eine unbeugsame Magnatenfrau bemerkte, »man ja überhaupt allmählich die schlechteste Gesellschaft trifft« – so galt es, einzudringen in die kleinen, exklusivsten Koterien. Leute, die den Kredit ganzer Staaten nach Belieben zu beeinflussen vermochten, trachteten mit heißem Sehnen nach einem Stückchen mit einer Einladung bedruckten Karton, aus irgendeinem besonders schwer zu erobernden Hause. Und staunend hörte Ilse einen der ganz großen Geldgewaltigen, von dessen Wort Wohl und Wehe ganzer Arbeiterbataillone abhingen, strahlend erzählen: »An den Hof kommen ist schließlich leicht, aber gestern bin ich auf einem intimen Diner bei dem Herzog von X. gewesen – da war die Gesellschaft mal wirklich fein durchsiebt.«
Aber ungeachtet dieser kleinen, nun einmal zur menschlichen Komödie gehörenden Seiten, mußte man doch dem Grafen Helmstedt recht geben, wenn er sagte: »Unter diesen Leuten stecken heutzutage unsere ganz großen Kerls.« Diese Männer und ihre Väter waren es ja, die Deutschland von einem für die anderen Nationen so bequemen und ungefährlichen Volk kleiner, mit bescheidenen Verhältnissen und geringem Gewinn zufriedener Händler, zu einem der größten Erwerber der Welt gemacht hatten. Mit der den genialen Finanzführern eigenen Witterung für den Erfolg, hatten sie einst die Mittel bereit gehalten für die großen Kriege, die das Land politisch an erste Stelle rückten. Und seit jener in heroischer Zeit geschaffenen fundamentalen Wandlung, hatten sie rastlos an dem materiellen Gedeihen und Ansehen des neu erstandenen Reiches gearbeitet. Ihre Banken waren zu Welthäusern angewachsen, befreit von fremder Bevormundung. Und das ganze Aussehen der Welt war durch sie ein anderes geworden, denn bei ihnen ja hatten die großen Erfinder die Mittel zur Materialisierung ihrer kühnsten Gedanken gefunden. Bisher unbekannte Naturkräfte waren erforscht und dienstbar gemacht, neue Heil- und Zerstörungsstoffe entdeckt worden. Zu ihrer Verwertung hatten die Herren des Geldes die großen Farbwerke, die Pulverfabriken, die elektrischen Gesellschaften geschaffen, neues Licht leuchtete auf Erden, mit neuen Geschwindigkeitsmöglichkeiten rechnete der Verkehr. Die Grenzen des als erreichbar Denkbaren waren um weite Spannen hinausgeschoben. – Und in noch viele andere Nebenflüßchen und Kanäle sickerten die mächtig treibenden gelben Fluten! Keine Kirche wurde gebaut, kein Krankenhaus noch Säuglingsheim gegründet, ohne daß man die Meister der goldenen Ströme um Beihilfe angegangen hätte; zu Kunsterwerbungen für die Museen, zu Erweiterungen wissenschaftlicher Institute, zu Erforschungen ferner unwirtlicher Weltstriche mußten sie beitragen – ja es wurden sogar die Summen angegeben, »die man von jedem einzelnen erwartete« und es kam vor, daß dabei ganz einfach eine Null der vom Geber ursprünglich beabsichtigten Spende angehängt wurde. Eine zweite Besteuerung war es, von schonungsloser Einschätzungskommission erhoben! – Und die also Gepreßten gaben, gaben immer wieder. Manchmal aus Interesse für die Sache, häufiger aus Interesse für die Personen, in deren hohem Namen gesammelt wurde, meist wohl, weil es so viel bequemer war, durch rasche Unterzeichnung eines Schecks den leidigen Bittgänger los zu werden, wie sich der Mühe höflicher Ablehnung zu unterziehen.
Neben diesen Einheimischen lernte Ilse nun auch zum erstenmal Ausländer kennen, denn naturgemäß verkehrten bei Helmstedts viele Diplomaten – Diplomaten, die, in diesem von keinem Fremden so recht geliebten Lande, schärfer noch wie anderswo die traditionelle Kritik an dem jeweiligen Posten übten, und die dabei noch so sehr unter der Suggestion des gefürchteten Bismarckschen Geistes standen, daß sie immer wieder vergaßen, wie rasch dieser geschwunden, und die weit ausschauende Pläne und tückische Absichten dort vermuteten, wo man in Wahrheit sich immer mehr ziellos treiben ließ und in dem Ausweichen vor Zusammenstößen eine ängstliche Geschicklichkeit übte. – wie wenig aber solch nervöses Zagen den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprach, das hätten wohl am besten gerade die fremden Militärbevollmächtigten bezeugen können, die mit lauerndem Blick nach der Scharte des Schwertes und der Lücke in der Wehr vergeblich spähten.
Denn ihnen gegenüber standen ja jene, an deren wert in der ganzen Welt kein Zweifel besteht. Viele waren damals noch darunter, die einst kämpfend des Volkes Einheit geschaffen – Namen trugen sie, bei deren Klang Ilse war, als tönten eherne Glockenschläge. Und diesen erprobt Besten des Landes reihten sich in langem Zuge die ihnen nachstrebenden jüngeren Geschlechter an. Da waren die Herren mit den karmoisinroten streifen, die so viel rastlose, vorsorgende Arbeit leisten, und bei deren Anblick man denkt: »Die da wachen für uns, wir können getrost sein.« Und die vielen Tausend braven Leutnants der deutschen Armee, von denen ein paar Dutzend in jenem Winter gerade in Berlin ausgingen und Ilses Tänzer wurden.
Aber besonders fühlte Ilse sich zu den Marineoffizieren hingezogen. Sie erschienen ihr wie die jüngeren Söhne der großen militärischen Familie, die darauf brennen, sich gleich den älteren hervorzutun und auch Ruhm und Namen zu erwerben. Etwas der eigenen Begeisterungsfähigkeit verwandtes, den Wunsch, sich einmal für ein hohes Ziel ganz hingeben zu können, fühlte Ilse ihnen an. – Vielleicht würden sie alle dereinst in künftigem Kampfe fallen, sicher aber kehrte keiner anders wie ehrenbedeckt heim!
Oft auch saßen an Gräfin Helmstedts Kamin jene anderen Pfeiler deutscher Größe, Gelehrte mit hohen durchfurchten Stirnen und grübelnden Denkeraugen. Bergesgipfeln glichen sie, die am frühesten den Strahl aufgehenden Tageslichts auffangen, und von denen es dann langsam hinabdringt zu den Ebenen. Menschen, die vorausdenken, was dann die anderen ihnen nachdenken müssen. – Vorsichtig, beinahe schüchtern im Ausdruck waren die besten dieser immer weiter tastenden Sucher, wohl wissend, daß heute Wahrheit scheinen mag, was morgen schon Irrtum ist. Aber neben diesen echten sah Ilse auch dieses Berufes Talmigottheiten, Leute, die, wie auch manch bis dahin ungenannter Schriftsteller oder Künstler, zu allgemeinem Staunen, in den Stand offizieller, aber ephemerer Berühmtheit versetzt worden waren.
Gräfin Helmstedt besuchte im Laufe des Winters mit Ilse auch manche Ausstellungen und Ateliers – selbst die der verwegensten Neuerer auf den Gebieten der Kunst, denn wenn sie auch selbst aus klassischem Lande stammte, so war sie doch weitherzig in ihren Interessen, und das noch Unverständliche erschien ihr darum nicht unberechtigt. Die Seher geschwungener, sich symphonisch verschlingender und entwirrender Linien, die anderen, die die Natur in mosaikartig nebeneinander gesetzten Farbentupfen darstellten, die Massenverbrauchs! von Ölfarbe, die ihre Bilder mehr kneteten wie malten, die Zeichner, die mit etwas Tusche all den grauen farblosen Jammer ganzer Menschenklassen auf ein Blatt Papier zu bannen trachteten; die bitteren Karikaturisten mit dem ätzenden vernichtenden Griffelstrich, und ihre ausgelasseneren Brüder, denen alles nur Gegenstand verzerrenden Lachens war – sie alle betrachtete die Gräfin mit freundlichem Lächeln und meinte, daß aus all diesem verwirrenden Brodeln sicher noch einmal das große, moderne, neue Wege und Formen schaffende Genie geboren werden würde. – Theophil dagegen war all diese noch werdende und tastende Kunst ein Greuel, er war der Meinung, daß es Not täte, den Künstlern von oben eine bestimmte Marschroute vorzuschreiben: all diese Ungebundenheit widerte ihn an, weil er so etwas wie sozialdemokratischen Geist dahinter witterte.